“Was hat mir das gefehlt!” war gestern Abend einer der meistgelesenen Sätze auf Twitter unter dem Hashtag #Eurovision, neben “Toll, dass man Peter Urban wieder aufgetaut hat”. Nach einem Jahr Zwangspause legte das ausrichtende niederländische Fernsehen am Dienstag mit dem ersten Semifinale eine absolut glänzende Show hin, die alles aufbot, was wir am Eurovision Song Contest so lieben: eine fantastische Bühne, tolle Bildeffekte, super gestaltete Postkarten, ein kleines bisschen herzerwärmende Grand-Prix-Nostalgie mit ehemaligen Gewinner:innen im Rahmenprogramm, ein knallbuntes Starterfeld und sogar – wenn auch seuchenbedingt deutlich reduziert – echtes, live jubelndes Publikum in der Rotterdamer Ahoy-Arena. Wer sich noch an die schrecklichen Cringe-Momente beim deutschen ESC-Ersatz-Finale in der Hamburger Elbphilharmonie vor einem Jahr erinnert, bei dem das hysterische Behelfsgekreische von Barbara Schöneberger das Einzige war, das die auftretenden Künstler:innen am Ende ihrer drei Minuten erwartete, weiß diese freudengeschwängerte Atmosphäre, wie sie nur ekstatische Eurovisionsfans erzeugen können, besonders zu schätzen. Und gleichzeitig fühlte es sich auch ein wenig surreal an, dieses Business as usual, während draußen noch immer Corona wütet und beim vorangegangenen Schaulaufen auf dem (diesmal türkisen) Teppich am Sonntag einige Nationen fehlten, weil es eben doch positive Testergebnisse gab unter den Delegationen.
Zwei Stunden perlenglitzerfunkelnde Pop-Unterhaltung vom Feinsten: das erste ESC-Semi 2021 am Stück.
Glänzten die Niederlande als Grand-Prix-Gastgebernation in der Vergangenheit meist mit einer ausgesprochen sparsamen Moderation, so schlossen sie sich diesmal den aktuellen Gepflogenheiten an und fuhren gleich vier Hosts auf, darunter den auch auf deutschen Schlagerbühnen gerne und oft gesehenen Jan Smit (Klubb3). Gebraucht hätte es das freilich nicht, wirklich im Gedächtnis blieben allenfalls die zweifache holländische Grand-Prix-Teilnehmerin Edsilia Rombley und die baumlange und bauarbeiterbreite Youtube-Schminktipp-Influencerin Nikkie Tutorials (quasi deren Bibi), die ein paar ganz witzige Clips fürs Pausenprogramm beisteuerte und als offen transsexuelle Prominente mit zur erheblichen LGBTQI*-Sichtbarkeit bei diesem TV-Event beitrug, neben dem letzten Sieger Duncan Laurence und gleich einem ganzen Block queerer Teilnehmer:innen auf den Startplätzen drei bis sieben. Von denen übrigens gleich drei hängen blieben in diesem Semi, was aber nichts mit Homophobie beim abstimmenden Publikum oder den Juror:innen zu tun haben dürfte, sondern im Großen und Ganzen schon in Ordnung ging. Auch wenn es einem für die betroffenen Interpret:innen natürlich stellenweise das Herz brach.
“Everything is frustrating”: ahnte Montaigne beim Schreiben des Liedes schon, dass es nichts wird mit dem ESC-Finale? (AT)
So zum Beispiel für die Australierin Jessica Alyssa Cerro alias Montaigne, eine der zahlreichen Teilnehmer:innen dieses Jahrgangs, die bereits für 2020 gesetzt waren und nun einen zweiten Versuch bekamen. Ihr machte Covid jedoch einen weiteren Strich durch die Rechnung: wegen der hohen Risiken (oder doch: der hohen Kosten?) eines Langstreckenflugs von Down Under nach Europa entschied ihr Heimatsender, sie nicht anreisen zu lassen und stattdessen ein – aufgrund der Umstände diesmal als Option zugelassenes – Livetape einzureichen. Das versaute ihre ohnehin schon nicht besonders guten Chancen auf einen Finaleinzug gänzlich, der wer nur virtuell dabei ist, kann vor Ort keinen Buzz erzeugen. Da half es auch nichts, dass sie auf das furchterregende Clown-Outfit vom Vorentscheid 2020 verzichtete und als regenbogenbunte Powerlesbe performte: ‘Technicolour’ wirkte als Lied eher metallisch-laut als ohrenschmeichelnd; vom Klang her, als sei es die mit einem übersteuerten Casio aufgenommene Demoversion; und ihre Stimme ein bisschen schrill. Und so musste die zur Ergebnisverkündigung aus einem Studio vom anderen Ende der Welt zugeschaltete bisexuelle Sängerin erkennbar frustriert zuschauen, wie man ohne sie eine Party feierte und ihr fieserweise auch noch einen Zonk überreichte.
Benutzte anscheinend noch einen Falk-Plan: Lesley Roy (IE).
Die mit einer US-Amerikanerin verheiratete und lange Zeit in den Staaten lebende irische Singer-Songwriterin Lesley Roy zog vergangenes Jahr zum Schreiben ihres aktuellen Eurovisionsbeitrags ‘Maps’ sogar eigens in die Heimat zurück, wo sie es mit der Single immerhin in die unteren Ränge der Charts schaffte. Von dem wie schon ihr Vorjahressong ‘Story of my Life’ arg an Katy Perry erinnernden Stück versuchte die Delegation von der Grünen Insel mit Hilfe einer sehr hübsch gemachten, papiernen Bühnendekoration mit Daumenkino und Scherenschnitt-Kaleidoskopen abzulenken. Deren Aufbau gestaltete sich allerdings augenscheinlich derartig kompliziert, dass das Bühnenteam trotz eigens vorher geschalteter Werbepause nicht rechtzeitig fertig wurde und die im Venloer Stadtteil Tegelen geborene, telegene Moderatorin Chantal Janzen in einem bizarren Heinz-Schenk-Moment eine gefühlte Ewigkeit lang wirres Zeug redend die Sendezeit überbrücken musste, was die einzige Panne des Abends bleiben sollte. Ob diese Verzögerung bei der sympathischen Sängerin die Nerven flattern ließen? Jedenfalls klang die barfuß durch den Papier-Irrgarten joggende Lesley ziemlich atemlos und stellenweise etwas harsch. Fairerweise muss man sagen, dass die insgesamt okaye Nummer, die beim Hören per Playlist zwar keinen Skip-Impuls auslöst, aber auch nicht zum Repeat verführt, angesichts der starken Konkurrenz in dieser Runde auch bei makelloser stimmlicher Leistung wohl den Finaleinzug verpasst hätte.
Die Eurovision ist kein Disney-Musical: hier gewinnen am Ende nicht die Guten (MK).
Zu den von Anfang an chancenlosen Kombattanten zählte auch der Nordmazedonier Vasil Garvanliev. Mit seinem nach eigener Aussage im Lichte seiner tiefgreifenden emotionalen Enttäuschung über die Absage des Contests im Vorjahr selbst verfassten, extrem musicalhaften Torchsong ‘Here I stand’ bewarb er sich erfolgreich um die Kobi-Marimi-Gedächtnismedaille für das in seiner gekünstelten Affektiertheit unfreiwillig lustigste Balladendrama der Saison. Immerhin muss man ihm anrechnen, dass er sich nicht, wie sein israelisches Vorbild, auch noch künstliche Tränchen rausquetschte. Dennoch sprachen seine überlebensgroßen Posen und der von Dotter beim schwedischen Vorentscheid 2020 abgeschaute inszenatorische Trick, einer Discokugel bei lebendigem Leibe die Haut abzuziehen und sich diese auf die Brust zu kleben, um das Publikum zu blenden, eher die zynischsten Instinkte beim Betrachter an. Was natürlich besonders fies ist, weil Vasil es im Vorfeld schon schwer genug hatte: das in der nordmazedonischen Staatsgalerie gefilmte Musikvideo zu seinem Song sorgte für einen absurden Shitstorm, weil eines der im Hintergrund (verkehrt herum) aufgehängten Kunstwerke angeblich die Farben der bulgarischen Landesflagge zeigte. Das nahmen ihm nationalistische Mazedonier übel und bezichtigten ihn des Vaterlandsverrates. Zusätzlich kübelte man homophobe Hasskommentare über dem frisch geouteten Künstler aus. In jedem anständigen Disney-Streifen, zu dem ‘Here I stand’ den perfekten Soundtrack ablieferte, wäre Vasil nach dieser Vorgeschichte nun zum Ausgleich als strahlender ESC-Sieger hoch erhobenen Hauptes in den Abspann geritten. Im wahren Leben aber gibt es nun mal leider keine Gerechtigkeit.
Ach, wären meine inneren Dämonen nur mal so sexy wie Roxens Hauptangreifer! (RO)
Erstaunlicherweise schrägte es in dieser Runde sämtliche Balkan-Nationen. So auch Rumänien. Für das Karpatenland trat die als Larisa Roxana Giurgiu geborene Roxen an. Die wollte bekanntlich bereits im Vorjahr mit einem Lied über die verheerenden Folgen des Alkoholmissbrauchs starten, zu denen ja auch die heuer von ihr betitelte ‘Amnesia’ zählt. Und man konnte sich angehörs ihrer ziemlich verwaschenen Aussprache und des öfters mal deutlich der Musik hinterherhetzenden Gesangs nicht ganz des Eindrucks erwehren, die erst 21jährige habe auch im echten Leben bereits eine haraldjuhnkeske Trinkerinnenkarriere vorzuweisen. Was zumindest ihre mentale Verfasstheit erklären würde. Ihre etwas spröde Midtempoballade über jugendliche Depression und die unbedingte Notwendigkeit von Selbstliebe als Quelle der Resilienz konnte an sich sowohl thematisch als auch inszenatorisch überzeugen: der dargebotene moderne Ausdruckstanz, bei dem sie gleich mehrere wahlweise als innere Dämonen oder äußerliche Mobber:innen zu lesende Personen fortwährend angriffen, die sich aber am Schluss ihrem wiedergefundenen aufrechten Gang unterwarfen, unterstrich ihr Anliegen mit großer Ausdrucksstärke und überbrückte damit beinahe meine enorme emotionale Distanz zu ihrem weinerlichen Geplodder.
I just feel hate, I don’t feel sorry: Ana Sokličs Erweckungssong fiel auf die Fresse. Ha ha! (SI)
Mit tiefster innerer Befriedigung hinterließ mich hingegen das Ausscheiden der aufdringlichen religiösen Heilsbotschaft ‘Amen’ der Slowenin Ana Soklič. Alleine schon deswegen, weil die Turbochristin uns im Vorfeld frech ins Gesicht gelogen und uns einen “Banger” versprochen hatte, stattdessen aber diese moralinsaure Bombastballade ablieferte. Und natürlich auch, weil ich weder sonntagsmorgens an der Haustüre noch in der Fußgängerzone und erst recht nicht beim Eurovision Song Contest missioniert werden möchte. Schon gar nicht von einer dermaßen offensichtlichen Karen, deren einziger verfügbarer Gesichtsausdruck permanent “Rufen Sie Ihren Vorgesetzten, ich möchte mich beschweren!” zu sagen scheint. Als schlechte Idee entpuppte sich für die Slowenin, dass sie ihren Auftritt ansteckungsvermeidend / ressourcensparend vollkommen allein absolvierte, wiewohl ihr Song akustisch von einem vielstimmigen Gospelchor lebte, was für eine frappante Text-Bild-Schere sorgte. Als finaler Sargnagel erwies sich jedoch ihr allerletztes, als unerwarteter Nachklapp an die öde Klavierballade drangepapptes “Hey Child”, das beim bereits höflich-erleichtert applaudierenden Hallenpublikum für Verwirrung und eine Klatschpause sorgte. Was wiederum Karen, sorry, Ana, ein gequält-schnaufendes, hochnotpeinliches Verlegenheitslachen entfahren ließ. Auch wenn mich das zu einem schlechten Menschen macht: was habe ich voller Schadenfreude in diesem Cringe-Moment gebadet!
“OH NOOOO” war vielleicht nicht die klügste Texteinblendung: Albina (HR).
Mit äußerstem Missfallen und Unverständnis musste ich hingegen das Ausscheiden der kroatischen Vertreterin Albina Grčić zur Kenntnis nehmen, die mit dem uptemporären Eurodisco-Klopfer ‘Tick Tock’ ihr Scherflein zur wirklich vorbildhaft hohen Dichte an trashigen Tanzmäusen mit erfrischend billigen Nuttenpop-Bangern in diesem Semifinale beitrug. Und die zudem mit einer zwar wenig originellen, dafür aber um so effektiveren Choreografie wie aus dem Lehrbuch zur Inszenierung von Eurovisionsauftritten zu gefallen wusste, die sie zudem deutlich engagierter vortanzte als beispielsweise ihre etwas gelangweilt wirkende Kollegin aus Aserbaidschan. Lag es möglicherweise an ihrem hautengen, etwas unglücklich gemusterten Bodysuit, dessen aufgedruckte Schenkelschlieren den Eindruck erweckten, ihr sei da direkt vor dem Auftritt etwas ausgelaufen? Oder an den Gays-in-Space-Outfits ihrer hunkulösen Tänzer? Alles keine ausreichenden Gründe! Meine Finger zeigen auf die Sprachwahl: wie falsch es war, sich für rudimentär-radebrechendes Englisch zu entscheiden, stellte Albina sogar selbst unter Beweis, in dem sie einen Refrain ihrer fabelhaften Nummer auf Kroatisch sang, wo es gleich eine Million Mal natürlicher und ansprechender klang.
“Drinking my poisonous Water”: nun wissen wir auch, wer neben Donald Trump noch auf den berüchtigten Pee-pee-Tapes aus dem Moskauer Hotel zu sehen ist! (AZ)
Und damit sind wir mit den Ausscheider:innen durch. Zum Schluss noch ein schneller Blick auf ein paar der Finalist:innen, zunächst auf die bereits erwähnten Discotrash-Mamsellen. Hier verlor die ebenfalls bereits erwähnte Samira Efendi live für meinen Geschmack deutlich gegenüber der Studiofassung ihrer Recylingnummer ‘Mata Hari’, einer bestenfalls notdürftig getarnten Zweitverwertung ihres mit viel Geld aus den Klauen der sanmarinesischen Konkurrentin Senhit entrissenen Vorjahresbeitrags ‘Cleopatra’. Für einen sehr lustigen Moment beim sonntäglichen Türkiser-Teppich-Schaulaufen sorgte die fiese Frage an Samira, ob sie denn überhaupt wisse, wer die von ihr besungene niederländische Spionin sei. Zumal sie sich im Interview jedes einzelne Wort übersetzen lassen musste und auch ihr gestern harsch gebelfertes Pseudo-Englisch deutlich offenbarte, dass sie des britischen Idioms unkenntlich ist und nicht den Hauch einer Ahnung hat, was sie da… nun, “sang” wäre das falsche Wort…: von sich gab. Doch anscheinend reichte das Vorzeigen von Reizwäsche und halbherziges Hinternwackeln, um beim heterosexuell-männlichen Teil des Publikums für genügend Anrufimpulse zu sorgen.
“We burn in a Potty”, “A Taco, Tomato”: die zyprische Teufelsanbetung erwies sich als Fest für Agathe-Bauer-Momente.
Überraschend gut schlugen sich hingegen Eden Alene aus Israel, die nicht nur mit der höchsten bislang beim ESC gesungenen Note für aufjaulende Hunde in ganz Europa sorgte, sondern ihren eigentlich enttäuschenden Song erstaunlich überzeugend verkaufte, sowie die Zypresse Elena Tsagrinou, deren gefühlt einhundertster ‘Fuego’-Aufguss ‘El Diablo’ trotz der ausgelutschten Thematik und des in erbarmungswürdig schlechtem Englisch vorgetragenen Textes einfach nur Spaß machte. Daumen hoch übrigens für die niederländische Senderegie, die auf dieses Lied über den verführerischen Teufel den ‘Fallen Angel’ Andreas Haukelund alias Tix aus Norwegen folgen ließ. Der stirnbandtragende Langhaarzottel gewährte uns mit dem kurzen Abnehmen seines Markenzeichens, der verspiegelten Sonnenbrille, einen Blick in seine Seele und machte sich auf mutige Weise verletzlich. Denn zu meiner Schande (siehe dazu auch die Kommentare unten) sorgte sein tickbedingtes Dauerblinzeln bei mir aufgrund des Ungewohntseins eines solchen Anblicks für noch nachhaltigere Irritationen als das blinzellose Dauerstarren von Kateryna Pavlenko, der in ein giftgrünes Flokati-Outfit gekleideten Frontfrau der ukrainischen Band Go_A, deren rundweg fantastischer Technofolk-Burner ‘Shum’ mich dazu veranlasste, die im letzten Jahr mühsam angesparten Urlaubsgroschen komplett für SMSe rauszuhauen, so geil war der.
Da bleibt kein Blatt am Baum, beim ukrainischen Frühlings-Waldrave.
Schade insofern, dass der Fokus der Kamera ständig auf ihr ruhte anstatt auf ihren hinreißend schönen männlichen Kollegen in ihren futuristischen Strahlenschutzanzügen oder den zwei mit zu Heiligenscheinen umfunktionierten Ringlichtern hantierenden Tänzern. Keinesfalls in ‘The wrong Place’ befinden sich auch die (wie ich vermute, mit starker Unterstützung der Jury) ins Finale eingezogenen Belgier, obschon ich Hooverphonic zunächst überhaupt nicht auf dem Zettel hatte und sich das Trio als einzige Teilnehmer:innen des gestrigen Semis für ein klassisches Rockband-Setting entschied, bei dem Alex Callier und Raymond Geerts so taten, als spielten sie Instrumente, während die nach langer Pause wieder zurückgeholte Sängerin Geike Arnaert tatsächlich live sang. Es funktionierte aber: wirkte die Der-Morgen-danach-Ballade in der Studiofassung noch etwas unterkühlt und unspektakulär, gewann das Lied live deutlich hinzu, wohl auch aufgrund der Dekaden umfassenden Bühnenerfahrung der Beteiligten. Vielleicht auch, weil man der an Lebensjahren reichen Geike die leicht angeekelte Zerknirschtheit über ihren Beischlaf-Fehlgriff so viel eher abkaufte als den selbstzerstörerischen Weltenschmerz der blutjungen Rumänin oder der im gleichen Genre wildernden, am Donnerstag noch auf uns zukommenden Bulgarin.
Hier war ich für die optische Fokussierung auf die Sängerin hingegen dankbar (BE).
Und der possierliche Tusse? Die nach wie vor grandiosen The Roop? Die herausragende Manizha mit ihrem sensationellen, fahrbaren Social-Distance-Trickkleid? Ein bisschen was muss ich mir ja noch für die Finalbesprechung aufheben! Was mich daran erinnert, dass man im Rahmenprogramm des gestrigen Semis leider wieder Ausschnitte aus den Wettbewerbstiteln einiger Big-Five-Nationen zeigte, darunter die Live-Performance des deutschen Beitrags ‘I don’t feel Hate’ von Jendrik. Den ich als Person ja nach wie vor super sympathisch finde und dessen Botschaft ich weiterhin mag, weswegen ich mich vor der unangenehmen Aufgabe, den darüber leider erforderlichen Verriss zu formulieren, drücken möchte, indem ich stattdessen einfach den Kommentar des britischen Promiklatsch-Newsletters Popbitch in voller Länge zitiere. Der schrieb in seinem aktuellen Eurovisionsguide Folgendes: “Wie schlecht das Vereinigte Königreich zuletzt auch immer bei der Eurovision abgeschnitten hat, so ist es doch beruhigend zu wissen, dass Deutschland stets versucht, sein absolut Bestes zu geben, um uns den letzten Platz wegzuschnappen. Mit Hilfe von Ukulelen, Gepfeife und niedlich-quirligen Lyrics tun sie uns dieses Jahr einen echten Gefallen. Danke schön”! Gern geschehen!
Atemlos durch die Nacht: gleichzeitiges Steppen und Rappen kann halt live doch nur in die Hose gehen (DE).
ESC 2021, 1. Semi
1. Semifinale des Eurovision Song Contest 2021. Dienstag, der 18. Mai 2021, 21 Uhr, aus der Ahoi-Arena in Rotterdam, Niederlande. 16 Teilnehmerländer. Moderation: Chantal Janzen, Edsilia Rombley, Jan Smit und Nikkie de Jager.# | Land | Interpreten | Songtitel | Televoting | Jury | Summe | Platz |
---|---|---|---|---|---|---|---|
01 | LT | The Roop | Discoteque | 137 | 066 | 203 | 04 |
02 | SI | Ana Soklič | Amen | 008 | 036 | 044 | 13 |
03 | RU | Manizha | Russian Woman | 108 | 117 | 225 | 03 |
04 | SE | Tusse | Voices | 051 | 091 | 142 | 07 |
05 | AU | Montaigne | Technicolour | 002 | 026 | 028 | 14 |
06 | MK | Vasil Garvanliev | Here I stand | 011 | 012 | 023 | 15 |
07 | IE | Lesley Roy | Maps | 004 | 016 | 020 | 16 |
08 | CY | Elena Tsagrinou | El Diablo | 078 | 092 | 170 | 06 |
09 | NO | Tix | Fallen Angel | 077 | 038 | 115 | 10 |
10 | HR | Albina | Tick Tock | 053 | 057 | 110 | 11 |
11 | BE | Hooverphonic | The wrong Place | 047 | 070 | 117 | 09 |
12 | IL | Eden Alene | Set me free | 093 | 099 | 192 | 05 |
13 | RO | Roxen | Amnesia | 027 | 058 | 085 | 12 |
14 | AZ | Samira Efendi | Mata Hari | 091 | 047 | 138 | 08 |
15 | UA | Go_A | Shum | 164 | 103 | 267 | 02 |
16 | MT | Destiny Chukunyere | Je me casse | 151 | 174 | 325 | 01 |
Ich feiere Deine sprachlich und metaphorisch wirklich wahnsinnig ausgefeilten Texte seit Jahren, aber mit Deinem Kommentar zu Tix’ Brillenmoment tust Du Dir und auch sonst niemandem einen Gefallen: Als jemand, der als Jugendlicher (und heute Gott sei Dank nicht mehr) ebenfalls sehr unter Tics gelitten hat (was im pubertären Umfeld ungefähr den gleichen sozialen Effekt hat, als würde man täglich in der Schule ein Hundewelpen köpfen), hat mich dieser Moment des norwegischen Auftritts wirklich sehr bewegt. Weil ich weiß, wie er sich fühlen muss. Das war ein kurzer Blick in seine Seele und hat dieser süffigen, aber kompositorisch etwas austauschbaren Pop-Nummern plötzlich eine neue Ebene hinzugefügt. Sein Blinzeln als “irritierend für den Zuschauer” zu bezeichnen, würde – sofern es zutrifft – mehr über die Zuschauer als über ihn aussagen. Der ESC ist eigentlich ein Umfeld, wo sich niemand schämen und verstecken muss und wo auf “Defizite” mit Toleranz und Liebe geantwortet wird. Ich finde, das hat auch Tix verdient, der für alles das wirklich nichts kann.
Da hast du natürlich vollkommen Recht, lieber Bastian. Dass er uns mit dieser Geste einen Blick in seine Seele offenbaren wollte, der Gedanke kam mir in dem Moment auch und das fand ich auch mutig und gut. Hätte ich im Text vielleicht erwähnen sollen, sorry. Dennoch, bitte sieh es mir nach, war ich erleichtert, dass er sie danach wieder aufsetzte. Denn noch mehr als die Schule ist der Eurovision Song Contest eine Show, und dementsprechend kommentiere ich hier seit Anbeginn meines Blogs äußerliche, oberflächliche Eindrücke. Und dies ganz sicher öfters auf ignorante Art und Weise. Dass mich sein Tic irritiert, sagt tatsächlich mehr über mich als über ihn, das stimmt völlig. Aber genau so ist es leider, und macht für mich schon einen Unterschied, ob ich einen solchen Kommentar über eine private Person mache oder über eine des öffentlichen Lebens. Ich kann mir nicht mal im Ansatz vorstellen, was du oder auch Tix durchmachen mussten und wenn ich dir oder anderen damit zu nahe getreten bin, tut es mir wirklich leid. War nicht meine Absicht.
Ich bin etwas zwiegespalten. Auch wenn ich es super finde, dass der ESC zurück ist und die Show wirklich super unterhaltsam war, bin ich wirklich erschrocken, als ich die 3.500 Besucher der Ahoy-Arena an diesem Abend gesichtet habe. Ohne Maske und so eng aneinander. So sehr der ESC auch von seinen Fans lebt und die Zuschauer wie vorgeschrieben negativ getestet und eventuell schon geimpft waren, so hätte ich es besser gefunden, wenn man die Zuschauerzahl auf 1.500 oder 1.000 reduziert hätte. Denn an sich habe ich nichts gegen dieses Field-Lab-Projekt welches sicher nicht das Einzige seien wird die nächsten Monate, aber weniger ist manchmal mehr.
Aber nun zu den Beiträgen. 9/10 richtig (Australien statt Israel) geraten und 7/10 habe ich mir persönlich im Finale gewünscht. Bin daher sehr zufrieden. Litauen und die Ukraine hatten die mit Abstand besten Auftritte des Abends, aber auch von Belgien war ich positiv überrascht.
Am Donnerstag denke ich, dass San Marino, Griechenland, Island, Serbien, Albanien, Portugal, Bulgarien, Finnland, die Schweiz und Dänemark weiterkommen. Auch wenn ich San Marino, Griechenland und Portugal lieber durch Tschechien, Georgien und Lettland ersetzen möchte, aber bei allen dreien sehe ich schwarz.
Auf zwei weitere spannende Abende!
“die im Venloer Stadtteil Tegelen geborene, telegene Moderatorin” – Danke für diesen (Halb)satz 🙂 Die telegene aus Tegelen. Wundervoll 😀
Vielen Dank Oliver für die betreffende Beschreibung. Da kann ich nichts mehr hinzufügen, außer, dass ich Bastian bei seinem Einwand nur beipflichten kann. Mich hatte Tix damit fast wieder auf seiner Seite und fand, dass dies bei seiner Hintergrundgeschichte ein sehr mutiger und intimer Schritt war. Finde aber auch Deine Antwort an Bastian sehr gut, denn jemand, der den Hintergrund nicht kennt, ist es möglicherweise genauso gegangen.
Ich hatte tatsächlich auch neun Richtige, bei mir war es Kroatien gegen Belgien, wobei ich mich für Belgien freue. Auch ich hätte aber lieber Kroatien anstatt der zypriotischen Schlauchbootlippe und der Polonäse tanzenden Mata-Cleopatra-Langweilerin aus Aserbaidschan dabei gehabt.
Donnerstag wird es deutlich spannender und ich freue mich am Freitag schon auf Olivers Kommentar. ?
Oh Mann, es ist so, so schön, hier wieder Nachlesen über unsere Lieblingsveranstaltung zu lesen! Es hat echt gefehlt.
So ganz konnte ich gestern meinen Mulm wegen der Sitzanordnung in der Halle nicht abstellen, und heute hat sich ja leider auch gezeigt, wie schnell es gehen kann, dass auf einmal jemand positiv ist, wo man das nicht dachte. Deshalb werde ich morgen den isländischen Beitrag noch ein bisschen mehr unterstützen und am Samstag sowieso. Mir blutet da echt das Herz.
Ansonsten war es aber ein höggschd pläsierlicher Abend, und ich hatte neun von zehn richtig – eigentlich eher neuneinhalb, denn Eden Alene hab ich erst in letzter Minute und unter größten Vorbehalten vom Zettel gestrichen. Dafür stand Albina drauf. Okay, doch neun, aber neun sind auch gut.
Unser Favorit gestern: Eindeutig die Ukraine! Außerdem waren Belgien und (jawohl!) Norwegen supertoll, hätte nie gedacht, dass ich das über TIX mal schreibe. Litauen natürlich bestechend gut, der Rest so in etwa wie erwartet. Lesley hat ihr tolles Lied leider völlig versiebt. Und was erlauben Roxen?!
Anyway, morgen ist ein neues Spiel, und ich freu mich trotz der Umstände auch darauf wie Bolle! Drückt insbesondere den Isländern bitte alle Daumen!
Ach ja, ein Wort noch zu Jendrik: Es ist echt schwierig. Der ist so sympathisch und so sweet und so ein toller Kerl, ich wünsche ihm echt nur das Allerbeste. Ich hoffe, dass er die genannten Probleme bis Samstag noch in den Griff bekommt, ansonsten wird das leider wieder einer von der Sorte Platz, die wir nicht haben wollen…
Lieber aufrechtgehn, vielen dank für Deine Antwort! Du bist mir mit Deinen Äußerungen nicht zu nahe getreten, ich nehme das nicht persönlich, sondern schätze den offenen Austausch über diese Thematik. Vielleicht ist es auch gerade ein spannendes Thema, weil wir zwar schon Rohlstuhlfahrerinnen, Herzkranke und Mongoloide im Contest hatten, aber noch keine Tic-Geplagten (wobei es sich ja um eine mehr oder weniger leichte Ausprägung des Tourette-Syndroms handelt). Vielleicht hat TIX ja auch schon Ziel dadurch erreicht, dass wir uns nach seinem Auftritt offen und gerne auch kontrovers über das Thema austauschen und unsere eigene Haltung dazu reflektieren. Weil eben genau dieses Krankheitssymptom im öffentlichen Leben und Show-Geschäft bislang so gut wie gar nicht vorkommt, weil es ja gerade und insbesondere eine Störung des visuellen Empfindens der Nicht-Betroffenen ist.
Ich bin für jede ironische und oberflächliche Kommentierung des ESCs zu haben: Jedes schreckliche Outfit sollte als solches benannt werden. Jede aufgespritzte Lippe und jeder künstliche Atombusen ist ein selbstgewähltes Schicksal und dementsprechend zur öffentlichen Belustigung freigegeben. Aber hier haben wir es wirklich mit einer Krankheit zu tun. Der Betroffene würde so ziemlich alles dafür tun, um endlich den Schalter zu finden, um die Tics abzustellen. Ich glaube, ein Betroffener hat keinen größeren Wunsch im Leben. Aber das geht nun einmal nichtg so einfach.
Insofern kann man die Konfrontation mit den Tics als Nicht-Betroffener als irritierend oder verstörend empfinden, als etwas, das “unnormal” ist und deshalb das eigene ästhetische Empfinden angreift. Nur sollte man in der anschließenden Reflexion zu dem Ergebnis kommen, dass dieses eigene Unwohlsein in diesem Fall vielleicht nicht legitim ist, weil der eigentlich Leidende nicht derjenige ist, der die Tics sehen muss, sondern der, der sie erlebt und nicht kontrollieren kann. Und das Argument: “Das ist Showgeschäft und er ist eine Person des öffentlichen Lebens” überzeugt mich dann nicht, weil was wäre die Konsequenz: Dass Tic-Geplagte das Show-Geschäft meiden sollten (so wie sie in ihrem Leben ohnehin schon den Weg vor die Tür in die Öffentlichkeit meiden, weil das immer ein Spießroutenlauf ist)? Dass sie ihr Gesicht hinter Sonnenbrillen, Masken etc. verstecken sollen? Durch diese Ausgrenzung verstärkt sich das Leiden der Betroffenen ja nur noch mehr. Nein, die Lösung muss doch Sichtbarkeit und Inklusion sein. Wenn jemand zwei küssende Homosexuelle als “eklig” empfindet, weil sein individuelles ästhetisches Empfinden dadurch gestört wird, sagst du doch auch nicht, dass die Schwulen das bitte nur zu Hause machen sollen.
Ich mochte den norwegischen Song bisher nicht so wirklich. Auch weil es in der norwegischen Vorentscheidung so viel Besseres gab. Und mein eigenes Tic-Leiden liegt jetzt auch fast 20 Jahre zurück und spielt in meinem heutigen Leben wirklich keine sehr präsente Rolle mehr. Aber als TIX am Dienstag die Brille abgesetzt hat, hat es mich ganz kalt erwischt und es fällt mir auch zwei Tage danach noch schwer, den Auftritt anzuschauen, ohne feuchte Augen zu bekommen. Man möchte ihn einfach nur in den Arm nehmen und sagen, dass alles gut wird. Ich wünsche ihm für Samstag ein sehr gutes Ergebnis.
Ich wollte es schon bei esc-kompakt schreiben, habe mich dann aber nicht getraut: Es ist doch eine ehrenvolle Aufgabe, das UK, aber auch Spanien und den jeweiligen Gastgeber vor dem letzten Platz zu bewahren. Ich wünsche Jendrik aber natürlich trotzdem viel Glück am Samstag.
Liege mit Grippe Symptomen nach der Impfung gestern flach und werde das zweite Halbfinale mit den vielen Zuschauern jetzt noch mehr mit gemischten Gefühlen verfolgen.
Jetzt hat es ja auch Duncan erwischt, hoffentlich kommen bis Samstag nicht noch mehr dazu.
Ich wünsche allen Lesern und dem Blogger trotzdem einen unterhaltsamen Abend!
Go Dadi!!!
Lieber Bastian,
ich musste deine letzte Antwort jetzt ein paar Tage auf mich wirken lassen, daher erst jetzt die Reaktion (zumal ja zwischendrin noch ein paar Shows anzuschauen und zu kommentieren waren).
Und du hast Recht, mein Argument, dass Tix ja in der Öffentlichkeit steht und sich daher unreflektierte Kommentare gefallen lassen muss, ist natürlich in diesem Zusammenhang Quatsch. Hier bin tatsächlich ich derjenige mit dem Problem, nicht Tix. Das war mir bislang nicht so bewusst, daher vielen Dank für das darauf Hinweisen.
Ich habe die Formulierung im Text jetzt ein bisschen überarbeitet, habe aber bewusst das Stichwort “Irritation” stehen lassen, zumal es ja auch der Auslöser für unseren, wie ich finde, sehr gewinnbringenden Austausch war. Ich hoffe, es ist so etwas besser.
Vielen Dank nochmal an Dich!
Mit der kroatischen Sprachenwahl magst du wahrscheinlich sogar Recht haben. Vor allem, wenn man bedenkt, dass z. B. Serbien und Albanien in Landessprache weitergekommen sind und vier der Final-Top‑5 ebenfalls landessprachlich unterwegs waren. Trend verpennt, liebe Kroaten.
Das Zitat von Popbitch ist ja auch nice. Auch wenn es (für das UK leider) nicht ganz geklappt hat mit der Übernahme der roten Laterne. Wobei es die Briten es uns diesbezüglich in diesem Jahr auch wirklich schwer gemacht haben.