Tja, liebes Eurovisionsteam des NDR. Falls euch der seit der Bekanntgabe der sechs möglichen deutschen Eurovisionsbeiträge am Donnerstagmittag tsunamiartig über euch hereingebrochene, hochgradig berechtigte Shitstorm und die einhellige Kritik in den Medien doch zum Nachdenken bringen sollte, wie man es künftig besser machen könnte (und ich weiß, das wird natürlich nicht geschehen): vielleicht wollt ihr ja mal Kontakt mit Euren Kolleg:innen in Kiew aufnehmen. Dort legte nämlich der chronisch unterfinanzierte öffentlich-rechtliche Sender PBC:UA des krisen- und kriegsgeschüttelten Landes, welches just zur Stunde (mal wieder) vor einem zu befürchtenden Einmarsch der russischen Armee steht, gestern Abend einen Vorentscheid hin, auf den wir Fans aus der reichsten und sichersten Nation Europas nur neid- und schamvoll blicken können. Acht Acts hatte man in Kiew aufgeboten, die eine weite musikalische Bandbreite abdeckten und dabei das Kunststück vollbrachten, dass jeder von ihnen als künstlerisch eigenständig und gleichzeitig als repräsentativ für die ukrainische Popkultur wahrzunehmen war. Nur im Dudelfunk könnte man sie vermutlich nicht spielen.
Abgehoben: wenn Kateryna noch weiter abmagert, tragen die Vögel sie tatsächlich irgendwann einfach fort.
Mit der Einladung der Vorjahresvertreter:innen Go_A, die den Abend mit ihrem fantastischen Beitrag ‘Shum’ eröffneten und deren anbetungswürdige Frontfrau Kateryna in einem scheinbar von fliegenden Krähen gehaltenen Kleid neue modische Standards setzte, legte sich der Sender die Messlatte selbst so hoch wie nur irgend möglich. Und stolperte dann über einen technischen Faux-Pas: gleich zweifach blieb beim Auftritt der eigentlich aus dem Elektro-Bereich stammenden, hier mit dem düster-optimistischen ‘All be alright’ jedoch einen soliden Rocktitel hinlegenden Quartetts Cloudless mitten im Song kurz das Backing Tape hängen. Auch mit den Hörschnecken, die der blondierte Frontmann schließlich entnervt aus den Ohren pulte, gab es Probleme. Fairerweise durften sie im Anschluss an das restliche Bewerber:innenfeld noch ein zweites Mal performen. Von seinen ‘Demons’ berichtete der automatisch Schutzinstinkte auslösende, ausgesprochen androgyne, gebürtige Weißrusse Michael Soul, der in seiner Heimat bereits mehrfach beim Vorentscheid antrat, mittlerweile aber in die liberalere Ukraine zog, wo er eher “er selbst sein kann”, wie ihn Masha Efrosinina anmoderierte. Was sich hier beispielsweise darin manifestierte, dass er sich beim Make-up keinerlei Zurückhaltung auferlegte.
Feuer brennt nicht nur im Kamin: Cloudless (plus Playlist mit allen Vidbir-Beiträgen in Startreihenfolge).
Die Indieband Our Atlantic widmete sich in ‘Moya Lyubov’ (‘Meine Liebe’) dem bedrückenden Thema des Missbrauchs, wozu ihr eher fröhlich-verspielter Funk nicht so recht passen wollte. Überraschend stammt Oleksandr Barleben nicht aus der gleichnamigen sachsen-anhaltinischen Zehntausend-Seele-Gemeinde nahe Magdeburg, sondern aus der Oblast Schytomyr nahe Kiew. Er ersetzte den ursprünglich vorgesehenen Vidbir-Rückkehrer Laud, dessen Beitrag ‘Head under Water’ von seinem Komponisten bereits 2018 auf seinem Youtube-Channel gepostet wurde und disqualifiziert werden musste. Ups! Barlebens sanfte Jazzballade ‘Hear my Words’ erwies sich jedoch als vielleicht ein wenig zu intim, um Gehör zu finden. Eine extraordinär gute und extrem tanzbare weibliche Selbstermächtigungshymne lieferte die ehemalige The-Voice-Teilnehmerin Roxolana Syrota ab. Sie verband in ihrem abwechslungsreichen Club-Banger ‘Girlzzzz’ upliftende Utz-utz-utz-Beats mit einer supereingängigen englischen Hookline, ukrainischen Strophen, einer stellenweise traditionalistischen Gesangsführung, einer exquisiten Tanzchoreografie sowie einer sehr beeindruckenden Mikrofonständer-Dekoration zu einem unwiderstehlichen und außergewöhnlichen audiovisuellen Gesamtpaket.
Roxolana ging dem Chauvinismus proktologisch auf den Grund.
Neben dem bereits bei früheren Vidbir-Ausgaben virulenten, ausufernden Redebedarf der dreiköpfigen und zu 50% entscheidungsberechtigen Jury, in welcher sich neben der heimischen Eurovisionslegende Tina Karol auch erneut die in dieser Funktion berüchtigte Jamala einfand, ging ein großer Teil der Sendezeit für die Vorstellungsvideos der acht Teilnehmer:innen drauf, die gefühlt drei Mal so lange dauerten wie das eigentliche Lied und einen irgendwann nervten. Außer bei dem Kunststudenten und X‑Factor-Teilnehmer Anton Velboi alias Wellboy, von dem ich mir aus purer Faszination an seinem hochkreativen Farmjungen-Style locker noch eine halbe Stunde lang weiteres Footage-Material hätte anschauen können. Bei der Vidbir trat er in einem bunten Hemd mit einer gigantischen Stoff-Sonnenblume am Revers auf, und man wusste nicht recht: will er die ukrainischen Grünen gründen oder den Moderator gleich zum Spaß mit Wasser bespritzen? In seinem zweisprachigen Beitrag ‘Nozzy Bossy’ erzählte er zu einem Hip-Hop-Beat von den erdenden Freuden des Barfußlaufens und der Wichtigkeit, sich mit seinen ländlichen Wurzeln zu verbinden.
Muss vielleicht noch ein bisschen gegossen werden: der Wellboy.
Sieger im Televoting (und beim hiesigen Blogbetreiber) wurde das Kalush Orchestra, das hervorragend dargebotenen Rap mit einer ausgefallenen folkloristischen Instrumentierung verknüpfte. Zu der fünfköpfigen Hip-Hop-Formation gehört nämlich auch der Sopilka-Spieler Igor Didenchuk, der mit nämlicher traditioneller Flöte bereits die Go_A-Songs ‘Solovey’ und ‘Shum’ veredelte. Sowie der Rapper Oleg Psiuk, der mit seinem handgestrickten pinkfarbenen Schädelwärmer nicht nur einen herausragenden Mützengeschmack unter Beweis stellte, sondern den von ihm getexteten Beitrag ‘Stefania’ der wichtigsten Frau im Leben eines harten Kerles widmete, nämlich seiner Mutter. Ja, genau, jener live im Studio anwesenden, blonden Dame im babyblauen Flokatipelz, welche die Darbietung mit versteinerter Miene verfolgte und dabei die Herzen der Twittergemeinde im Sturm eroberte. Auch Jurorin Jamala ging zu der Nummer auf ihrem Sessel ab wie ein Zäpfchen. Allerdings entscheid sich das Wertungsgremium dann für eine andere Spitzenreiterin, die auch im Saal den tosendsten Applaus einsammelte.
Die äußerlich härtesten Jungs sind meistens die größten Muttersöhnchen, und das meine ich als Lob: das Kalush Orchestra.
Was wenig verwundert. In ihrem hart folkloristischen Stück ‘Tini zabutykh predkiv’ (‘Schatten der vergessenen Vorfahren’), das mit – intimen Kenner:innen dieses Blogs noch von der Türkvizyon bekannten – tuwinischen Kehlgesang, also dem Nachahmen von Vogelstimmen, eröffnete und schloss, beschäftigte sich die ehemalige X‑Factor-Teilnehmerin Alina Pash mit der mystischen, kulturellen und politischen Geschichte der Ukraine durch die Jahrhunderte. Ihr Songtitel bezieht sich auf einen Film aus dem Jahre 1965, der im Lande Berühmtheit erlangte, weil er sich in Zeiten kultureller Repression vieler nationaler Traditionen und Kostüme bediente. In einem schon beängstigend intensiv vorgetragenen Sprechpart wiederum zitierte Alina den italienischen Dichter Dante und seine ‘Göttliche Komödie’, die – wohl bezogen auf die aktuelle Situation ihres Landes – derzeit ‘Göttliche Tragödie’ heißen müsse, so die Interpretin. Auch in der Instrumentierung, der Inszenierung (am Schluss blendete man auf dem Backdrop die Umrisse der Ukraine ein, inklusive der Krim) wie der Kostümierung drehte Alina die kulturelle Rückbesinnung auf Zwölf: ein eindringlicher Appell an Frieden und Einigkeit in dem politisch tief gespaltenen Land, der natürlich angesichts der großpolitischen Lage um so mehr an Bedeutung gewinnt.
Versteckt in ihrem Kopfputz unauffällig zwei Raketenabwehrsysteme: Alina ist für alle Fälle vorbereitet.
Wie schwierig es um diese Einigkeit bestellt ist, illustrierten umgehend nach ihrer Akklamation in den sozialen Medien verbreitete Gerüchte über angebliche Verbindungen Alinas mit Russland und Vorwürfe der mangelnden Vaterlandstreue. Dass der Sender bei der Bekanntgabe der Televoting-Ergebnisse keine Grafik einblendete und den dortigen Sieg des Kalush-Orchesters dezent unter den Tisch fallen ließ, schürte zudem den in der Ukraine seit der Erstteilnahme des Landes am Eurovision Song Contest gewissermaßen fest zur Vorentscheidungsfolklore gehörenden Verdacht der Schiebung. In welchen dann auch die Zweitplatzierten einstimmten: wie escbubble berichtete, bezichtigt der Kalush-Rapper Oleg Psiuk den Sender des Betrugs. Als man noch am Abend die Karte mit den Resultaten einsehen wollte, habe man ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen durch einen Security-Mann zugehalten. “Als man die Tür wieder öffnete, sind alle davongerannt,” so Oleg. Nun wolle er auf Herausgabe der detaillierten Ergebnisse klagen. Was sich allerdings wenige Tage später von selbst erledigte: da stellte sich nämlich heraus, dass “ein Teammitglied” von Alina womöglich gefälschte Nachweise hinsichtlich einer strittigen Einreise der Sängerin auf die okkupierte Krim vorgelegt habe.
Vier Stunden Programm bestritt das ukrainische Fernsehen mit nur acht Beiträgen. Dagegen nimmt sich selbst das San-Remo-Festival als hektischer Schnelldurchlauf aus.
Mit denen sollte belegt werden, dass Frau Pash die ehemalige ukrainische Halbinsel auf dem Landweg erreicht habe und nicht von Russland aus mit dem feindlichen Flieger. Was von der Regierung in Kiew als Landesverrat betrachtet wird, wie wir uns noch vom unsäglichen Juliagate erinnern. Alina zog daraufhin ihre Teilnahme rasch von sich aus zurück, bevor der Sender sie offiziell canceln konnte. Der bot nun stattdessen dem Kalush Orchestra an, nach Turin zu reisen, und die Formation sagte zu. Es geht in der Ukraine aber auch einfach nicht ohne das ganz große Drama, und ich liebe das Land dafür!
Vorentscheid UA 2022
Vidbir. Samstag, 12. Februar 2022, aus dem NAU Center für Kultur und Kunst in Kiew. Acht Teilnehmer:innen. Moderation: Timur Miroshnychenko und Masha Efrosinina. Dreiköpfige Jury (50%), Televoting (50%).# | Interpreten | Songtitel | Jury | Televote | Platz |
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01 | Cloudless | All be alright | 01 | 04 | 07 |
02 | Michael Soul | Demons | 02 | 01 | 08 |
03 | Our Atlantic | Moia Liubov | 05 | 02 | 05 |
04 | Barleben | Hear my Words | 04 | 03 | 06 |
05 | Kalush Orchestra | Stefania | 06 | 08 | 02 |
06 | Roxolana | Girlzzzz | 03 | 05 | 04 |
07 | Wellboy | Nozzy Bossy | 07 | 06 | 03 |
08 | Alina Pash | Tini Zabutykh Predkiv | 08 | 07 | 01 |
Letzte Aktualisierung: 18.02.2022
Das ESC-Finale dürfte für die Ukraine gesetzt sein, aber wie weit wird Alina dort kommen?
- Für die Top Ten reicht das auf jeden Fall, aber für einen Sieg ist das zu düster und kompliziert. Außerdem: Sprechgesang! (38%, 16 Votes)
- Ich verstehe den Hype nicht, ich sehe das noch nicht mal sicher im Finale. (24%, 10 Votes)
- Der Beitrag ist dermaßen überzeugend, es könnte 2022 wieder nach Kiew gehen. (19%, 8 Votes)
- Einen erneuten Eurovisionssieg werden die Jurys verhindern, den könnte die EBU angesichts der aktuellen Lage gar nicht verantworten. (19%, 8 Votes)
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Ukraine 2023 >
Guten Morgen aus Offenbach !
Der Hausherr hat bereits die Vielfalt es ukrainischen Vorentscheides erwähnt und daß der NDR diesbezüglich sich in einem Paralleluniversum befindet.
Alina Pash ist natürlich eine sehr gute Wahl für Turin. Ich persönlich muß ich in dieses Epos noch ein “reinhören”, die Tiergeräusche und der abgehakten gesprochene Teil sind ziemlich gewöhnungsbedürftig. Aber sicherlich auf den Punkt gebracht, wenn man sich die derzeitige weltpolitische Lage ansieht. Ich rechne indes weniger mit “Mitleidspunkten”, sondern es könnte die musikalische Qualität einfach geschätzt werden.
Reicht bei mir nicht für den zweistelligen Bereich, aber eine 9/12 werte ich gerne und ist derzeit nach Italien und Litauen mein dritter Platz.
Wieder mal eine hervorragende VE aus Ukraine. Würdige Siegerin, angesichts der Lage auch klar. Russland wird wegen des Textes sicher rumjammern, aber hoffentlich wird es endlich disqualifiziert. Persönlich finde ich “Stefania” noch einen Ticken besser, läuft bei mir seit gestern Abend auf Dauerschleife, absolut hypnotisch
Kalush ist so ne geile Nummer, hat was von Shum und dem genialen Movimento (VE Portugal 2020)
Platz 6 bei den Juries, ich lach mal kurz…
Der Siegersong ist aber auch eine Gänsehaut Nummer, wobei mich der national angehauchte Pathos darin wieder etwas nervös macht.
Schade, zurückgezogen! Bin mal gespannt, wie es jetzt mit der ukrainischen Teilnahme weitergehen wird, da es ja gegen ein Mitglied des Kalush Orchestra ähnliche Vorwürfe gibt.