So früh wie noch nie ging gestern Abend, fast pünktlich zur Halbzeit zwischen dem letzten Eurovision Song Contest in Rotterdam und dem kommenden in Turin, die aktuelle Vorentscheidungssaison los. Im ersten Viertelfinale der Eesti Laul 2022 traten die ersten zehn von insgesamt 40 (!) ausgewählten Songs gegeneinander an, von denen die Zuschauer:innen per Televoting drei ins allerdings erst Anfang Februar 2022 terminierte Halbfinale weiterwählten und eine achtköpfige Jury zwei weitere. Falls sich der estnische Sender von der Vervierfachung des Angebots eine breitere musikalische Palette versprach, so trat dies jedenfalls bei der Auftaktsendung nicht ein. Vielmehr manifestierte sich bei der gestrigen Eesti Laul der Einfluss der seit nunmehr zwei Jahren andauernden Pandemie auf die kollektive Psyche: fast ausschließlich tieftraurig gestimmte Damen, Herren und Bands gaben sich in ihren Liedern jammernd dem Weltschmerz hin. Die aus Videoclips bestehende Show zeichnete das verstörende Bild eines im Tal der Tränen versunkenen Volkes, das zum Herbstauftakt augenscheinlich miteinander Schluss gemacht hat. Dementsprechend deprimierend auch die dazu passende musikalische Ödnis.
Die Playlist mit den zehn Viertelfinaltiteln.
Zu der auch bekannte Namen beitrugen: die schon mehrfach bei der Eesti Laul angetretene Band Traffic erzählte im Videoclip zu ‘Kaua veel’ (ausgeschieden) zwar eine schön inszenierte Splitscreen-Geschichte mit einem hübschen Finaltwist, lieferte jedoch auch nur larmoyantes Gesusel. Stig Rästa trat mit dem von Victor Crone mitkomponierten ‘Interstellar’ an, das folgerichtig klang wie direkt von der Melodifestivalen-Resterampe. Evelin Samuel, die estnische Eurovisionsvertreterin von 1999, kam einem Song weiter, der die leider ausgesprochen altersmüden Gesangsharmonien des aktuellen Abba-Comeback-Albums mit der unerträglichen Todeslangeweile der Enya-Sphärenklänge von anno Dunnemals mischte. Dazu passte, dass sich die eigentlich recht attraktive Mittvierzigerin für den Videoclip zu ‘Waterfall’ zur blassen Wasserleiche schminken ließ. Zu den Newcomern zählte hingegen der Act Fiona and Me, optisch eine durchaus ansprechende Kreuzung aus Wolfgang Petry und einem muskulösen Surferboy, der in ‘Feel like this’ ebenfalls seinen Trennungsschmerz verarbeitete, der ihn jedoch zumindest zu unterhaltsamen Textzeilen wie “You were my Stifler’s Mother” und “Watchin Dumb and Dummer / And a Porno with a Plumber” inspirierte.
https://youtu.be/lUocKmHfL78
Die (satirische?) Verwendung der Schrifttype Comic Sans zur Einblendung der Lyrics von ‘Feel like this’ sorgte auf Twitter bereits für die (erhoffte?) kollektive Kernschmelze.
Damit setzt sich die unheilvolle estnische Tradition fort, alle auch nur leidlich interessanten Beiträge bereits vor dem Finale auszusortieren und dort nur den flachesten Mainstreamquark zuzulassen. Immerhin: mit dem schaumgebremst uptemporären, in einem spannenden Mix aus estnisch und spanisch gesungenen ‘Meeletu’ von Maian Lomp rettete ausgerechnet die Jury das einzige sommerlich-fröhliche Angebot des traurigen Herbstabends. Und mit Boamadu und ihrem melodisch-bratzenden Hardrockstampfer ‘Mitte kauaks’ (‘Nicht für lange’) wählte das Publikum einen Titel weiter, der zwar nicht unbedingt für Innovation steht, sich jedoch alleine schon aufgrund des Genres auf erfrischende Weise aus dem musikalischen Jammertal des Viertelfinales heraushob. Im Gegensatz beispielsweise zur ausgeschiedenen Girlgroup Little Mess (die Enkelinnen des österreichischen Grand-Prix-Duos von 1982?), von denen erhebliche No-Angels-Vibes ausgingen und die ihre glattgebügelte Popnummer im Gegensatz zu den juvenilen Dad-Rockern live sicher nicht so überzeugend hinbekämen wie im gezeigten Videoclip, mit dem sie zum gestern omnipräsenten Thema schöner junger Frauen in Hotelzimmern beitrugen.
https://youtu.be/2uQ8A3Kf2N4
Eigentlich dreißig Jahre zu jung für diese Musik: Boamadu.
Das einzig Gute an der Sendung war, dass sie so schnell rum war (1h02min).
Da war nix dabei, was es auch nur im Ansatz verdient hätte, in einem ESC-Halbfinale auf dem letzten Platz zu landen (vielleicht mit Ausname von Maian).
Außerdem vermisse ich schmerzlich solch estnische Perlen wie “Wo sind die Katzen?” oder Winnie Puhh.
Naja, es gibt ja noch drei weitere Chancen…
@ag9: Du sprichst mir so aus dem Herzen!
Och, ich finde den Song von Jaagup Tuisk eigentlich ziemlich gut. So schlecht wie beschrieben war auch das Lineup nun auch nicht. Recht gebe ich Oliver aber beim Song vom (ehemals) guten Stig Rästa. Vor allem vor dem Hintergrund, dass Estland nicht viel mehr Einwohner wie Köln hat, finde ich das sogar für ein Viertelfinale ganz beachtlich.
Und wenn ich dann höre, dass bei uns die wortwörtliche Gefahr besteht von Ikke Hüftgold oder den in der Bubble extrem gehypten, aber für mich auch nur mit Gewalt auf Kult getrimmten Eskimo Callboy, wünsche ich mich schon jetzt lieber nach Estland…..
Traffik leiden ja schwer unter dem Corona-Blues, das war letztes Jahr noch deutlich frischer.
Stig, einer meiner Lieblinge 2015 kommt auch nicht wirklich in die Pötte.
Der Surfer-Boy mit dem Whigfield Gedächtnis-Video (Saturday night)
lässt sich ganz entspannt weghören, meine No.1 bisher
Boamadu eigentlich auch, aber optisch hat dann doch Fiona eindeutig die Nase vorn
Oh, du bist zurück, wie schön! Hatte ich gar nicht richtig mitbekommen, da Du ja nicht mehr bei den bösen blauen Seiten (nein, nicht Gayromeo) bist. Dieser erste Schwung von Songs ist wirklich sehr mau, eigentlich gefällt mir hier nur der Beat von Maian. Kann alles nur besser werden – auf viele crazy Vorentscheidungen also!
Zum zweiten estnischen Viertelfinale kein neuer Artikel?
Kann ich gut verstehen, auch bei diesem stand auf jedem der 10 Lose nur: “Leider Verloren!”
Entweder sind sämtliche Gewinnerlose in die dritte und vierte Lostrommel gewandert oder (leider wahrscheinlicher) sie haben in Estland gespart und nur die Großpackung mit den Nieten gekauft…