Neben den vier Finalentscheidungen des vergangenen Supersamstages fanden in der zurückliegenden Woche quer durch Europa noch etliche Vorrunden statt, von denen an dieser Stelle das Wichtigste komprimiert zusammenfasst werden soll. Beginnen wir in Estland, wo am Donnerstag und am Samstag die beiden Halbfinale der Eesti Laul stattfanden, erstmals mit Live-Auftritten der 20 Überlebenden der vier bereits im vergangenen Jahr abgehaltenen und rein auf Videoclips basierenden Erstauswahlrunden. Jedenfalls größtenteils: einen kleineren Teil der Kombattant:innen hatte zwischenzeitlich die Seuche niedergestreckt, so dass auch hier ersatzweise der Clip zur Ausstrahlung gelangte. Ein unfairer Vorteil? Nicht unbedingt: auch bei den Live-Acts kamen so viel Chorstimmen vom Band zum Einsatz, dass es meist wie aus der Konserve klang. Für einen kurzen Stimmausrutscher sorgte am Donnerstag das unfreiwillige Highlight des ersten Semis: die bereits vom Eurovision Song Contest 2018 in Lissabon bekannte Popera-Quetsche Elina Nechayeva ließ sich für den Jury-Honigtopf-Part ihres düsteren Balladenschinkens ‘Remedy’ an zwei dicken Stahlseilen in luftige Gefilde ziehen. Und gerade, als sie zum höchsten Ton ansetzte, gab es eine Fehlfunktion: die Sängerin fiel zu Boden.
Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt: Elina Nechayeva.
Aus lichtdramaturgischen Gründen spielte sich das überwiegend im Dunkeln ab, die mit einem dumpfen Schlag laut vernehmbare Landung auf der Bühne sowie Elinas kurzzeitig entglittener Gesang und Gesichtsausdruck suggerierten aber, dass der Sturz zumindest aus dieser Höhe unerwartet kam. Glücklicherweise blieb sie unverletzt. Die Zuschauer:innen wählten den von der Jury erstaunlicherweise verschmähten Opernstar wohl aus kollektivem Mitleid anschließend weiter ins Finale. Für Verwirrung bei den nicht-estnischen Zuschauer:innen sorgte die Teilnahme von zwei gemischtgeschlechtlichen Duos. Deren beide männlichen Parts, Andrei Zevakin (Finale) und Frants Tikerpuu (ausgeschieden), zwei jeweils juvenil-durchtrainierte Herren mit Schamhaarfrisur, sahen sich nämlich zum Verwechseln ähnlich. Und auch während der Greenroom-Schalte, als die Beiden zu albernen Spielchen gegeneinander antreten mussten, glaubte man, zu tief ins Glas geschaut zu haben und doppelt zu sehen. Interessant auch: in der prominent besetzten Jury saß unter anderem Elina Born, 2015 in Wien noch Duettpartnerin von Stig Rästa. Der nahm mit dem faden Schwedenschlager ‘Interstellar’ im Wettbewerb teil – und kam eine Runde weiter. Kein Wunder, möchte man sagen.
Zwillingsbrüder oder nicht? Andrei und Frants gaben Rätsel auf.
A propos fader Schwedenschlager: einen solchen hatte auch Anna Sahlene am Start, 2002 die in letzter Sekunde importierte Vertreterin Estlands beim ESC und im vergangenen November noch Stargast beim Clubtreffen des EC Germany in Köln. Nach der Ablehnung für das Melodifestivalen zu Hause hatte die Schwedin den aus circa einhundert Mello-Beiträgen zusammengeklauten Titel ‘Champion’ flugs in Estland eingereicht und schaffte es mit einem zugegebenermaßen starken Auftritt weiter ins Finale. Wie auch die Formation Black Velvet mit einem leider ebenfalls faden Lobgesang auf den deutschen Achtzigerjahre-Popstar ‘Sandra’ und der mehrfache Eesti-Laul-Teilnehmer Stefan Airapetjan mit dem packend inszenierten Countrysong ‘Hope’. Kein Weiterkommen hingegen für den ganz spannenden Hip-Hop-Titel ‘Plaksuta’ (‘Klatschen’) des modebewussten Jyrise, dessen Coolnessfaktor ein wenig darunter litt, dass ihm beim Aufstehen vom Sofa der Funküberträger aus der Tasche fiel, sowie für die Hardrockformation Boamadu, einer der wenigen Bands im Business, bei denen der Drummer nicht die geilste Sau auf der Bühne darstellt, mit dem wunderbar bratzenden ‘Mitte kauaks’ (‘Nicht für lange’).
Ein bisschen irritierend die Zwischenschnitte mit dem im Halbdunkel gefilmten Probenauftritt: Jyrise.
Im zweiten Halbfinale des litauischen Pabandom iš naujo mussten wir uns am Samstag von dem Jungmännerduo Titas + Benas verabschieden, von britischen Fans auch despektierlich “Tits and Beans” genannt. Und das, obschon sie ihr formatradiotaugliches ‘Getting through this’ deutlich selbstsichererer vortanzten als noch in der Vorrunde. Doch Publikum und Jurys zeigten sich hier ziemlich einig, anders als bei der sich etwas ruppig durch ihre sehr zähe Ballade ‘Running Chords’ arbeitenden Urtė Šilagalytė. Die hatte schon ihre Vorrunde im Televoting gewonnen und wurde auch am Samstag wieder Zweite bei den Zuschauer:innen, was ihr den Beinamen “SIM-Card-Queen” eintrug. Die Jury setzte sie vorsichtshalber auf den letzten Rang und besiegelte damit das Aus. Dafür retteten sie die litauische Vertreterin von 2018, Ieva Zasimauskaitė, gerade noch so eben ins Finale weiter. Und damit nach Schweden, ins erste Semifinale des Melodifestivalen, welches natürlich gegen die starke Konkurrenz am Supersamstag bei mir keine Chance hatte. Dort kam es zu einem peinlichen technical Disorder, nämlich dem Ausfall der Voting-App im entscheidenden Moment. Immerhin funktionierten die Telefone noch, so dass ein gültiges Abstimmungsergebnis ermittelt werden konnte.
Liebe Kinder, nehmt euch an ihr kein Beispiel: die Malou.
Auf der Strecke blieb bei ihrer dritten Mello-Teilnahme bereits zum dritten Mal Malou Prytz. Die wohl in der Grundschule nicht richtig aufgepasst hatte, buchstabierte sie ihren Songtitel ‘Bananas’ doch im Refrain als “B‑a-n-a‑s”. Dabei liefern die leckeren Südfrüchte doch eigentlich genügend Fruchtzucker zur Unterstützung der Hirnfunktion beim Lernen. Wenn man sie denn in die richtige Körperöffnung einführt. Schluss war am Samstag zudem für die siebenmalige Mello-Veteranin Shirley Clamp und ihre stellenweise schmerzhaft schief vorjaulte, tottriste Ballade ‘Let there be Angels’. Zudem mussten wir uns von Omar Rudberg verabschieden, dem ehemaligen Mitglied der Boyband FO&O und Darsteller des schwulen Prinzenlovers im herausragenden schwedischen Netflix-Serienerfolg Young Royals. Anders als in dem erfolgreichen Sechsteiler, wo sich Rudberg in der Rolle des proletarischen Internatsschülers Simon in den etwas aus der Spur geratenen Königssohn Wilhelm verliebt und dabei eine ausgesprochen gute Figur macht, geriet er bei seinem Stangenwaren-Popschlager ‘Moving like that’ trotz Glitzeranzug optisch, performatorisch und charismatisch gegen seine beiden Begleittänzer deutlich ins Hintertreffen.
Der Räuber und der Prinz: ob wir Omar in der Fortsetzung der Young Royals wiedersehen?
Übersprungen hatte ich auch das letzte Viertelfinale des norwegischen Melodi Grand Prix (MGP), wo das Publikum in drei Duellen mal wieder mit schlafwandlerischer Sicherheit den absolut grottigsten der vier zur Wahl stehenden, durch die Bank schlechten Songs fürs Finale herauspickte. Dabei lieferte die gleich im ersten Duell eliminierte, für ihre 35 Jahre erstaunlich jung aussehende Alexandra Joner mit dem schaumgebremst latinoflavorisierten ‘Hasta la Vista’ zwar noch dem degustiösesten Beitrag. Allerdings hätten die serbischen Pop-Göttinnen Hurricane mit ihrem gleichnamigen Eurovisionsbeitrag von 2021 mit der Joner den Boden aufgewischt. Als unfreiwilliges Komik-Highlight erwies sich der nach eigener Biografie als Gesangslehrer und Model tätige Kim Wigaard, der seinen pompösen Popera-Schmachtfetzen ‘La Melodia’ auf einem unter seinem kilometerlangen, goldlaminierten Morgenrock versteckten Podest stehend herausschmetterte und dabei wirkte wie der harmlose, um die den Status des Untoten bringenden Fangzähne erleichterte Cousin des rumänischen Grand-Prix-Vampirs Cezar Ouatu von 2013.
Schlägt die Menschen höchstens durch Gesang in die Flucht: Kim Wigaard.
Die Beiden standen dann auch gleich am darauffolgenden Montag nochmals zur Auswahl, nämlich in der Sistesjansen-Runde des MGP, wo die Zuschauer:innen unter allen bereits rausgeflogenen Beiträgen einen wieder zurückwählen durften. Beziehungsweise zunächst einmal vier, zu denen unfassbarer Weise auch Wigaard gehörte und unter denen die Norweger:innen am kommenden Samstag dann die endgültige Wildcard vergeben. Zu den verbliebenen Zweite-Chance-Kandidat:innen zählen auch die kernigen Metal-Haudegen Trollfest mit ihrem unterhaltsam nihilistischen Protestsong gegen das Artensterben, ‘Dance like a pink Flamingo’. Und das empfinde ich als besondere seelische Grausamkeit, nährt es in mir doch unvermeidlich die natürlich völlig illusorische Hoffnung, das Wikingervolk könne sich in letzter Sekunde noch richtig entscheiden und die Trolle nach Turin entsenden. Wohl wissend, dass dies mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht passieren wird und sie stattdessen irgendeine unerträgliche Schlichtballade wählen. Falls es nicht doch der am vergangenen Samstag erstmals live präsentierte und fix fürs Finale gesetzte Elektro-Banger ‘Give that Wolf a Banana’ des Incognito-Projektes Subwoolfer wird, der bereits als Favorit gilt. Schön wär’s!
Subwoolfer: What does the Wolf say?
Im Halbfinale der lettischen Supernova reduzierte sich das Teilnehmendenfeld unterdessen von 17 auf zehn Titel. Wobei der Sender LTV die genauen Ergebnisse aus dem Tele- und Juryvoting unter Verschluss hielt, wohl um die Spannung für das Finale am kommenden Samstag nicht zu ruinieren. Auf der Strecke blieb dabei der Serientäter Markus Riva, der es nun zum gefühlt vierhundertsten Mal versucht haben muss und den Abstimmungsberechtigten mit seinem Songtitel ‘If you’re gonna love me’ eigens mit einem extra großen Zaunpfahl zuwinkte. Umsonst, erneut. Was auch an seiner unterirdischen Gesangsleistung gelegen haben mag oder an der musikalischen Uninspiriertheit seiner Midtempoballade. Wie wir unseren Markus kennen, wird er sich aber auch von der neuerlichen Zurückweisung nicht abschrecken lassen und es baldigst erneut versuchen. Ob er der verheimlichte Sohn von Ralph Siegel ist? Mit einem kalkulierten Schocker versucht es die Formation Citi Zēni mit ihrem Veggie-Werbesong ‘Eat your Salad’. Denn der beginnt mit der genialen Zeile: “Instead of Meat I eat Veggies and Pussy”. Doch, das haben Sie schon richtig verstanden! Leider aber haben die Citizens mit diesem Auftakt ihr gesamtes Pulver bereits in den ersten fünf Sekunden verschossen.
Mögen ihr Grünzeug wie auch ihre Vaginas frisch und saftig: Citi zeni.
Denn auch wenn der noch folgende Songtext, der sich nach Leibeskräften mühte, den ökologischen Lebensstil als sexy zu präsentieren, mit weiteren kleinen Anzüglichkeiten über die Größe seines “Hot Dogs” oder die geckogleiche Länge seiner Zunge aufwartete, so versuppte die funkig-verspielte Nummer doch mit fortlaufender Dauer in einer musikalischen Beliebigkeit, die sie von Sekunde zu Sekunde langweiliger erscheinen ließ. Spätestens mit dem Erreichen des ideenlosen Refrains klang das Ganze wie die B‑Seite einer Stefan-Raab-Single, eingespielt von den Heavytones. Da half es auch nicht, dass die Bandmitglieder auf der Bühne im Gleichschritt die Becken schwangen, als wollten sie sich um die Nachfolge des Epic Sax Guy bewerben. Ganz gegen Ende, als das Lied schon rum war, ging der affige Leadsänger schließlich in eine Grätsche, wobei ihm – sicherlich beabsichtigt – die Hosennaht riss und er uns seinen Schlüpper präsentierte. An dieser Stelle wirkte das Ganze dann nicht mehr bloß viel zu hart gewollt, sondern verzweifelt. Und, als überzeugter Vegetarier muss ich sagen: leider auf ärgerliche Weise kontraproduktiv. Denn auch, wenn es erst mal funktionierte und die Jungs ins Finale gebracht hat: sexy geht anders.
Wer würde sie nicht ehelichen wollen? Mēs Jūs Mīlam.
Zumal die Formation Mēs Jūs Mīlam (Ich liebe Dich) an gleicher Stelle zeigte, wie eine gut gemachte kreative Provokation funktioniert. Hinter dem Projekt steckt der Künstler Ralfs Eilands, der 2013 eine Hälfte des Duos PeR bildete, dem ersten crowdsurfenden Eurovisionsact. Der steuerte zwar auch die Leadvocals bei, tauchte allerdings nur gegen Songmitte mal kurz auf der Bühne auf. Und zwar in der Rolle eines Pastors, der eine Dragqueen mit extrem langen pinken Fingernägeln mit einem glatzköpfigen Mann im Anzug verheiratete. Für die restlichen 2 Minuten erledigte er den Job komplett unsichtbar hinter den Kulissen, während sich die blonde ‘Rich Itch’ (so der offensichtlich vorzensierte Songtitel) zu dem technoid-poppigen Clubbanger vor der Kamera den Arsch abtanzte. Und das war zwar nicht bedeutungsschwer, aber durchgängig unterhaltsam! Aminata Savadogu, die lettische Eurovisionsvertreterin von 2015 und seither an beinahe jedem Grand-Prix-Beitrag des Baltenstaates als Komponistin beteiligt, trat diesmal selbst an, musste aufgrund – Sie ahnen es bereits – einer Covid-Erkrankung allerdings vom heimischen Wohnzimmer aus singen. Und überzeugte trotz offensichtlich angegriffener Stimme mit ihrer Ballade ‘I’m letting you go’ dennoch auf ganzer Linie.
Disco geht immer: Bujāns.
Solo versuchte es eine der Chorsängerinnen von Aminata in Wien. Katō überstand mit ‘Promises’ jedoch nicht die Vorrunde. Im Gegensatz zum Trollprojekt Bujāns. Das Duo besteht zur Hälfte aus dem lettischen Eurovisionsvertreter von 2009 und Letztplatzierten im Semifinale zu Moskau, dem seinerzeit extrem sexy aussehenden Punk-Bärchen Intars Busulis. Der arbeitet mittlerweile als Juror bei der Castingshow X‑Factor und tat sich für das discotastische, bei aller Eingängigkeit klar als Parodie auf klassische Eurovisionslieder gedachten ‘He, she, you and me’ mit seinem dortigen Jurykollegen Reinis Sējāns zusammen, mit dem er sonst gerne cringe Tiktok-Videos produziert. Und damit abschließend zum ersten Halbfinale der slowenischen EMA, die am vergangenen Samstag weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit in Ljubljana stattfand und wo unter den zehn Qualifikant:innen nur zwei irgendwie herausstachen. Nämlich die Rockband Batista Cadillac aufgrund des schönen Leadsängers mit den durchtrainierten Oberarmen in der Lederweste sowie die Electro-Swing-Formation Manouche mit dem tanzbaren ‘Si sama?’ (‘Bist du solo?’).
Wenn jetzt jemand “Electro Velvet” sagt, kriegt er von mir eine rein: Manouche.
Kleiner Fehler: Hurricane wollten 2020 mit “Hasta la Vista” antreten, nicht 2021.
Ja, mal wieder viel zu viel los in Europa. Ich belasse es mal beim Baltikum, da die ja am kommenden Wochenende schon die Ziellinie erreichen: Stefan für Estland, Citi Zeni für Lettland und Monika Liu für Litauen. So hätte ich es gerne, dann würde sich vorne in meiner Topliste für 2022 einiges verschieben, nachdem das bisher ausgewählte Zeug mich noch nicht so richtig überzeugen konnte. Und selbst den Titel von Stefan musste ich gefühlt zehnmal hören, damit ich dem Ding seinen Favoritenstatus anerkennen konnte. Ich bin ja erstaunt, dass an “Hope” kein einziger schwedischer Komponist beteiligt war. Das klingt für mich nach nem Softplagiat von “Heroes”.
Ich sage Electro Velvet: Manouche sind Electro Velvet in sympathisch.