Eine heimatsprachliche Woche fand am vergangenen Samstag statt beim zweiten Viertelfinale der Eesti Laul 2022: alle zehn Beiträge wurden auf estnisch gesungen. Was Landessprachennostalgiker:innen wohlig aufseufzen ließ, sorgte beim Blogbetreiber für Enttäuschung: genährt von der unwahrscheinlichen Ballung des Heimatidioms und insbesondere der Teilnahme der absoluten Eesti-Laul-Legende Meisterjaan, der uns bereits die unsterblichen Meisterwerke ‘Unemati’ und ‘Parmupillihullus’ schenkte, hoffte ich auf eine Rückkehr des so schmerzlich vermissten “Estonian Cool”, dieser einzigartigen, genialen Schrägheit, wie sie nur das kleine Land am baltischen Meerbusen liefern kann. Und Jaan Tätte Juunior, so der bürgerliche Name des versponnenen Jünglings, lieferte. Mit ‘Vahel lihtsalt’ (‘Manchmal einfach’) präsentierte er eine irgendwo zwischen Kraftwerk und China-Restaurant-Geplinker changierende, elektronisch-lethargische Filmmusik zu einem bizarren Drei-Minuten-Endzeitstreifen über die unaufhaltbare Zerstörung der Welt durch asiatische Kampfroboter, der in einer passend deprimierenden Ostblockkulisse spielte. Absurd, abseitig und natürlich vollkommen grandios!
Die bisexuelle Menage à trois im Plattenbau dauert nicht lange, dann legt Megatron alles in Schutt und Asche. Meisterjaan hat schon mal die Schutzweste angelegt.
Doch Meisterjaans in der “Diktion” der “emotionalen Ejakulation” gesprochener Songtext deutete sie bereits an, “die Eliminierung der Illusion:” das geschmacksgestörte Publikum wählte an seiner Stelle zwei jugendlich-heterosexuelle Pärchen mit belanglosen Beiträgen weiter. Sowie die ehemalige Miss Estland, Helen Randmets, die den traurigen Beweis ablieferte, dass die Estinnen selbst einer Dance-Nummer jegliches Leben aussaugen können. Die Jury rettete neben einer von viel Ausdruckstanz begleiteten Ballade mit Rauno Jürise alias Jyrise immerhin den wohl bestangezogenen Rapper Europas, der mit dem druck- und melodiestarken Elektrobeat-Charleston ‘Plaksuta’ (‘Klatschen’) den neben ‘Vahel lihtsalt’ einzigen einigermaßen relevanten Song des Abends beisteuerte. Vom restlichen Feld blieben allenfalls visuelle Eindrücke aus den gezeigten Videoclips hängen: so wie der hinreißend schöne Schrank von Mann, der im okayen Midtempopopsong ‘Lõpuks muutub’ (‘Irgendwann ändert es sich’) die ihm augenscheinlich frisch angetraute An-Marlen (wer?) abblitzen lässt. Kein Wunder, macht mein Gaydar bei ihm doch sehr laut ding-ding-ding! Oder der traurige Liedermacher Silver Jusilo, der zu seinem einschläfernd dahinplätschernden ‘Elu Rüpes’ (‘Mitten im Leben’) bei jahreszeitlich frostigen Außentemperaturen todesmutig in der malerischen Baltischen See umherplätschert. Wenn er sich da mal nicht den Tod holt!
Die Playlist mit allen zehn Beiträge des zweiten estnischen Viertelfinales 2022.
Bin auch erstaunt, was für einen Mist Estland jetzt schon zusammengewählt hat. Ich meine, Meisterjaan hätte es so oder so nicht nach Turin geschafft, aber das VE-Halbfinale war mehr als nur im Rahmen des Möglichen. Außerdem trauere ich ein klein wenig diesem Silver Jusilo nach. Aber das plätscherte einfach nur vor sich hin und ist nichts für die Allgemeinheit. Zum kommenden Samstag: Ich würde mir ja den Allerwertesten ablachen, wenn heute ein rein-englischsprachiges Viertelfinale angekündigt wird. Estland ist noch nicht verloren, noch sind es 20 Lieder!
Ist Estland das neue Dänemark? Hier war wirklich nichts bemerkenswertes dabei, alles ausgerutschter Mainstream, besonders die beiden Pärchen-Duette sind gar grauslich langweilig. Den Silver Jusilo fand ich noch am besten.
Jo, die Lieder im dritten VF sind alle auf Englisch!
Nennt mich das Orakel 😉
Ich kopiere mal mein Geschreibsel von gestern (in vorherigen Artikel) hier rein:
Zum zweiten estnischen Viertelfinale kein neuer Artikel?
Kann ich gut verstehen, auch bei diesem stand auf jedem der 10 Lose nur: “Leider Verloren!”
Entweder sind sämtliche Gewinnerlose in die dritte und vierte Lostrommel gewandert oder (leider wahrscheinlicher) sie haben in Estland gespart und nur die Großpackung mit den Nieten gekauft…
Und als Ergänzung zum heutigen Artikel: im Gegensatz zu den oben von ihm erwähnten Perlen fand ich Mesiterjaan diesmal auch arg bemüht. Und Jyrise ist nicht meins.
Und danke Oliver für die Links bei “Estonian Cool”, bitte sowas in der Art die nächsten zweimal…
Bislang gefallen mir Maian und Jyrise.…