Wie musikalische Diversität geht (looking at you, NDR) und wie man auch in dunklen Zeiten eine glanzvolle Vorentscheidung gestaltet (also looking at you, NDR), bewies am gestrigen Samstag der Sender France 2 mit der Neuauflage seines Formats C’est vous qui décidez (etwas unglücklicher Hashtag in Zeiten der Seuche: CVQD). Auch diese Show stand im Zeichen des Kriegs gegen die Ukraine, und das manifestierte sich bereits beim Einlauf der zwölf Kandidat:innen zu den Klängen von Zlata Ogenichs ‘Pray for Ukraine’ sowie an späterer Stelle bei einer voraufgezeichneten Dankesbotschaft der allgegenwärtigen Jamala. Und fraglos am herzergreifendsten vor der Verkündigung der Ergebnisse des Televotings in der ersten von zwei Abstimmungsrunden, als alle Kombattant:innen sich zu einer tränenschönen, gemeinsamen Rendition von John Lennons unsterblichem Friedensliedklassiker ‘Imagine’ auf der Bühne zusammenfanden. Überhaupt: die länderübergreifend inszenierte Solidarität mit der Ukraine bei den verschiedensten nationalen Vorentscheidungen zum offiziell immer noch unpolitischen Eurovision Song Contest an diesem Wochenende manifestierte aufs Schönste den Grundgedanken der heute unverzichtbarer und hoffnungsspendender denn je seienden TV-Show als friedliches Fest der Völker. Dafür danke!
https://youtu.be/Noe2_c5Sc3U
Eine klitzekleine Ironie steckt schon darin, beim Vorentscheid zu einem Nationenwettbewerb die Liedzeile “Imagine there’s no Countries” anzustimmen. Aber schön war’s dennoch!
Schön auch, den Schweizer Repräsentanten Gjon’s Tears, in Rotterdam noch einer der härtesten Konkurrenten der selbstverständlich mit stehenden Ovationen als Stargast im Studio empfangenen Barbara Pravi, in der zehnköpfigen Jury sitzen zu sehen, die wohlmeinende, aber nicht maßlos lobhudelnde Kommentare abgab. Hier könnte der NDR von France 2 noch viel lernen: auch in Paris mussten sich die Interpret:innen nach ihren Auftritten einem Kurzinterview mit der Moderatorin Laurence Boccolini und der Jurybeurteilung stellen. Beides erfolgte aber gewissermaßen auf gleicher Augenhöhe, auf Erwachsenenniveau. Ganz anders als bei Germany 12 Points, wo man das Gefühl hatte, die Tante Babsi und der Onkel Thomas sagen jetzt mal was Tröstendes, damit die kleine Emily nicht heult. Zu einem lustigen Miniatur-Eklat kam es, als die schon etwas lebensältere Jurorin Nicoletta den Beitrag ‘Ma Famille’ des auf der Überseeinsel La Reunion geborenen Schwarzen Sängers Cyprien Zeni (The Voice 2020) kritisierte, weil ihr in diesem die Melodie fehle. Woraufhin die ebenfalls Schwarze Jurykollegin Yseult Agustin sich aus ihrem Stuhl und die Stimme erhob: “I disagree”! Sie animierte gar das Studiopublikum, zum Gegenbeweis den Refrain von ‘Ma Famille’ zu summen, während sie sich mit Nicoletta respektvoll weiterstritt. Übrigens ganz ohne dass jemand panisch einschritt.
https://youtu.be/ER3lyl-f410
Little Brother, can I help somehow? Die Geschwister Soa.
Zu den großen Fan-Favoriten im Vorfeld zählte das auf Madagaskar geborene Geschwisterduo Ludy und Nathan Soa mit dem nach eigenen Angaben innerhalb von anderthalb Tagen gemeinschaftlich geschriebenen ‘Seule’, das einen bewegenden Text über das bohrende Gefühl der Einsamkeit mit einer optimistischen Botschaft der Hoffnung und upliftenden Beats verbindet. Die Zwei tanzten das im dunklen Onsie auch noch sehr überzeugend vor. Klasse Nummer! Der aus Lille stammende, gelernte Zahnarzt (das verbindet ihn neben seinem guten Aussehen mit Amir Haddad) und Singer-Songwriter Saam überzeugte eher durch sein strahlendes Lächeln als seinen Song ‘Il est où?’, der mit lauter luftballonhaltenden Zirkusmenschen für meinen Geschmack zudem ein bisschen zu tingeltangelhaft inszeniert war. Er schied ebenso bereits in der ersten Runde aus wie die junge Sängerin Elia, eine von insgesamt acht (!) CVQD-Teilnehmenden, die augenscheinlich zu arm sind für einen eigenen Nachnamen. Oder aber zu größenwahnsinnig: die unfassbare Impertinenz, anzunehmen, man sei unter Unmengen von Menschen mit dem gleichen Vornamen die Einzige, die es zu internationalem Ruhm schaffen wird, bringt mich auf die Palme. Nein, Mädchen, du bist nicht Madonna!
https://youtu.be/oAbNiBz_eMY
Identifizierte sich als Angehörige der Generation Mobiltelefon: Elia.
Auch, wenn ich Elia zugestehen will, dass ihr kontemporärer Popsong wirklich überzeugte und ich nicht verstehen kann, weswegen sie rausflog. Zumal das Publikum an ihrer Stelle das Castingshowbübchen Elliott (Schmitt) weiterwählte, einen Bleichling mit Windspoilerfrisur (erste rote Flagge!), der seine winselige Midtempoballade ‘La Tempête’ eigens für den Grand Prix komponierte (zweite rote Flagge!) und an einem brennenden Klavier darbot (dritte rote Flagge!). Eine weitere, eher verzichtbare Klavierballade steuerte der hagere Marius (Niolett) mit den ‘Chansons d’Amour’ bei, die er in einer mit allerlei Strassketten behangenen Jacke sehr intim und zerbrechlich intonierte. Einen hübschen Kontrast zu diesem jugendlichen Schwermut und einen unvergesslichen Show-Höhepunkt setzte die erkennbar schon ein paar Jährchen ältere Hélène Benhamou alias Hélène in Paris mit ihrem hoffnungslos altmodischen Jazz-Swinger ‘Paris mon Amour’. Die in Casablance Geborene, die im Verlaufe ihres langen und bewegten Lebens in Paris, London, Los Angeles und New York lebte, kann diesen Auftritt nun zu ihrem bisherigen Werdegang als Innendesignerin mit eigener Verkaufsshow auf dem Home Shopping Network hinzufügen. Respekt!
https://youtu.be/u‑VGFZibkhE
Hat offenbar einen besseren Gesichtsstuckateur als ihr deutscher Kollege Harald Glööckler: Hélène.
Mehr von der Verwechselbare-Ein-Namen-Front: während eine gewisse Joan mit ‘Madame’ eine überflüssige und deutlich zu wortreiche Femmage an die großen Leinwandheldinnen der Schwarzweißzeit darbot, steuerte die Cher-beperrückte Joanna (“geboren, um Liebe zu geben”, wie mein schlagerverseuchtes Hirn bei Nennung dieses Namens zwanghaft stets ergänzt) mit ihrer Freiheitshymne ‘Navigateure’ einen deutlich zeitgemäßeren, tanzbaren Titel bei. Der verblasste allerdings im Vergleich zu dem deutlich eindrucksvolleren ‘Nuit Pauline’ der Musikerin und Schauspielerin Pauline Chagne. Die unternahm mit dem selbstbezüglich-feministischen, musikalisch ein wenig an die Hochphase des frankophilen Dahinhauch-Pops von Vanessa Paradis und Konsorten erinnernden Beitrag nämlich den nach der bayerischen Vorreiterin MarieMarie (‘Cotton Candy Hurricane’) zweiten Versuch, im Eurovisionsumfeld die Disco-Harfe zu etablieren! Ein Instrument, von dem wir bis zum deutschen Vorentscheid 2014 und dann wieder bis gestern nicht wussten, dass wir es unbedingt brauchen. Nun aber um so mehr! Dass es für Pauline schließlich nur zum Silbermedaillenplatz reichte, dürfte wohl auch der vermutlich als Jury-Katzenminze gedachten hohen Note zu verdanken sein, die sie leider krächzig versemmelte.
https://youtu.be/l8Ar6vqZwC8
“Nuit, John-Boy! Nuit, Pauline!”.
Es gewann mit Höchstwertung sowohl der zehn Juror:innen als auch im Televoting das bereits vor dem ersten Ton vom Saalpublikum frenetisch johlend begrüßte ‘Fulenn’. Ein außergewöhnlicher Titel, weil er bretonische Musiktraditionen und Sprache sowie düstere Elektrosounds miteinander verbindet. Dabei spinnen die drei Frauen von Ahez in ihrem von nur noch 200.000 Menschen gesprochenen keltischen Dialekt eine althergebrachten Traditionen widersprechende, feministisch gefärbte Geschichte von einem rund um die Flammen wild tanzenden Mädchen, während der Musikproduzent Alexis Morvan-Rosius alias Alvan hauptsächlich die brettharten Beats, aber auch ein paar Zeilen kernig-virilen Gesang beisteuert. Dabei sprach der großgewachsene Techno-DJ bis vor ein paar Monaten noch kein Wort bretonisch, traf dann aber an einer Festivalbar auf Marine Lavigne, die ihm von ihrem Trio Ahez berichtete. “Die Idee waberte schon länger durch meinen Kopf,” erzählte Alvan in einem Interview, “ich hatte sogar schon eine fertige Produktion”. Die erinnert im besten Sinne ein bisschen an Go_As ‘Shum’, aber auch Vergleiche zu den Tanxugueiras liegen auf der Hand, den beim spanischen Benidorm-Fest am Wertungssystem gescheiterten galizischen Fan-Favoritinnen. Diese mutige Wahl dürfte in Turin jedenfalls für Aufsehen sorgen!
Noch nicht einmal die verwünschte ‘That sounds good to me’-Showtreppe kann die Wucht dieses Auftritts mildern: Alvan & Ahez.
Vorentscheid FR 2022
C’est vous qui décidez. Samstag, 5. März 2022, aus dem France 2‑Studio, Paris. 12 Teilnehmer:innen. Moderation: Stéphane Bern und Laurence Boccolini. Televoting plus Superfinale mit 50% Jury und 50% Televoting# | Interpreten | Songtitel | Televoting | Jury | Televoting | Platz |
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01 | Soa | Seule | Q | 060 | 080 | 03 |
02 | Joan | Madame | x | - | - | n.b. |
03 | Saam | Il est où? | x | - | - | n.b. |
04 | Elia | Téléphone | x | - | - | n.b. |
05 | Marius Niollet | Les Chansons d’Amour | Q | 080 | 040 | 04 |
06 | Hélène in Paris | Paris mon Amour | x | - | - | n.b. |
07 | Joanna Fouquet | Navigateure | x | - | - | n.b. |
08 | Alvan + Ahez | Fulenn | Q | 102 | 120 | 01 |
09 | Julia Fiquet | Chut | x | - | - | n.b. |
10 | Cyprien Zeni | Ma Famille | (Jury) | 074 | 020 | 05 |
11 | Pauline Chagne | Nuit Pauline | Q | 072 | 100 | 02 |
12 | Elliott Schmitt | La Tempête | Q | 032 | 060 | 06 |
Qu’est-ce que tu pense? Können Alvin & die Chipmunks Barbara Pravi das Evian reichen?
- Was den Wagemut und das potentielle Ergebnis angehen, unbedingt. ‘Fulenn’ spielt um den Sieg mit. (66%, 51 Votes)
- Die Nummer kann was und ich applaudiere ihr, aber kein Vergleich gegen meine Barbara. Trotzdem: bravo! (17%, 13 Votes)
- Ich kapiere den Hype nicht. Das ist nur Lärm, den niemand versteht. Zurück ins 20-plus-Jammertal für Frankreich. (10%, 8 Votes)
- Ich trauere noch um ‘Seule’. Frag mich später noch mal. (6%, 5 Votes)
Total Voters: 77
< C’est vous qui décidez 2021
C’est vous qui décidez 2023 >
Und auch dieses Jahr stellt Frankreich (voraussichtlich) wieder meinen Lieblingstitel des Jahrgangs, noch dazu ist dieser komplett anders als der des Vorjahres.
Könnte sein, dass sich auch heuer Fankreich und Italien wieder um den 1. und 2. Platz streiten…
Leider haben viele beim Vorentscheid dieses Jahr stimmlich etwas geschwächelt, sogar der bildhübsche Alvan, aber vor allem (leider) Saam mit seinem eigentlich schönen Lied, das aber ein arger Abklatsch von “Voilá” ist. Und warum ist das etwas steife Tuckelchen Marius mit Leim bestrichen durch einen Kronleuchter gerobbt?
Und Elliot, das Gruselmonster konnte gar nix, warum ist der denn nicht einen Tag vorher in Berlin dabei gewesen?
Ja es wäre schon gerechtfertigt wenn die ersten beiden Plätze wie 2021 belegt würden.Und auch die UKR läge in meiner Charts wieder weit vorne wenn “Imagine” nicht dagegen sprechen würde.
Den Song-Krieg würde J.Lennon ja noch durchgehen lassen.Doch beim ukrainischen Song besteht die Gefahr dass er als Anfeuerung für den realen Krieg missverstanden wird.