Jahr für Jahr macht uns der albanische Sender RTSH das schönste und beste Weihnachtsgeschenk mit seinem traditionellen, von San Remo abgeschauten Liederwettbewerb Festivali i Këngës, der seit 2004 zugleich als nationaler Vorentscheid dient. Heuer beschenkte uns RTSH besonders reich: aus Anlass des sechzigjährigen FiK-Jubiläums organisierte man in Tirana am zweiten Abend der dreitägigen Festspiele eine glanzvolle Gala und holte die Legenden aus der Steinzeit der Veranstaltungsreihe wieder aus der Versenkung. Und zwar nicht, wie die ARD anno 2006, um sie im Dreierpack mit brutal zusammengestoppelten Medleys ihrer alten Lieder schnellstmöglich über die Bühne zu scheuchen. Nein, auf dem Balkan zeigt man noch Respekt gegenüber Älteren: nach etwas nostalgischem Geplauder (das vorhersehbar für eine sanremoeske Überziehung der geplanten Sendezeit führte) durften sie ihren damaligen Titel nochmal zu Klavierbegleitung anstimmen. Und anschließend paarte man sie mit jeweils einem der diesjährigen Teilnehmer:innen, mit denen sie deren aktuellen Wettbewerbsbeitrag als Duett präsentierten. Was interessanterweise in fast allen Fällen die Qualität der Lieder und Darbietungen dramatisch verbesserte. Bestes Beispiel hierfür: der als Klevis Bega geborene Singer-Songwriter Kastro Zizo und sein Stück ‘Kujë’ (‘Wo bist Du’), eine wütenden Anklage gegen den Femizid.
Triggerwarnung: Zizos Originalperformance mag bei zartbesaiteten Menschen Alpträume auslösen.
Bei seiner Performance am ersten FiK-Abend vergangenen Montag hatte sich Zizo dazu als Joker nach einem durchgekoksten Partywochenende zurechtgeschminkt, was – zumal ohne Kenntnis der erschütternden Lyrics – in Verbindung mit zusätzlich eingespielten, flackernd-verzerrten Nahaufnahmen seiner Visage einen extrem verstörenden, ans Psychopathische grenzenden Eindruck hinterließ. Am Dienstag stellte man ihm die siebzigjährige Schauspielerin und Sängerin Justina Aliaj zur Seite. Die zog alle Register ihres Könnens, setzte den strengen Gesichtsausdruck einer von ihrem ungezogenen Enkel bis ins Mark enttäuschten Großmutter auf und wand sich in feindosiert-dramatischen Posen von ihm ab, obschon Kastro diesmal auf die Horrormaske verzichtete. Während er seine Strophen aggressiv ins Mikro brüllte, sprechgesangte Justina ihren Part mit beinahe lieblicher, wenngleich mit hörbarer Bitterkeit erfüllten Stimme. Was alles in allem weniger frontal irritierend wirkte, doch gerade dadurch eine ungleich höhere mentale Sprengkraft entfaltete. So sehr, dass ich mir wünschen würde, dass RTSH im (nach realistischen Maßstäben wohl ausgeschlossenen Fall) seines Sieges im heutigen FiK-Finale die Beiden im Doppelpack nach Turin schicken möge.
Keine körperliche Foltermethode der Welt kann so tiefe, nie mehr heilende Wunden erzeugen wie dieser Blick aus Justinas Augen. Und kein Auftritt kann in dieser Vorentscheidungssaison noch diese Darbietung toppen!
Neben solcherart dramatischen Momenten erzeugten die ungleichen Paarungen aber auch heitere. So im Fall der Fan-Favoritin Ronela Hajati, die beim Erstauftritt zu ihrem Ethno-Disco-Stampfer ‘Sekret’ ein knappes Dutzend Begleittänzerinnen mitbrachte und die Zöpfe fliegen ließ wie Slavko Kalezić auf Speed. Sie teilte sich gestern die Bühne mit dem fast achtzigjährigen, kosovostämmigen Sabri Fejzullah, der zu den bollernden Hip-Hop-Beats der Nummer völlig verschüchtert-hilflos vor sich hin schaukelte wie ein verwirrter Senior beim Duett mit seiner Enkelin in der Karaokebar. Und der es folgerichtig auch nicht schaffte, zu seinen gerade mal zwei Zeilen Text, die ihm die Tochter des früheren albanischen Fernsehdirektors (noch zu Hoxhas Zeiten) gnädig überließ, rechtzeitig das Mikro an die Lippen zu halten. Denn ja, alle dienstäglichen Duos “sangen” im Vollplaybackverfahren. Was auch erklärt, warum der zweite (und alleine aus optischen Gründen mein klarer) Fan-Favorit Alban Ramosaj seine kraftvolle Trennungsschmerzklage ‘Theje’ (‘Zerquetschen’) diesmal ohne unsichere Töne in den wenigen leiseren Parts seiner juryoptimierten Brüllballade hinbekam.
Für die gelegentlichen schiefen Töne entschädigte Alban am Montag jedoch mit einem barfüßigen Auftritt, der den Fetischisten in mir unendlich glücklich machte. Danke!
Dass der extrem attraktive, in den Niederlanden geborene Sänger auch zu den Favoriten des Senders zählt, illustrierte ein etwas aufgesetzt inszenierter TV-Moment, für den das staatliche RTSH erstmals mit der privaten Konkurrenz zusammenarbeitete. Dort nimmt nämlich Albans ältere Schwester Beatrix an dem einschaltquotenstarken Trash-Format Promi Big Brother teil, wo sie sich gerade sehr unbeliebt machte, weil sie vor laufenden Kameras einer anderen Teilnehmerin den Freund ausspannte. In einer Kollaboration beider Sender durfte Beatrix zur “mentalen Unterstützung” ihres Bruders einen Abstecher zum FiK machen, wo sie direkt vor seinem Auftritt eine theatralisch-tränenreiche Ansprache hielt. Sehr viel authentischer wirkten da schon die dezenten Zähren, welche die den zweiten Abend eröffnende FiK-Wiederkehrerin Evi Reçi vergoss, deren Mutter im Orchester arbeitet und ihr persönliche, anscheinend sehr bewegende Worte zukommen ließ. Doch zurück zu den Duetten: als besonders überzeugendes Beispiel ist noch die wirklich perfekte Paarung der fünfmaligen FiK-Teilnehmerin Rezarta Smaja mit der 62jährigen Irma Libohova hervorzuheben, die ihre musikalische Karriere im Jahre 1978 bei eben diesem Festival begann.
Wirken ein bisschen wie die zwei bösen Stiefschwestern aus Aschenputtel, nur dass man sie beide toll findet: Rezarta und Irma harmonieren optisch wie akustisch geradezu traumhaft.
Auch der im Vergleich zum Vorjahr diesmal sehr viel maskuliner gekleidete, aber wie immer zauberhafte Mirud profitierte von der Zusammenarbeit mit der Festivallegende Afërdita Zonja (fantastischer Name!). Dass sich ein bereits als Duett angelegter Song problemlos auch von einem Trio vortragen lässt, bewies die Kollaboration der beiden Brüder Endri und Stefi Prifti (der immer mehr wie der Ex-Unheilig-Frontmann Der Graf aussieht und klingt) mit Myfarete Laze, die einst mit einem Loblied auf den kommunistischen Diktator Enver Hoxha einen vorderen Festivalplatz belegte und die sich wunderbar in die ziemliche altmodische, aber herrlich harmonische Powerballade ‘Triumfi i jetës’ (‘Triumph des Lebens’) einfügte (welche einen überraschend starken Saalapplaus erntete). Ohne Retro-Partner:innen und Vollplayback mussten indes die Newcomer:innen Ester Zahiri, Eldis Arrnjeti und Olimpia Smajlaj auskommen, nachdem sie die erste Jury-Auswahlrunde am Montag überlebt hatten. Sie dürften jedoch im heutigen Finale keine Rolle spielen, bei dem wiederum eine siebenköpfige Jury unter Beteiligung der letzten albanischen Vertreterin Anxhela Peristeri das alleinige Entscheidungsrecht besitzt. Und die ist ja immer für eine Überraschung gut…
Da waren es noch 20 Lieder: der erste Festivalabend am Stück.
Und hier die wirklich sehenswerte, über dreistündige Retro-Gala. Sorgen mache ich mir allerdings um Elton Deda, den Mann am Klavier, der den ganzen Abend über wirkte, als leide er unter einer schweren Corona-Depression. RTSH, könnt ihr mal nach dem schauen, bitte?