Das ging jetzt doch überraschend schnell: am Freitagnachmittag verkündete die EBU den Ausschluss Russlands vom Eurovision Song Contest 2022 in Turin. “Diese Entscheidung spiegelt unsere Besorgnis wider, dass die Inklusion eines russischen Beitrags beim diesjährigen Contest im Lichte der beispiellose Krise in der Ukraine den Wettbewerb in Verruf bringen würde,” so begründete die europäische Senderunion in einer (auf der offiziellen Website gut versteckten) Pressemeldung die Sanktion. Eine 180-Grad-Wende somit gegenüber dem Vortag, wo man sich auf eine entsprechende Anfrage des schwedischen Senders SVT zum Umgang der EBU mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hin noch auf die üblichen, nichtssagenden Stanzen über die “unpolitische kulturelle Veranstaltung, welche Nationen vereint und Diversität durch Musik feiert,” zurückzog und daran festhielt, man plane “derzeit, Künstler:innen aus beiden Ländern” in Turin “willkommen zu heißen”. Doch offensichtlich konnte man nach massivem internen Gegenwind in Genf den auf der bisherigen Linie liegenden und rückgratlosen Vogel-Strauß-Kurs nicht länger fortführen, den man bereits nach der Annexion der Krim und nach den Angriffen Aserbaidschans auf Berg-Karabach einschlug.
Ein Lied aus unbeschwerteren Tagen: Verka Serduchka mit ihrem Song von 2007 über gestampfte Butter.
Denn nicht nur, dass das ukrainische Fernsehen unter Verweis auf die 2021 erfolgte Suspendierung Weißrusslands bereits am Donnerstag forderte, den Aggressor von der Teilnahme vom friedvollen europäischen Wettsingen auszuschließen: die Sendestationen sämtlicher skandinavischen und baltischen Nationen sowie der Niederlande schlossen sich zwischenzeitlich nachdrücklich diesem Ansinnen an. Finn- und Estland drohten sogar an, ihre eigenen Beiträge zu stornieren, sollten Konsequenzen für Russland ausbleiben. Dabei stellt die Kriegsbeteiligung eines Landes nach den Statuten der Rundfunkunion per se noch keinen Ausschlussgrund dar, wie Dr. Eurovision Irving Wolther in seiner Einordnung der Geschehnisse auf eurovision.de darlegte. Hinzukommen müssten eigentlich politische Sanktionen einer übergeordneten Organisation wie seinerzeit im Bruderkrieg auf dem Balkan: damals durfte aufgrund einer UN-Resolution der jugoslawische Nachfolgerstaat Serbien zwischen 1993 und 2001 nicht an internationalen Veranstaltungen teilnehmen. Und somit auch nicht am ESC. Einen aktiven Ausschluss vonseiten der EBU gab es bis dato nur wegen unbezahlter Rechnungen, nämlich 2016 gegen Rumänien. Und eben letztes Jahr gegen Belarus.
Seherischer Songtitel: statt dieser drei Minuten melodischen Rocks herrschte in Stockholm Stille.
Diese mit der schwerwiegenden Verletzung journalistischer Standards und der Verbreitung einseitiger Regierungspropaganda durch den Sender BTRC begründete zeitweilige Suspendierung der Mitgliedschaft des Putin treu ergebenen Vasallenstaates Weißrussland ließ nun der EBU wenig Spielraum. Und auch, wenn man mit dem offiziellen Vorschieben des eigens so schwammig wie nur eben möglichen verfassten Gummiparagrafen des “Verrufs”, unter dem sich letztlich jedwedes in irgendeiner Form kritikwürdige Verhalten einordnen lässt, verzweifelt die Mär vom unpolitischen Grand Prix aufrechterhalten möchte, könnte der Ausschluss Russlands politischer nicht sein. Die am Freitagabend veröffentlichte gemeinsame Stellungnahme der deutschen EBU-Mitglieder ARD und ZDF unterstreicht dies: “Der ESC ist ein musikalisches Fest der Völker Europas. Er repräsentiert Werte wie Freiheit und Vielfalt und ist ein friedlicher Wettstreit kreativer Köpfe. Wenn ein Teilnehmerland des ESC von einem anderen angegriffen wird, sind wir innerhalb der europäischen ESC-Familie solidarisch”. Klarer und eindeutiger könnte man in der nunmehr leider zum Krieg mutierten Auseinandersetzung kaum Partei ergreifen. Völlig zu Recht natürlich.
Nun kommt der Bareback Mountain doch nach Turin. Der estnische Sender ERR drohte zunächst mit Eurovisions-Rückzug.
Das russische Fernsehen, das vermutlich nach Druck aus dem Kreml nun aus der EBU ausgetreten ist, hatte ohnehin noch keine:n Grand-Prix-Repräsentante:in ausgewählt. Und in der aktuellen Lage wohl nur schwer jemanden gefunden, der:die sich freiwillig in Turin ausbuhen lassen hätte. In der Ukraine steht nach dem unverzichtbaren jährlichen Vorentscheidungsdrama zwar das Kalush Orchestra als Eurovisionsact fest. Ob es die Mannen jedoch wirklich nach Italien schaffen oder das Land nicht bis Mai in Trümmern liegt, bleibt abzuwarten. Meine Gedanken und Solidarität ist natürlich mit den Ukrainer:innen. Unbedingt empfehlen möchte ich an dieser Stelle eine bereits im Frühjahr 2020 aufgenommene Folge des österreichischen Eurovisionspodcasts Merci, Chéri von Marco Schreuder und Alkis Vlassakakis mit dem Titel “Postsowjetische Hoffnungen und Turbulenzen beim ESC”. Die beiden Wiener hatten in dieser Ausgabe den Politikwissenschaftler Gerhard Mangott zu Gast und bieten darin einen ebenso kurzweilig-unterhaltsamen wie profunden Einblick in die russische Seele. Sowie in die kulturellen, geschichtlichen und politischen Hintergründe der Auseinandersetzungen zwischen den beiden Ländern, immer auch aufgereiht an der Geschichte des Eurovisionsgeschehens.
“Cross the Line a Step at a Time”, “Maybe there’s a Day you’ll be mine”: schon anlässlich der Annexion der Krim 2014 machte Russland keinen Hehl aus seinen Plänen.
Aktualisiert: 27.02.2022
Ich bin so zwiegespalten.
Zum Einen ist es selbstverständlich zu verurteilen, dass die russische Regierung diesen Schritt getan und die Ukraine überfallen hat – aller vorausgegangenen Fehler beider Seiten zum Trotz. Sowas geht nicht, ein Krieg ist durch nichts zu entschuldigen – Punkt!
Sollte die EBU allerdings Russland deshalb sperren, wird sich leider nichts ändern, außer dass progressive Künstler und Menschen in Russland (und ja, liebe Schwarz-Weiß-Denker, die gibt es), nur noch weiter international isoliert sein werden, als sie es durch die Politik “ihrer” Regierung ohnehin schon sind. Natürlich sind die russischen EBU-Mitglieder auch Propagandawerkzeuge der russischen Regierung, aber Manizha konnte von dieser Tatsache im letzten Jahr dennoch nicht verhindert werden. Es gibt also auch beim russischen Fernsehen Mitarbeiter, die sich gegen die “Werte”, die die russische Regierung propagiert, wehren. Ein Ausschluss vom ESC würde ihnen diese Möglichkeit verwehren.
Trotz allem kann ich diese Forderungen nachvollziehen.
Der Artikel hier ist sehr schlecht gealtert 😉
Richtige Entscheidung aus Genf, wenn auch etwas zu spät. Warum muss man bei sowas immer zuerst Druck auf die EBU machen, damit die mal handelt. Da wird das Champions League-Finale nach Paris verschoben und der F1-Grand Prix in Sotschi gestrichen, aber die EBU hat sich erstmal noch nicht vom Fleck gerührt. Schön nochmal die Kurve gekriegt!
Wobei die Teilnahme von Russland seit gestern so oder so fragwürdig gewesen wäre. Außer Kreml-treue Künstler:innen wäre doch niemand gerne für die nach Turin gefahren. Die ukrainische Teilnahme ist aber auch noch stark gefährdet. Wer weiß denn schon, wie lange die Invasion noch dauert?
So oder so, dieser Tage gibt es generell Wichtigeres als den Eurovision Song Contest…leider!
Euch allen hier trotzdem ein erholsames Wochenende!
Ja, da war das Weltgeschehen mal wieder schneller. Ist jetzt auf dem aktuellen Stand (19:00 Uhr).
Sollten die Songtexte der ESCTeilnehmer nicht doch ab und zu mal zu politischen Themen Stellung nehmen?
Songs vom Format “Universal soldier”(Donovan) hört man heute nicht mehr.Und “Ein bisschen Frieden” ist wohl auch schon 40 Jahre her und hatte keine Langzeitwirkung…
Ich habe in der Umfrage “Einzig mögliche richtige Entscheidung” gewählt, auch wenn ich sie nicht gut finde. Aber es wäre vielleicht auch besser für die russischen Künstler, die in Turin mit Tomaten beworfen worden wären. Die jugoslawische Vertreterin soll 1992 ja auch schief angeschaut worden sein, weil ja da nicht nur Kroatien sondern auch schon Bosnien-Herzegowina in der Hölle angelangt waren.
Ich finde es auch die einzig richtige Entscheidung, wenn ich auch nicht besonders glücklich darüber bin, dass sie überhaupt so fallen musste. Egal wie jemand zur Situation steht, er würde unweigerlich mit dieser Sache gemein gemacht werden. Und das ist eigentlich niemandem zuzumuten, insbesondere dann nicht, wenn er den Angriff von Putin auf die Ukraine eher kritisch sieht (und da gibts viele, viele, viele!). Die Kremlgetreuen will ich unter diesen Umständen auf dieser Bühne ohnehin nicht sehen. Von daher: Einzig richtige Entscheidung.
Danke für den Podcast-Link zu “Merci, Cheri”
Diese ESC-geschichtliche Rückschau zu Russland und seinen Nachbarländern hat mich heute morgen wieder ein Stück weit geerdet.
Auch wenn mich der jetzt drohende neue eiserne Vorhang quer durch Europa unfassbar traurig macht:
Wir alle sind Europa, vom Atlantik bis zum Ural. Und keine Panzer und Despoten können das jemals ändern.
Ich bin da überhaupt nicht zwiegespalten:
Russland (und Lukaschenko-Belarus dazu!) von allen kulturellen, sportlichen und anderen Veranstaltungen ausschließen. Ehrenkäsigen, nationalistischen Leute wie Putin ist es wichtig, dass ihr Land international als stark und leuchtend präsentiert wird. Diese Plattform fiele dann weg. Und mehr als nur ein Nebeneffekt wäre, dass dann auch die Bevölkerung in Russland vor Augen geführt bekäme, wie sehr sich die restliche Welt (natürlich weiß ich, ein paar uns bekannter Kandidaten exklusive) gegen eine solche Aggression stellt, nichts mit so jemandem zu tun haben möchte. Außerdem – mal noch weiter gedacht – wäre es auch ein Fingerzeig an einen gewissen Herrn Xi, der in einer Kultur lebt, bei der Gesichtsverlust mit das Schlimmste ist. Um sein Mütchen zu kühlen, die Schraube nicht zu weit zu drehen.
Mir ist natürlich klar, dass das hart gegenüber den vielen, vielen in Russland wäre, die liberal, offen, friedlich sind. Jammerschade für sie. Ungerecht. Hätten sie aber dem Wahnsinnigen aus dem Kreml zu verdanken. Ich finde, nicht nur die Politik ist jetzt gefragt, gleich das große Besteck auszufahren, auch wir, die einfache Bevölkerung dieses Planeten muss ihren Teil dazu beitragen, unsere Verachtung durch Ausschluss zu zeigen. Auch als Warnung für andere Großmannsüchtige.