Schwuler als Harald Glööcklers Perücke präsentierte sich der dank der globalen Zeitverschiebung in hiesigen Breitengeraden bereits am frühen Samstagvormittag über die Bühne gegangene Eurovisionsvorentscheid Australia decides 2022. Nicht nur, dass der offen schwule und gnadenlos flamboyante Comedian Joel Creasey erneut durch die Show führte und dabei pro Moderation mehr Peniswitze abfeuerte als Barbara Schöneberger an einem ganzen Abend. Nicht nur, dass er dabei von dem für den Greenroom abgestellten Host Dylan Lewis Unterstützung erfuhr, einem knapp fünfzigjährigen, heterosexuell verheirateten Mann, der in seinen Interviews dermaßen aufgedreht herumtuckte, als habe er seine Ecstasy mit 20 Dosen Red Bull heruntergespült. Nicht nur, dass der australische Sender SBS in den Einspielern stets die Campness des Contests betonte und während der Wertungspause auf der Bühne eine offenbar aus mit Goldfarbe besprühtem Krepppapier hergestellte Trophäe für die (angeblich) am auffälligsten kostümierte Hallenzuschauerin überreichte. Sowie die queere Vorjahresvertreterin Montaigne auftreten ließ (aufgehorcht, NDR: man kann also auch seine weniger erfolgreichen Eurovisionsvertreter:innen mit Respekt behandeln, wenn man das nur will, und muss sie nicht zwingend fallenlassen wie eine heiße Kartoffel!). Nein, es fanden sich zudem gleich drei erkennbar queere bzw. genderfluide Künstler:innen im elfteiligen Line-up, von denen am Ende gar einer gewann.
Der Priscilla, Queen of the Desert-Moment der australischen Vorentscheidung: Keiinos Kylie-Cover.
Den Vogel schoss SBS allerdings mit den als Stargäste gebuchten norwegischen rechtmäßigen Eurovisionssiegern Keiino ab, die gemeinsam mit einem einheimischen Didgeridoo-Player eine Joik-Version von Kylie Minogues ‘On a Night like this’ zum Besten gaben und damit das bisher gültige Höchstmaß an schwuler Unterhaltung um den Faktor 100 nach oben schoben. Um so ärgerlich daher, dass die Zuschauer:innen außerhalb von Down Under das Spektakel aufgrund der absoluten Unfähigkeit des Senders, der es nicht schaffte, das Geoblocking für seinen offiziellen Livestream aufzuheben, stattdessen auf einem ruckelig-verquollenen, illegalen Twitch-Stream mitverfolgen mussten. Eindeutiger konnte SBS kaum demonstrieren, dass das Riesen-Eiland eben doch nicht zu Europa gehört und auf die Fans vom Kontinent scheißt! Liebe EBU, könntet ihr bitte ENDLICH in die Eurovisionsstatuten aufnehmen, dass beim internationalen Wettsingen nur mitmachen darf, wer einen weltweit frei empfangbaren Live-Stream seines Vorentscheids zur Verfügung stellt und bereits während der laufenden Show alle erfolgten Einzelauftritte unmittelbar und dauerhaft (looking at you, Rai) auf Youtube hochlädt? Das kann doch wohl nicht zu viel verlangt sein!
https://youtu.be/T2x4OyZ_f40
Die männliche Eleni Foureira. Schade, dass wir Andrew nicht in Turin sehen werden.
In Sachen Show-Inszenierung und Bühnengarderobe gaben sich alle elf Teilnehmenden die größtmögliche Mühe, ebenso bei den im jeweiligen Einspieler erzählten persönlichen Storys. Schade, dass man für die elf Songs erkennbar weniger Engagement aufbrachte, ebenso wie fürs Stimmtraining. Bereits der erste Act, die sechs jungen Damen der Girlgroup G‑Nation, platzierten sich in Sachen Gesangssicherheit und musikalische Qualität als Enkelinnen der mazedonischen Trash-Legenden XXL. Erst der fünfte Teilnehmer, der zypriotischstämmige Schönling Andrew Lambrou, steuerte mit dem zweisprachigen, auf englisch und spanisch gesungenen Elektro-Banger ‘Electrify’ einen einigermaßen degustierbaren Beitrag bei. Wobei es gut möglich ist, dass ich da hauptsächlich mit den Augen gehört habe: der durchtrainierte 23jährige entpuppte sich als absoluter Hingucker, sein dann doch etwas dumpf dahinpuckernder Song verschmolz zur Begleitmusik für den nicht jugendfreien Film, der während seines Auftritts in den Köpfen der meisten Zuschauer:innen abgelaufen sein dürfte. Und bitte erzählt mir nicht, dass Eure Gedanken bei Andrews Anblick rein geblieben wären, ihr durstigen kleinen Ferkelchen!
In dem verquollenen Internetstream sah es zunächst so aus, aus sei Jaguar Jonze beim Baden mit einem Schwarm Quallen zusammengestoßen und habe nun überall Pusteln auf der Haut. War aber nur das Outfit.
Die eindrucksvollste Inszenierung legte jedoch die Australia-Decides-Rückkehrerin Jaguar Jonze an den Tag. Die nahm den Titel ihrer düsteren Ballade ‘Little Fires’ wörtlich und steckte ihren papiernen Reifrock in Brand. Was hierzulande vermutlich schon aufgrund irgendwelcher Sicherheitsbestimmungen nicht gegangen wäre. Die fünfköpfige Jury unter Beteiligung der Keiino-Frontfrau Alexandra Rotan entflammte begeistert für so viel Feuer und gab Jonze ihre Höchstwertung. Beim Publikum landete sie jedoch nur auf Rang vier und damit noch hinter den quietschigen G‑Nation-Girls. Stattdessen bevorzugten die Australier:innen die Metal-Elektro-Crossover-Band Voyager, die mit einem außerordentlich starken Bart-Game überzeugte. Sowie mit ihrem Titel ‘Dreamer’, der ein bisschen klang wie eine Mischung aus New Order und Avantasia, dabei aber zumindest ordentliche Rockgitarren bot und eine tadellose stimmliche Leistung des aus Deutschland stammenden Frontmanns Daniel Estrin. Ihnen wiederum machte die Jury einen dicken Strich durch die Rechnung, die ihre Stimmen bis auf die beiden Topwertungen relativ gleichmäßig verteilte, während SBS das Ergebnis des Televotings in eine in Fünf-Punkte-Schritten gespreizte Wertung umrechnete und damit fraglos verzerrte.
Süße Zahnlücke: Voyager-Frontmann Daniel Estrin.
Bei dieser Publikumsabstimmung versagte SBS ein weiteres Mal: im Netz annoncierte der Sender, dass das bereits vor Beginn der Sendung eröffnete Televoting mitten während der Show, noch vor dem Auftritt der letzten drei Teilnehmer:innen geschlossen würde, was für Aufruhr unter den Fans sorgte. Tatsächlich blieb die Abstimmung wohl bis zum Countdown in der Sendung offen und hatte die unglückliche Verwirrung etwas mit den verschiedenen Zeitzonen auf dem dem Kontinent zu tun. Weniger Anklang als Jaguar Jonze fand der zweite Rückkehrer Isaiah Firebrace. Der ephebenhafte Jüngling und im Jahre 2017 noch intern ausgewählte dritte Vertreter Australiens beim ESC hatte sich für seinen neuerlichen Anlauf mit der deutlich kernigeren Sängerin Evie Irie zusammengetan. Ihr gemeinsames Liebesduett ‘When I’m with you’ strahlte jedoch soviel echte, intime Chemie aus wie seinerzeit das dänische Duo Chanée und N’Evergreen. In die Kategorie “nett” fiel das uptemporäre, vor upliftenden Heile-Welt-Klischees nur so strotzende ‘We are One’, mit dem die vierzigjährige, anmutige Pauline Curuenavuli ein bisschen schaumgebremsten Donna-Summer-Flavour an die australische Goldküste brachte, der einen zwar mit den Zehen mitwippen ließ, aber keinesfalls vom Hocker riss.
https://youtu.be/Hwxa9PX8rBc
Eher Butt down als Hands up: Paulini konnte niemanden zum Tanzflächenstürmen bringen.
Als leider nur optisch hinreißend entpuppte sich der philippinischstämmige Seann Miley Moore, der erste der drei queeren Kombattant:innen und britischen Zuschauer:innen noch bekannt von seiner dortigen X‑Factor-Teilnahme vor ein paar Jahren. Der genderfluide Seann kann als weiteres Beispiel für die segensreiche Wirkung von Conchita Wurst dienen: die entspannte Selbstverständlichkeit, mit welcher er mit den Geschlechterrollen spielte, wäre ohne das Vorbild der Österreicherin kaum denkbar. Leider konnte Moores Selbstermächtigungshymne ‘My Body’ musikalisch wie stimmlich so gar nicht überzeugen. Der von ihm bei der Abstimmung mit apart gespielter Entrüstung aufgenommene letzte Platz fühlte sich dennoch ein bisschen harsch an. Für einen augenfeuchten Moment der Rührung sorgte der 22jährige, aus Queensland stammende Jude York. Nicht so sehr mit seinem recht disneyesken, dennoch arg zähen Torchsong ‘I won’t need to dream’, sondern mit seiner Garderobenwahl. Der frisürlich wie stimmlich ein bisschen an Gjon’s Tears erinnernde Jude saß nämlich in einer blassblauen Chiffonbluse am Klavier. Einem Kleidungsstück, das bis zu ihrem Tod seiner kürzlich verstorbenen Oma gehört hatte, zu deren Gedenken er es trug, wie er im Green-Room-Interview erzählte. Schnüff!
https://youtu.be/q7lRoeqeLyc
Fantastisches Outfit, tolle Ausstrahlung, mauer Song: Seann Miley Moore.
Als Profiteur der erwähnten Uneinigkeit von Publikum und Jury konnte sich schließlich der in beiden Rankings lediglich zweitplatzierte Sheldon Riley den rechnerischen Gesamtsieg sichern. Mit seinem Konkurrenten Seann Miley Moore verbindet Sheldon nicht nur die philippinische Herkunft, sondern auch seine offen gelebte Homosexualität, die er in seinem Titel ‘Not the Same’ ebenfalls thematisierte. Der 22jährige ehemalige The-Voice-Teilnehmer, dem im Vorstellungsvideo noch ein ginstartiges Geflecht aus der Nase zu wachsen schien, tauschte dieses für seinen Auftritt gegen eine Maske aus Strasssteinen. Die er sich zum Höhepunkt seiner dramatischen Ballade mit einer ebenso dramatischen Handbewegung vom Kopf riss, um den finalen Refrain mit leicht zitternder Stimme gewissermaßen vollkommen nackt und ungeschützt darzubieten. Selbst, wenn sein Song musikalisch überhaupt nicht meins ist: diese offensiv zur Schau gestellte Verletzlichkeit berührte mich ebenso wie der Liedtext von ‘Not the Same’, der das wohl von allen Angehörigen einer Minderheit geteilte, tiefsitzende und lebenslang bleibende Gefühl des gesellschaftlichen Ausgestoßenseins in bewegende Worte fasste. Bei der Siegerreprise brach Sheldon in Tränen der Rührung aus und bedankte sich schluchzend für das Plazet und die damit verbundene Anerkennung. Und auch hier in Frankfurt brachen vor dem Bildschirm an dieser Stelle alle Schleusen.
https://youtu.be/pa8vJqhRFNs
Hatte sich alle Fans mit auf die Bühne gebracht: Sheldon Riley.
Vorentscheid AU 2022
Australia decides. Samstag, 26. Februar 2022, aus dem Gold Coast Convention and Exhibition Center in Broad Beach. Elf Teilnehmer:innen. Moderation: Myf Warhurst und Joel Creasey. Jury (50%) und Televoting (50%).# | Interpreten | Songtitel | Jury | Televoting | Platz |
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01 | G‑Nation | Bite me | 11 | 45 | 05 |
02 | Erica Padilla | To the Bottom | 20 | 25 | 09 |
03 | Seann Miley More | My Body | 18 | 05 | 11 |
04 | Charley | I suck at being lonely | 33 | 30 | 04 |
05 | Andrew Lambrou | Electrify | 16 | 35 | 07 |
06 | Sheldon Riley | Not the Same | 50 | 50 | 01 |
07 | Paulini Curuenavuli | We are One | 32 | 20 | 06 |
08 | Jaguar Jonze | Little Fires | 51 | 40 | 03 |
09 | Isaiah Firebrace + Evie Irie | When I’m with you | 35 | 10 | 10 |
10 | Voyager | Dreamer | 37 | 60 | 02 |
11 | Jude York | I won’t need to dream | 32 | 15 | 08 |
Letzte Aktualisierung: 27.02.2022
Und? Schafft Australien mit Sheldon Riley diesmal den Finaleinzug?
- Nah. Ich kann diese Jammerballaden nicht mehr hören. (36%, 20 Votes)
- Meins ist es nicht, aber das ist ein perfekter Jury-Honigtopf. Finale ist sicher. (36%, 20 Votes)
- Klar. Der Song berührt, die Show ist fantastisch und der Junge kann singen. (29%, 16 Votes)
Total Voters: 56
Australia decides 2023 >
Meins ist es absolut nicht, wird aber wohl dank der Jurys weiterkommen.
Wann gibt es denn die Nachbetrachtung zu Polen, Norwegen, Slowenien, Kroatien usw??
Das war schon sehr rührend bei der Siegerreprise, Sheldon muss man einfach alles Gute für Turin wünschen!
Und was für einen tollen VE die Australier da hingelegt haben, auch wenn die Songs so lala waren haben sie eine unterhaltsame Show daraus gebastelt.
Ich bin beim Publikumssieger. Voyager haben bei mir sogar das Fernduell mit dem finnischen Sieger gewonnen, auch wenn der Song deutlich simpler gestrickt ist. Dafür war im Auftritt ordentlich Pfeffer und Daniel hat eine fantastische Stimme.
Wie immer von Oliver alles auf den Punkt gebracht.
Als Ergänzung: Mich erinnert der Sieger ein wenig an Anohni, ehemals Antony von Antony and the Johnsons, sowohl von der Art her als auch stimmlich, nur der Song kann da nicht mithalten. Jaguars Song war zwar besser, aber sie hat stimmlich doch arg geschwächelt.
@Toto: (Hoffentlich) irgendwann in den kommenden Wochen. Ich schmeiße den Laden hier alleine und bin mittlerweile in einem Alter, wo ich nicht mehr die Kraft habe, an einem Wochenende fünf Artikel rauszuhauen. Zumal ich mir lieber die Zeit nehme, eine möglichst gründliche, meinen eigenen Ansprüchen entsprechende Nachbetrachtung zu schreiben (wofür halt schon mal ein ganzer Arbeitstag draufgehen kann), als schnell irgendwas Halbgares zu veröffentlichen. Das heißt leider auch, dass die letzten Nachträge bei mir erst kommen werden, wenn die 40 Lieder für Turin längst feststehen. Sorry.
@aufrechtgehn
Verstehe dich schon und habe auch dafür Verständnis. Mich interessiert halt nur was du von Krystian hältst, ich mag den Song wirklich gerne.
Solange Polen nicht als letztes kommt bin ich zufrieden. 😉
@toto: Der Artikel zu Polen ist jetzt online. Nicht wundern, dass er nicht an oberster Stelle steht, ich arbeite die noch fehlenden Vorentscheidungen chronologisch rückwirkend ein.
Ich fürchte nur, du wirst nicht sehr glücklich über meine Bewertung von Krystian sein. Aber Geschmäcker sind halt verschieden. Schön, wenn er dir gefällt.