Nach zweimaliger interner Auswahl des deutschen Eurovisionsvertreters kehrt der NDR für 2022 wieder zu einem öffentlichen Vorentscheid mit Publikumsbeteiligung und mehreren Acts zurück, wie er heute offiziell verkündete. Zu sehen sein wird dieser allerdings nicht wie bisher im Ersten, sondern in den dritten Programmen der ARD. Dies begründete Alexandra Wolfslast (Aufmacherfoto) vom NDR, die alte und neue deutsche Delegationsleiterin beim Eurovision Song Contest, im Interview mit Thomas Mohr vom Podcast ESC-update mit der stärkeren Einbindung der neun Landesrundfunkanstalten in den Prozess. Auch den Popwellen der ARD-Radios komme bei der Entscheidungsfindung eine essentielle Rolle zu, sollen diese doch zum einen mögliche Acts vorschlagen sowie als Teil der internen Auswahljury fungieren, die in einem mehrstufigen Verfahren unter den eingehenden Bewerbungen eine Handvoll geeigneter Acts heraussuchen soll. Mit der Verpflichtung der Radiosender soll nicht nur die in den dortigen Musikredaktionen vorhandene Expertenkompetenz eingesammelt werden: wie Thorsten Engel von NDR2 bei ESC-update ergänzte, hoffe man, so ein stärkeres Airplay der Vorentscheidungstitel schon im Vorfeld sowie am “ESC-Tag” zu erreichen, an dem nicht nur abends die TV-Show in den Dritten laufen, sondern den ganzen Tag über in den Popwellen die Trommel gerührt (und auch bereits abstimmt werden) soll. Auf diese Weise wolle man, so Wolfslast, “wieder ein eigenes ESC-Feuer in unserem Land entfachen”. Dann hoffen wir mal, dass dieses bis März 2022 tatsächlich hell lodert und nicht nur verhalten glimmt wie beim britischen Eurovisionsbeitrag von 2021.
Schnell verglüht: das letzte britische Eurovisionslagerfeuer war dann doch eher ein maues Glimmen.
Denn bislang stehen zu viele Details, wie beispielsweise der Termin für die Sendung, der Name für die Show oder das exakte Abstimmungsverfahren noch nicht fest, so dass ein profundes Urteil über den neuen Anlauf des NDR zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht möglich ist. Als erfreulich lässt sich schon mal festhalten, dass es überhaupt wieder einen öffentlichen Vorentscheid gibt und das Publikum über den deutschen Repräsentanten entscheidet. Mit der Einbindung sämtlicher Landesrundfunkanstalten, vom NDR wohl auch dazu gedacht, die Verantwortung auf mehr Schultern zu verteilen, rückt der Wettbewerb zumindest wieder ein Stück in Richtung der “nationalen Aufgabe”. Dazu brauchte der NDR im Jahre 2010, als dies zum letzten Mal gelang, noch externe Unterstützung in Form von Stefan Raab und ProSieben. Jedenfalls birgt die Einbindung der Popwellen sowohl Chancen wie Risiken. Denn die ist explizit mit der Hoffnung verknüpft, dass die Vorentscheidungstitel dadurch bereits “deutlich vor dem ARD ESC-Tag schon im Radio gespielt werden”. Was natürlich die Befürchtung nährt, dass die beteiligten Wellenchefs am Ende wieder nur verschiedene Schattierungen von beige heraussuchen. Zwar wirbt der NDR auf der Bewerbungsseite für interessierte Künstler:innen damit, dass alle Genres erlaubt seien – “je größer die Vielfalt, desto besser”. Und durch die Verknüpfung von Song und Interpret als Gesamtpaket – bewerben darf sich nur, wer auch ein eigenes Lied im Gepäck hat – will man für mehr Authentizität sorgen, was darauf schließen lässt, dass man in Hamburg die Lehren aus dem Sisters-Debakel gezogen hat.
Ein müder Retortenact mit einem müden Retortenbeitrag von der Resterampe: 2019 setzte der NDR noch auf das Konzept und nicht auf die Authentizität der Künstler:innen.
Dennoch: die Siegertitel der letzten Eurovisionsjahrgänge sucht man in den auf stromlinienförmige Durchhörbarkeit gedrillten ARD-Popwellen vergebens. Insofern beruhigt es ein bisschen, dass die Auswahljury für den Vorentscheid auch mit TV-Verantwortlichen besetzt werden soll, die eher auf die Erfordernisse des Fernsehens achten. Schade bleibt dennoch, dass es für die bisherige, für 2022 bereits zusammengestellte hundertköpfige Fan-Jury keine Verwendung mehr gibt. Denn hier versammelten sich in den letzten Jahren sehr viele engagierte Connaisseure, die mit Herzblut dabei waren. Warum man auf deren Fachurteil verzichtet, will sich mir nicht erschließen. Es bleiben also zwei entscheidende Fragenfelder: welche Titel sucht die ARD-Jury für den Vorentscheid heraus, bilden diese tatsächlich ein breites musikalisches Spektrum mit Ecken und Kanten ab oder gibt es wieder nur dampfgestrahlten Einheitsbrei? Und wer stimmt am “ESC-Tag” über den deutschen Beitrag 2022 ab? Die Verlagerung der TV-Show vom Ersten in die Dritten mag auf den ersten Blick wie eine Abwertung wirken, nimmt aber ein bisschen vom Quotendruck und eröffnet zumindest theoretisch die Chance auf ein jüngeres Publikum. Denn so wichtig eine öffentliche Abstimmung für die nationale Identifikation mit dem heimischen Beitrag auch sein mag: die durchschnittlichen TV-Zuschauer:innen im ARD-Hauptprogramm sind so alt, dass sie selbst bei einem noch so tollen Angebot doch meist den größten Quark heraussuchen.
Läuft auf hr3 jetzt nicht unbedingt in der Heavy Rotation (vermutlich, ich höre seit bestimmt 20 Jahren kein klassisches Radio mehr): die diesjährigen ESC-Sieger Måneskin könnten Teile der Zuhörer:innenschaft verschrecken.
Nun ist auch das Regionalfernsehen nicht unbedingt als mediales Lagerfeuer jugendlicher Hipster bekannt, ebenso wenig wie die ARD-Popwellen, die sich ebenfalls eher an ein Publikum der Generation 50plus richten. Um eine möglichst breite Zuschauer:innenschaft anzusprechen, eignen sie sich aber eher als das Erste. Und die vage angedeutete ganztägige Öffnung der Internetabstimmung bietet zumindest die Chance, diesen Teil der Wertung durch organisierte Grand-Prix-Fans zu hijacken. Besser geeignet wäre hier nach meinem Empfinden tatsächlich eine altersgestaffelte Auswertung der Publikumsstimmen nach schwedischem Vorbild, um die nachteiligen Auswirkungen der deutschen Alterspyramide zumindest abzumildern. Wie sich beim ESC-update heraushören ließ, sei wohl geplant, das neue, aufgrund der aktuellen Umstrukturierungsprozesse beim NDR ziemlich kurzfristig organisierte Verfahren zumindest die nächsten zwei bis drei Jahre laufen zu lassen und da, wo notwendig, nachzujustieren, was tatsächlich für das von NDR2-Mann Thomas Engel mehrfach erwähnte “Commitment” spräche. Es wäre ja aus meiner Sicht tatsächlich schon viel gewonnen, wenn das gemeinsame Projekt ESC für eine Stärkung der Zusammenarbeit innerhalb der ARD sorgen könnte. Dennoch bleibe ich erst mal verhalten skeptisch, denn, um einen ehemaligen Bundeskanzler zu zitieren: “entscheidend ist, was hinten rauskommt”.
Wenn der Vorentscheid schon in den Dritten läuft, könnte man natürlich auch eine Art BuViSoCo draus machen und pro Landesrundfunkanstalt einen Beitrag antreten lassen. Würde das Commitment evtl. stärken.
[Update 13.01.2022]: wie die Trüffelspürnasen von ESC kompakt herausgefunden haben, wird der deutsche Vorentscheid 2022 allem Anschein nach Anfang März in der Hauptstadt Berlin stattfinden.
Die Rückkehr des deutschen Vorentscheids 2022 ist…
- …eine Chance. Jetzt mal abwarten, ob es nicht wieder nur seichte Radiomucke gibt. (43%, 58 Votes)
- …(noch) kein Anlass zum Jubel. Dazu ist zu vieles unklar und wenig durchdacht. (23%, 31 Votes)
- …vergebene Liebesmühe. Das ARD-Publikum erkennt einen guten Beitrag auch dann nicht, wenn er ihnen ins Gesicht springt. (20%, 27 Votes)
- …eine sehr gute Nachricht. Ich freu mich schon sehr drauf! (14%, 19 Votes)
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Ja, ich bin froh das es wieder einen Vorentscheid gibt. Was ich nicht gut finde, das nur 5 Acts im Finale starten dürfen. Auch finde ich es total blöd, das der Vorentscheid in die dritten Programme abgeschoben wird. Der Vorentscheid für den ESC gehört ins Erste Programm und zwar am Samstag um 20:15 Uhr. Bleibt zu hoffen, das es wirklich 5 verschiedene Acts ins Finale schaffen und das dieser Vorentscheid nicht zur Resterampe von irgendwelchen Castingshows wird wie so häufig.
Dass es nur fünf Acts im Finale sind, lässt sich der NDR-Meldung nicht entnehmen, das hatte der Bayerische Rundfunk in die Welt gesetzt. Da ist m.E. das letzte Wort noch nicht gesprochen. Könnte aber schon hinkommen, denn in der Kürze der Zeit wird vermutlich nicht all zu viel Sendefähiges zusammenkommen. Ich fürchte, all zu große Hoffnungen hinsichtlich der Qualität des Teilnehmerfeldes können wir uns daher für 2022 nicht machen, vielleicht eher für 2023 mit einem ordentlichen zeitlichen Vorlauf. Samstagabend im Ersten ist momentan angesichts der Quoten, die der Vorentscheid zuletzt hatte, völlig illusorisch. Aber wenn die Sendung in den Dritten gut funktioniert, sehe ich durchaus eine Chance auf eine perspektivische Rückkehr ins Erste.
@escfan05: genauso ist es. Zwar ist ein gutes Lineup noch keine Garantie, dass was draus wird. Negatives Beispiel war „Unser Song für Malmö“ 2013, wo der vor allem das Fersehpublikum im Televote den falschesten Titel rauspickte. Gut war aber ja die Entscheidung 2018. auch bei diesem Vorentscheid habe es einige richtig gute Beiträge und auch das Publikum hatte sich für den Konkurrenzfähigsten Beitrag entschieden.
Wenn aber wie 2019 nur Schrott angeboten wird (den Beitrag von Lilly among Clouds mal außen vor, der wäre aber auch nicht konkurrenzfähig gewesen), dann kann auch kein Publikum der Welt was machen.
Was für ein Schlingerkurs. Man kann doch nicht nach 2 Jahren, davon nur eins mit ESC, den neuen Ansatz wieder aus dem Fenster werfen. Also kann man schon, aber eine belastbare Aussage zum Erfolg des Verfahrens gibt es so nicht. In 3 Jahren dann das nächste?
@Sven: Doch kann man. Das Klüngeln hinter verschlossenen Türen hat uns Platz 25 und viel Häme eingebracht. Ob Ben Dolic 2020 so toll abgeschnitten hätte, wage ich mal zu bezweifeln, nach seinem katastrofalen Auftritt bei der deutschen Ersatzveranstaltung. Lieber habe ich einen Act der von einer Vorentscheidung kommt, wenn er dann schlecht abschneidet, dann okay. Wenn man eine interne Nominierung macht, dann muss der Act ein absoluter Knaller sein. Einer von der ersten Garde. Aber die erste Garde meidet den ESC wie der Teufel das Weihwasser. Ich bin mir sicher Jendrik wäre bei einer Vorentscheidung nie der Gewinner gewesen. Außerdem habe ich vor einem Act der durch eine Vorentscheidung ausgewählt worden ist, einfach mehr Respekt als jemand der durch eine interne Entscheidung zum ESC-Ticket gekommen ist. Bei internen Entscheidung weiß man nie, wie diese zustande gekommen ist.
5 ist besser als 1
und das ist von der Teilnehmerzahl immerhin schon ein isländisches Halbfinale
Dann muss nur noch alle 2 Jahre ein Dadi oder Hatari dabei rausspringen, und die Rechnung der ARD geht auf!
@geromax: Das Publikum hat den Song ausgewähl der ihm 2013 bei der VE am besten gefallen hat. Das war halt Cascada. Bei einer VE kann jeder für seinen Favoriten anrufen. Tut man das nicht gewinnt halt der Song, den man möglicherweise nicht mag. Ich war damals froh, das Cascada gewonnen hat und fand das sie beim ESC wirklich unterbewertet worden ist. So schlecht war der Auftritt wirklich nicht.
Mittlerweile gefallen mir die Kommentare von escfan05 richtig gut. Kompliment !
Cascada mochte ich allerdings wie fast alle deutschen Teilnehmer in der Nach-Lena-Phase leider gar nicht.
@ Thomas O
So ist es !
Angeblich sollen sich IKKE Hüftgold (Ballermannmucke, würg) und Eskimo Callboy (absolut endgeil) beworben haben. Einen Song von Eskimo Gallboy habe ich gehört, das war der absolute Wahnsinn. Hoffentlich kommen die dann auch ins Finale, natürlich unter der Vorraussetzung das sie sich auch tatsächlich beworben haben.