Es ist wieder diese Zeit des Jahres: im halben Dutzend veröffentlichen die Länder mit bereits intern ausgewählten bzw. vom Vorjahr übrig gebliebenen Interpret:innen gerade ihre Lieder für Rotterdam. Blinzelt man nur ein einziges Mal, kommt man nicht mehr hinterher. Daher hier am Stück die in den letzten Tagen aufgelaufenen Songs. Der erste im Reigen soll der Nordmazedonier Vasil Garvanliev sein. Der bereits für 2020 gesetzte, in den USA aufgewachsene Künstler nahm die Inspiration für seinen selbstgeschriebenen aktuellen Beitrag ‘Here I stand’ direkt aus der Corona-Krise und der daraus erfolgten Absage des Song Contests im letzten Jahr, wie er uns selbst im Videoclip im dramatischen Gestus erzählt: “am Boden zerstört” sei er gewesen (wer fühlt es nicht mit?), mit “Tränen in den Augen” habe er auf seinem Keyboard herumgeklimpert – und auf einmal die Melodie gehabt. Klingt wie ein Disney-Märchen? Genau so tönt auch das Lied! Vasil geht absolut hemmungslos in die Vollen, tremoliert, dass sich die Balken biegen, und dreht, begleitet von einem bombastischen Gospelchor, den Kitschfaktor auf elf. Ach was, auf einhundertundelf!
Ob Vasil (MK) bei der Hintenüber-Verbeugung irgendwann mal das Rückgrat bricht?
Weil er dabei aber so hundewelpenniedlich in die Kamera schaut und weil in uns allen nun mal klammheimlich das Herz einer Disney-Prinzessin auf der Suche nach dem Prinzen auf dem weißen Pferd schlägt, kann man ihm noch nicht einmal böse sein für den musikalischen Hardcore-Schleimpropfen, gegen den selbst Jacques Houdeks ‘My Friend’ punkig daherkam. Auch der britische Beitrag geht auf die Zwölf. Der ebenfalls schon 2020 intern nominierte und nun von der BBC in der Wiedervorlage wiedergefundene James Newman dreht in ‘Embers’ (‘Glut’) Lautstärke und Bässe bis zum Anschlag auf und spart auch nicht an fetten Blechbläsern. Und nein, das bezieht sich nicht auf den BMI der Musizierenden! Angenehm uptemporär kommt sein fröhlicher Feierlaune-Song daher, zu dem seine stets etwas atemlos-raue, brüchige Stimme perfekt kontrastiert. ‘Embers’ erfindet zwar das Genre nicht neu, liefert aber nach nun wirklich extrem langer Durststrecke für das einstige Mutterland des Pop endlich mal wieder einen Eurovisionsbeitrag, für den die Nation sich auf europäischer Ebene nicht schämen muss. Da hat die hässliche politische Scheidung vielleicht doch noch was bewirkt!
Na also, Großbritannien, es geht doch, wenn man nur will! Und James Newman will.
Das ebenso erneut ernannte griechische ‘Supergirl’ Stefania Liberakakis spart ebenfalls nicht an brummenden Bässen und (moderatem) Tempo. Das Video zu ihrem aktuellen Beitrag ‘Last Dance’ unterstreicht visuell die dem Songtitel innewohne Endzeitstimmung und lässt die junge Interpretin durch Computergrafiken voller mythischer Götterfiguren und vermutlich flutandeutender Aquarienbecken tapern. Dank der etwas minderen persönlichen Ausstrahlung der Künstlerin und der Kitschigkeit der Bilder erinnert das Ganze stellenweise an meinen Lieblingstrashfilm Xanadu (1980), in der Olivia Newton-John eine Muse spielt und dabei auf Rollschuhen alles gibt, die Lovestory mit ihrem hölzernen Counterpart Michael Beck jedoch auch nicht vor der Unglaubwürdigkeit zu retten vermag. Nicht so recht glauben mag man hier an die vokalen Fähigkeiten Stefanias, deren Stimme in der Studiofassung mehr Schminke trägt als Olivia in besagtem Streifen. Klassisches Adabei-Mittelfeldfutter, dessen ‘Letzter Tanz’ wohl bereits im Semi aufs Parkett gelegt werden könnte.
Immerhin läuft Stefania nicht bei rot über die Ampel: vorbildlich (GR)!
Ein ganz besonderes Kunststück vollbringt Gjon Muharremaj alias Gjon’s Tears, der zum zweiten Mal in Folge für die Schweiz nominierte 23jährige, im Video zu seinem neuen Beitrag ‘Tout l’Univers’. Da rettet er sich in Form seines Geistes nämlich nach einem schweren Verkehrsunfall in den Alpen selbst aus dem Autowrack. Ob ihm das auch im Grand-Prix-Semifinale gelingt? Seine düstere und hart auf die Stimmung schlagende Klavier- und Geigenballade kommt wie beim nordmazedonischen Kollegen ebenfalls recht bombastisch herüber, wird aber in der Hauptsache dominiert von Gjons kastratenhaftem Geheule. Dabei stellt der wiederum auf Französisch singende Interpret in den ruhigeren Passagen seines Chansons durchaus die Vielseitigkeit seiner Stimme unter Beweis, die in den tieferen Registern sehr viel angenehmer klingt als sein technisch zwar sauberes und beeindruckendes, aber dennoch in Sekundenschnelle wie das Bohrgeräusch beim Zahnarzt nervendes Falsetto, in das er leider zu zirka 95% der Zeit verfällt. Pas pour moi!
Merke: auf einsamen Fahrten durch die alpenländischen Serpentinen immer das Body-Double mitnehmen. So wie Gjon (CH).
Auch die benachbarte Hochgebirgsregion macht mit bei der großen Balladenverschwörung 2021. Keimte insbesondere zu Beginn der diesjährigen Vorentscheidungssaison mal für kurze Zeit die leise Hoffnung auf, die seit über einem Jahr anhaltende Krise führe wenigstens zu einer verstärkten Hinwendung zum fröhlich-eskapistischen Liedgut beim europäischen Gesangswettbewerb, so bewegen wir uns mittlerweile langsam wieder aufs gewohnte Schnarchigkeitslevel zurück. Der Österreicher Vincent Bueno, Fünfter und Vorletzter im Bunde der bereits 2020 Nominierten, hat einen von zwei Grand-Prix-Beiträgen mit dem Titel ‘Amen’ am Start. Und der lässt sich inhaltlich sowohl als Lamento auf eine zerbrochene Beziehung lesen als auch als Beisetzungssong. So oder so fühlt man als Anhänger:in anregender Ware angehörs seiner immerhin clever strukturierten und an den richtigen Stellen ins Gospelhafte abdriftenden Ballade die Wände der Schwermut von beiden Seiten in lebensbedrohlicher Weise auf sich zukommen, genau so wie unser Protagonist im Videoclip. Zugutehalten muss man Bueno aber, dass er uns trotz des Titels wenigstens keinen ranzigen Religionsquark andrehen möchte wie seine slowenische Kollegin. Alleine dafür schon ein herzliches “Vergelt’s Gott”!
Ist es “Ey, Man!” oder “Amen!”? Vincent Bueno (AT) lässt es geschickt offen.
Ihren Studiengang auf der Stefan-Raab-Schule für effektives Eurovisionsmarketing schloss die Bulgarin Victoria Georgieva offenbar mit Summa cum laude ab. Wie dereinst die legendäre Lena bei ihrem Versuch der “Titelverteidigung” nutzte auch die 24jährige ihre zweite Grand-Prix-Nominierung für eine umfangreiche Albumpromotion. Gleich sechs Titel ihres zur Veröffentlichung anstehenden ersten Longplayers ‘a litte dramatic’ zog Victoria angeblich in die engere Auswahl als Lied für Rotterdam, und jeden einzelnen davon stellte sie bereits seit geraumer Zeit im Netz sowie gestern Abend nochmals in einer Live-Show vor. Meines Wissen gab es sogar eine Abstimmungsmöglichkeit, die allerdings keinerlei Verbindlichkeit entfaltete und nur ein Stimmungsbild liefern sollte. Am Ende endschied sich die Künstlerin für ihr Lieblingslied ‘Growing up is getting old’: eine ausgesprochen schmerzliche Wahrheit, vor der nicht nur die Angehörigen der Generation Z gerne die Augen verschließen, sondern – so kann es der Blogbetreiber aus eigener Erfahrung bestätigen – selbst alte weiße Männer. Musikalisch klingt das, wie immer bei Victoria, nach der passenden Hintergrundberieselung zum Pulsadern Aufschneiden. Beziehungsweise zum Ertrinken in der auch 2021 scheinbar unentkommbaren Balladenflut. Es wäre ja auch zu schön gewesen!
Da schließt sich der Kreis zu Vasil wieder: wie ihr mazedonischer Kollege kommt auch Victoria (BG) nicht ohne pompöse Einführung zum Thema ‘Corona und der ESC’ aus.
Zuletzt aktualisiert: 10.01.2022
Schöne, knackige Zusammenfassung! Hätte zwar erst am Wochenende damit gerechnet, aber heute hat’s mit dem Lesen auch schon Spaß gemacht!
Bulgarien und die Schweiz finde ich ungefähr gleich gut (also sehr gut),
Griechenland und Nordmazedonien besser,
und Österreich und UK schlechter als im letzten Jahr.
Zusammenfassend ist von Enttäuschung bis hin zur Begeisterung alles dabei. Generell finde ich den Jahrgang bisher absolut in Ordnung, auch wenn mir das mit den vielen Liedern in den letzten beiden Wochen zu stressig war. Freue mich schon, wenn wir nächstes Jahr wieder mehr Vorentscheidungen haben und sich das alles wieder besser verteilt.
Was ich noch gerne wissen möchte: Wie finden Sie den ukrainischen Revamp? Meine Meinung dazu habe ich schon unter dem Ukraine-Artikel geschrieben. Kurz: Die Kürzung hat dem Lied in meinen Augen nicht gut getan.
@ESClucas: Zu den Remixen will ich noch mal gesondert was machen, sowie ich dafür Zeit finde, vermutlich erst nächste Woche. Aber in Kurzform zur Ukraine: ich finde, es sind praktisch zwei verschiedene Lieder, und ich finde beide auf ihre jeweilige Weise richtig gut.
Bei der Schweiz kann und will ich Oliver nicht Recht geben. Mir gefällt auch nicht jede Kopfstimme (z.B. Ben Dolić oder dieses Jahr Koit Toome), aber Gjon kann es meiner Meinung nach. Der Titel im vergangenen Jahr war ein bisschen berührender, da der persönlicher Hintergrund reinspielte, das ist dieses Jahr allgemeiner gehalten. Aber die Produktion ist toll und ich liebe seine Stimme. Gehört zu Recht zu den Favoriten.
Österreich: besser als letztes Jahr, da das Lied mehr Substanz hat und klar besser als das andere Amen. Aber irgendwie kaufe ich dem lieben Vincent die Nummer nicht ab.
Griechenland: mochte ich letztes Jahr nicht, weil zu nervig. Dieses Jahr ist sie mir zu langweilig. Recht nichtssagendes Liedchen mit schlechter Autotune-Stimme
UK: wo wir gerade bei Autotune sind, Jimmy gefällt mir dieses Jahr gar nicht. Ich kaufe ihm die Uptempo-Nummer, die stark nach Mellofest-Resterampe riecht nicht ab. Gefiel mir letztes Jahr besser.
Bulgarien: der Song war mein Favorit der von Frau Gregorieva angebotenen Liedern. Aber es kommt bei weitem nicht an meinen absoluten Favoriten des Vorjahres heran. Allerdings liebe ich einfach ihre Stimme und hoffe trotzdem auf ein gutes Ergebnis für sie.
Nordmazedonien: damit jetzt nicht jeder denkt, dass ich grundsätzlich was gegen Uptempo-Songs habe..bei Vasil Fan ich den Dance-Song um Längen besser als dieses überkitschte Vehikel. Irgendwo zwischen Kobi Marimi und Jade Ewen.…leider auch fast identisch mit Freddy Mercurys legendären „Barcelona“. This is too much and so Not for me.
Da ist er also, unser Beitrag für 2021… und es ist gottlob keine Ode an den Herrn.
Leider kommt es über kalkuliertes Juryfutter nicht hinaus. Aber in Zeiten knapper Kassen scheinen sehr viele Länder diese Taktik zu fahren mit dem Ziel, das Semi zu überstehen aber bloß nicht zu gewinnen.
Schweiz-Bulgarien als morbid-depressiver Doppelgipfel in den aktuellen Wettquoten spiegelt wohl mehr den Corona-Blues Europas wieder, musikalisch kann ich mir den Hype um diese Songs nicht erklären. Das ändert sich hoffentlich noch bis Mai.