Herzlichen Glückwunsch an RTV San Marino! Der Sender des norditalienischen Winzstaates mit der Einwohnerzahl von Bonn, der seine Grand-Prix-Vertreter:innen mit Ausnahme von 2018 bislang stets intern auswählte, veranstaltete heuer erstmalig einen an sieben aufeinanderfolgenden Abenden (!) öffentlich ausgestrahlten und somit im Längenvergleich sogar das San-Remo-Festival überbietenden Vorentscheidungsmarathon. Und das mit dem Budget einer Betriebsweihnachtsfeier sowie der technischen Ausstattung einer Video-AG einer saarländischen Mittelschule! Gestern Abend ging das Mitte Dezember 2021 mit den ersten Auditions von insgesamt rund 300 internationalen Bewerber:innen gestartete Auswahlverfahren mit einem Sensationssieger zu Ende: der italienische Künstler Achille Lauro, vor wenigen Wochen mit seinem Beitrag ‘Domenica’ noch beim diesjährigen San-Remo-Festival wie immer gescheitert, geht nun im nahen Turin für die Miniaturrepublik an den Start. Den EBU-Zensoren steht sicherlich bereits der Schweiß auf der Stirn: Achilles Glamrocksong trägt den familienfreundlichen Titel ‘Stripper’; aus dem hauptsächlich italienischen Text ragen weitere Provokationen wie ‘Sextoy’ hervor. Und die laszive Bühnenshow des ganzkörpertätowierten 31jährigen dürfte vermutlich die meisten Zuschauer:innen entweder vor Auf- oder vor Erregung beben lassen.
Eltern, bedeckt Euren Töchtern und Söhnen die Augen: Achille Lauro.
Achille sollte nicht der einzige Ex-Teilnehmer des ligurischen Liederwettstreits bleiben: alleine unter den ursprünglich zehn fix fürs Finale gesetzten “Etablierten” (der Rapper und X‑Factor-Sieger Blind fiel coronabedingt kurzfristig aus) fanden sich mit Tony Cicco, einst Teil der Siebzigerjahre-Rockband Formula 3; Valerio Scanu, der 2010 das letzte San-Remo-Festival vor der Rückkehr Italiens zum Eurovision Song Contest gewann; sowie der Italo-Disco-Königin Ivana Spagna gleich drei ehemalige Festivalisti im Aufgebot. Die extrem straff geliftete 67jährige, die in den Achtzigern sowohl als Teil der Studioformation Fun Fun (‘Happy Station’) als auch solo (‘Call me’) weltweite Hits erzielte, sorgte nicht nur mit ihrem aktuellen, putzigen Discoschlager ‘Seriously in Love’ und der dazugehörigen, spaßmachenden Tanzchoreografie für Aufsehen, sondern auch mit ihrer Drag-Queen-Doppelgängerin, die in einer Überraschungsaktion gemeinsam mit ihr die kleine Bühne im Neuen Theater zu Dovogna stürmte und für Verwirrung beim Moderationsteam sorgte. Nicht ins Finale schaffte es hingegen die diesjährige tschechische Vorentscheidungszweite Elis Mraz, die sich mit ihrem ressourcenbewusst vom dortigen Einsatz wiederverwerteten Beitrag ‘Imma be’ lediglich bis in die Second-Chance-Runde der “Emergenti” durchschlagen konnte, der Nachwuchstalente also.
Die stets erschreckt dreinblickende Disco-Legende Spagna und ihr Nußknacker-Ballett.
Und damit schon mal ein Stückchen weiter als der genderfluide Oxa (Cleiton Sia), Musicaldarsteller, The-Voice-of-Germany-Zweite 2019 und Mitautorin von ‘El Diablo’ (CY 2021). Für Oxa war mit dem selbstgeschriebenen, persönlichen Stück ‘Purple Sky’ bereits nach dem Erstauftritt im deutlich kleineren Teatro Titano Schluss, wo die “Emergenti” auf einer abgewetzten Bühne vor wackelnder Handkamera und leeren Sitzreihen drei steinalten weißen Männern vorsingen mussten. Wobei man dieser sehr nichtdiversen Jury zumindest keine Homo- oder Transphobie vorwerfen kann: Sebastian Schmidt, 2018 bereits als damals bildschöner Chorsänger für San Marino beim ESC, musste zwar ebenfalls durch die Nachwuchsrunde, kam aber mit seinem Titel ‘Running’ bis ins Finale. Mit seiner rasierten Vollglatze, dem Fernfahrerschnauzer, dem üppigen Lidschatten, dem fleißigen Zuschauer:innen der ProSieben-Castingshow FameMaker sicherlich unvergesslich gebliebenen Leotard und Sieben-Zentimeter-Boots sah er aus wie das gemeinsame Kind von Freddy Mercury und Conchita Wurst. Einen Narren an ihm hatte wohl der gemeinsam mit der Grand-Prix-Legende Senhit sehr aufgezogen durch den Abend führende und sehr offensichtlich zur Familie gehörende italienische Showmaster Jonathan Kashanian gefressen, der Basti nach dem Auftritt nicht nur zu seinem Outfit gratulierte, sondern ihn extra eine Pirouette drehen ließ, damit wir uns an seinem knackigen Hintern weiden konnten. Dafür danke!
Fasziniert mich das üppig behaarte Dekolleté mehr oder der üppig gefüllte Slip? Basti Schmidt.
Der Brite Aaron Sibley, 2017 Teil des Bühnenprogramms beim Londoner Pride sowie 2018 und 2020 unter den Bewerber:innen des moldawischen Eurovisionsvorentscheids, konnte gar den Bronzeplatz klarmachen. Die Silbermedaille ging an den türkischen DJ Burak Yeter, der 2016 einen europaweiten Hit mit dem Drake-Cover ‘Tuesday’ hatte und den Titelsong für den Netflix-Hit ‘Haus des Geldes’ produzierte. Wobei der vom italienischen Gastsänger Alessandro Coli vorgetragene Titel ‘More than you’ diese Platzierung nicht unbedingt hergab. Aber das Wertungsverfahren gestaltete sich ohnehin nebulös: im Finale ersetzte man die drei weißen alten Männer aus den Vorrunden gegen eine fünfköpfige Jury unter Vorsitz des italienischen Autoren Mogol und mit Beteiligung der andorranischen Eurovisionsvertreterin von 2009, Susanne Georgi. Die nun allesamt nicht unbedingt den Eindruck machten, die härtesten Achille-Lauro-Fans zu sein. Da fügte es sich, dass der Sender keine detaillierten Wertungen veröffentlichte, sondern nur die Top Ten. Zuletzt ging so ein Eurovisionsstartplatz für San Marino bekanntlich für 8.000 € weg, so viel sollte Achille noch herum liegen haben?
In der Regel hatten die Wikinger rote Bärte: Aaron Sibely.
Dass es für RTV SM der erste selbst produzierte Vorentscheid war, merkte man dieser Stelle: nach der Siegerakklamation folgte erstmal – nichts mehr. Bei weiterlaufender TV-Übertragung leerte sich die Bühne; das Publikum im Saal begann bereits, aufzustehen, als Jonathan Kashanian wieder zurückkam kam die verdutzten Zuschauer:innen zum rhythmischen “Zugabe!”-Klatschen animierte, damit Lauro die Siegerreprise geben konnte. Besser lief es beim reich bestückten Rahmenprogramm. So gab die Italo-Pop-Legende Al Bano unter anderem seinen unverwüstlichen Evergreen ‘Felicita’ zum Besten als auch den Michael-Jackson-Titel ‘Will you be there’, den jener angeblich von einer seiner Kompositionen geklaut haben soll (den darob angestrengten Plagiatsprozess verlor Al Bano jedoch damals). Bei letzterem unterstützte ihn Senhit, die zudem in weiteren Showblöcken nach San-Remo-Vorbild eine nachdenkliche Ansprache hielt, ein vollkommen unnötiges Abba-Medley vom Blatt absang und – zum quietschenden Vergnügen von Grand-Prix-Fans weltweit – ein Duett mit der sehr zu Recht natürlich ebenfalls als Stargast gebuchten Valentina Monetta darbrachte. Nur von Serhat fehlte jede Spur – ich hoffe sehr, man hob ihn sich für die (mittlerweile zugesagte) nächste Ausgabe von Una Voca per San Marino auf.
https://youtu.be/48bmr-qOHJg
Drei Stunden semiprofessioneller Vorentscheidungsspaß: der sanmarinesische Vorentscheid am Stück.
Vorentscheid SM 2022
Una Voce per San Marino. Samstag, 19. Februar 2022, aus dem Teatro Nuovo in Dogona, San Marino. 18 Teilnehmer:innen. Moderation: Jonathan Kashanian und Senhit. Fünfköpfige Jury.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
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01 | Elena + Francesco Faggi | Nothing can blow me out | 31 | 13 |
02 | Matteo Faustini | L’ultima Parola | 35 | 05 |
03 | Aaron Sibley | Pressure | 39 | 03 |
04 | Ivana Spagna | Seriously in Love | 37 | 04 |
05 | Vina Rose | Sweet Denial | 34 | 08 |
06 | Cristina Ramos | Heartless Game | 31 | 14 |
07 | Alessia Labate | World falls down | 27 | 17 |
08 | Achille Lauro | Stripper | 41 | 01 |
09 | Mate | DNA | 27 | 18 |
10 | Deshedus, Tony Cicco, Alberto Fortis | Sono un Uomo | 33 | 09 |
11 | Sebastian Schmidt | Running | 31 | 11 |
12 | Francesco Monte | Mi ricordo di te (Adrenalina) | 35 | 06 |
13 | Kurt Cassar | Tears of Gold | 30 | 16 |
14 | Valerio Scanu | Io credo | 31 | 15 |
15 | Maria Chiara Leoni | Tiramisù | 33 | 10 |
16 | Burak Yeter + Alessandro Coli | More than you | 40 | 02 |
17 | Camille Cabaltera | Move ‘em like you never did | 34 | 07 |
18 | Miodio, Fabry & Labiuse | Blu | 31 | 12 |
Zuletzt aktualisiert: 27.02.22
Schafft San Marino mit Achille Lauro den Finaleinzug in Turin?
- Ich würde den ESC ja 2023 zu gerne in diesem Mini-Theater sehen. Für den Sieg reicht ‘Stripper’ aber nicht, da ist Mahmood doch besser. (54%, 33 Votes)
- Auf keinen Fall. Das ist total altmodisch. Ich lehne das rundheraus ab. (23%, 14 Votes)
- Das hängt davon ab, wie stark die EBU den Titel oder die Show zensiert. (13%, 8 Votes)
- Das ist wohl eine Scherzfrage? Das spielt um den Gesamtsieg mit! (10%, 6 Votes)
Total Voters: 61
San Marino 2023 >
@Oliver: ein bisschen Klugscheißen von meiner Seite. San Marino hat ungefähr ein Zehntel soviel Einwohner wie Bonn (332.000 zu 34.000). Was allerdings Deine Argumentation noch gewaltiger Erscheinen lässt. Wie auch schon in Sanremo scheitert der extrem selbstverliebte und sehr gewollt provokante Achille vor allem an seinen gesanglichen Fähigkeiten. Der Song ist jetzt auch nicht der Knaller. Allerdings ist der Jahrgang bislang so immens schwach, dass man noch gar keine Einschätzung abgeben kann, wer am Ende im Finale ist. Ich verstehe inzwischen auch nicht mehr, warum Deutschland in den Wetten soweit zurück gefallen ist, denn in dem bisherigen Lineup des ESC 2022 können alle 6 Songs mithalten. Mit Eskimo Callboy wäre natürlich ein ungleich größerer Erfolg möglich gewesen.
Ja, der Größenvergleich mit Bonn hat mich auch gleich am Anfang erschreckt. Mein Tipp für die Korrektur: Backnang in Württemberg (Heimat von Vanessa Mai und eventuell auch Andrea Berg, auch wenn die ja im benachbarten Asperg lebt). Die Stadt hat um die 35.000 Einwohner und damit nur etwas mehr als San Marino.
Mein Fazit zu diesem Vorentscheid: San Marino rockt einfach! Wenn das in Zukunft zum Zweitverwertungsbecken für Sanremo-Acts mit ESC-Interesse wird, dann würde ich das voll abfeiern. Und ich bin ja gespannt wie ein Flitzebogen, ob und wie die EBU versuchen wird, Achille in Turin zu bändigen! Für Deutschland wäre so ein Kandidat unvorstellbar.
Korrektur: Andrea Berg lebt in Aspach! Nicht in Asperg! Schande über mein Haupt!
@Gerd: Nur zur Info, die Wettquoten (ich hoffe, du meinst die von Eurovisionworld) beziehen sich auf die Siegeswahrscheinlichkeit und nicht auf das genrelle Abschneiden der Länder. Und da muss man immer auf die Prozentwerte achten. Beispiel: Deutschland auf 20 mit 1% Siegeschance, das UK dagegen auf der 12. Hier aber auch nur mit 2% Siegeschance. Mir ist auch ein Rätsel, warum die baltischen Länder, deren Beiträge eigentlich relativ gut aufgenommen wurden und auch bei mir geschlossen auf den ersten drei Plätzen stehen so weit unten in den Wetten gelistet sind.
Tolle Wahl San Marino!
Ich hätte nie gedacht Achille Lauro jemals beim ESC zu sehen.
Und der Song passt zu ihm und als Bandleader macht er auch eine gute Figur.
Ich freu mich so auf seine Turin-Auftritte, die werden hoffentlich ähnlich spektakulär wie seine Auftritte 2020 in Sanremo mit “me ne frego”
@Gerd: zu den Odds: Zwischen den deutschen Nummern und der von Achille liegen ESC-technisch Welten. Mich wundert eher, das manch andere Länder Wie z.B Albanien, Tschechien und Moldavien noch hinter Deutschland sind. Aber es fehlen ja immer noch die Hälfte der Songs, von daher ist da alles noch sehr im Fluss
@Zwelfbungt: ich schaue immer bei oddchecker nach, aber das Prinzip ist ja das gleiche. Ist mir auch klar, dass es um Siegchancen geht. Vielleicht sollte man das auch abwarten und schauen was nach dem 4. März passiert.
@Thomas O.: mit dem ESC-technischen Welten sollte man aber nicht verallgemeinern. Es ist ja ein Song Contest und mMn ist “Stripper” ein recht einfach gestricktes Musikstück, das kaum musikalische Höhepunkte vorweist. Und wie schon beschrieben, wenn sich Achille nur auf seine gewollten Provokationen konzentriert ist das für mich auch kein Ohrenschmaus, da er selbst bei diesem recht anspruchslosen Song mehr als die Hälfte der Töne versemmelt. Für Dich anscheinend nicht wichtig, für mich schon. Wo ich Dir recht gebe, aufgrund des Polarisations-Potentials erklärt sich, dass San Marino in den Wetten höher eingestuft wird als Deutschland, und das hat der Song allemal.
Ob nun die Show oder der Song,auf jeden Fall ein weiteres Highlight im ESC 2022.
In früheren Jahren fiel es schwer,meine Top 5 zusammen zu bekommen,dieses Jahr herrscht dort jetzt schon Gedränge!
Nicht der beste Song, aber genial, dass er dabei ist. Eine Bereicherung für jede Bühne