Per­len der Vor­ent­schei­dun­gen: Mein Hum­mus brennt

Lus­tig: erst lamen­tier­ten die deut­schen Fans, als die ARD bekannt gab, den an die­sem Frei­tag statt­fin­den­den Vor­ent­scheid Ger­ma­ny 12 Points die­ses Jahr “nur” in allen Drit­ten (und auf One) aus­zu­strah­len. Nun, da man im Zei­chen des Kriegs ent­schied, die Show auf­grund einer kurz­fris­tig ein­ge­scho­be­nen Soli­da­ri­täts­sen­dung mit der Ukrai­ne auf 21 Uhr zu ver­le­gen, dafür jedoch zusätz­lich auch im Ers­ten zu sen­den, jam­mern schon wie­der etli­che. Denn damit sei auf­grund des Alters­durch­schnitts der dor­ti­gen Zuschauer:innen der Sieg des ein­zi­gen deutsch­spra­chi­gen Ange­bots, ‘Hal­lo Welt’ von Nico Sua­ve und dem Team Lie­be nicht mehr zu ver­hin­dern, zumal es sich um ein Frie­dens­kitsch­lied in der Tra­di­ti­on von Nico­le han­delt. Ja, wie hät­ten wir es denn nun ger­ne, Kin­der? Und ist es nicht total egal, mit wel­chem der sechs glei­cher­ma­ßen unge­eig­ne­ten poten­ti­el­len Wett­be­werbs­bei­trä­ge wir in Turin wie­der einen der letz­ten Plät­ze bele­gen? Wür­di­gen wir daher zum Aus­gleich lie­ber ein paar der schöns­ten Lie­der, die uns aller Vor­aus­sicht nach beim Rin­gen um die Rote Later­ne nicht mehr in die Que­re kom­men kön­nen, weil sie in den letz­ten Wochen in den Vor­run­den Euro­pas lei­der bereits aus­sor­tiert wurden.

Legt die Mess­lat­te für das The­ma “Trick­kleid” in uner­reich­ba­re Höhen: Haf­fi Haff (IS).

Wobei für Haf­fi Haff und sei­ne herr­lich schrä­ge Num­mer ‘Gia’ (‘Vul­kan’) noch ein Fun­ken Hoff­nung besteht, denn beim islän­di­schen Vor­ent­scheid Söng­va­kepp­nin, in des­sen ers­tem Semi er am ver­gan­ge­nen Sams­tag skan­da­lö­ser Wei­se her­aus­flog, gibt es noch eine Wild­card fürs Fina­le. Ob der als Haf­steinn Þór Guð­jóns­son in Reykja­vik gebo­re­ne, aber haupt­säch­lich in Seat­tle auf­ge­wach­se­ne, offen schwu­le Haf­fi, der uns bereits 2008 den fan­tas­ti­schen ‘Wiggle Wiggle Song’ schenk­te, die­se bekommt, ent­schei­det sich jedoch erst spä­ter. Ich kann es für den ver­ant­wort­li­chen Sen­der RÚV nur hof­fen, sonst sind wir für immer geschie­de­ne Leu­te! Denn grand­pri­x­es­ker könn­te die upt­em­po­rä­re, sinn­be­frei­te Spaß­num­mer und die vom Team Haff prä­sen­tier­te cam­pe Cho­reo­gra­fie samt schät­zungs­wei­se 30 Kla­mot­ten­wech­seln kaum sein. ‘Gia’ kon­den­siert exakt das, was ich vom Grand Prix will und wes­we­gen ich Fan die­ser Show bin: es sind drei Minu­ten hoch unter­halt­sa­mes, gla­mou­rö­ses Spek­ta­kel, beglei­tet von einem Sound­track, zu dem ich mir im Euro­club den Arsch abtan­zen möch­te, sobald man das gefahr­los wie­der machen kann. Er ist für mich die Essenz des Euro­vi­si­on Song Con­test. Und wenn die­ser Song nicht nach Turin reist, ist Island für mich gestorben.

Auf das Schla­ger­ur­ge­stein Lin­da Bengtzing ist Ver­lass: ein­mal wie immer, inklu­si­ve klo­bi­ger Rückung (SE).

Eine theo­re­ti­sche Chan­ce (hof­fent­lich nicht!) besteht auch noch für den am letz­ten Sams­tag im vier­ten Vier­tel­fi­na­le des Melo­di­fes­ti­valen in die (nun nicht mehr so genannt wer­den sol­len­de) Andra Chan­sen rele­gier­ten Song ‘Till our Days are over’ von Lil­la­sys­ter, den iTu­nes in die musi­ka­li­sche Kate­go­rie “Metal” ein­sor­tiert. Und der doch nichts ande­res dar­stellt als einen klas­si­schen Mel­lo-Schla­ger im Rock­ge­wand. So, wie beim schwe­di­schen Vor­ent­scheid nach dem Weg­gang des lang­jäh­ri­gen künst­le­ri­schen Lei­ters Chris­ter Björk­man ohne­hin kei­ner­lei Dis­rup­ti­on fest­zu­stel­len ist, son­dern wei­ter­hin Busi­ness as usu­al herrscht. Wes­we­gen die Sen­dung bei mir im hek­ti­schen Rin­gen um die Auf­merk­sam­keit an den Super­sams­ta­gen stets den Kür­ze­ren zieht. Wes­we­gen soll­te ich dort auch zuschau­en? Um einen fut­ti­gen Pope­ra-Schla­ger wie ‘La Stel­la’ von zwei schlei­mi­gen Yup­pie­ge­sich­tern namens Ten­ori (spei!) ertra­gen zu müs­sen? Eine halb­ga­re Coun­try­bal­la­de von der schein­bar nicht tot zu krie­gen­den Anna Ber­gen­dahl? Eine Woche wei­ter müs­sen wir gar zurück­ge­hen, um wenigs­tens mit den Namen ein biss­chen Spaß zu haben: zwar geht mir Lan­ce­lot Hed­mans ener­vie­rend fal­set­tier­te Jam­mer­bal­la­de ‘Lyke­ligt Slut’ (‘Glück­li­ches Ende’) musi­ka­lisch auf die Nüs­se. Dafür aber gefällt mir die sex­po­si­ti­ve Fal­se-Fri­end-Über­set­zung des Song­ti­tels, die jede:r von uns ganz auto­ma­tisch im Kopf hat. Ja, auch Du!

Müss­te allei­ne schon des­we­gen nach Turin, weil ihr Vor­na­me auf ita­lie­ni­sche “Schwän­ze” bedeu­tet und es zu und zu schön wäre, die Moderator:innen sie ansa­gen sehen zu kön­nen: Caz­zi Opeia (SE).

Immer­hin, das muss man den Schwe­den zuge­ste­hen: wie man ein musi­ka­li­sches Hun­de­häuf­chen hoch­glanz­po­liert, das wis­sen sie! Sei es der im zwei­ten Semi bunt prä­sen­tier­te Kin­der­ge­burts­tags-Bop ‘Tror du att jag bryr mig’ (‘Meinst du, es inter­es­siert mich?’) von Niel­lo und Lisa Ajax oder der eben­falls dort ver­klapp­te, auch unter neu­er Mel­lo-Lei­tung schein­bar wei­ter­hin jähr­lich fix vor­ge­schrie­be­ne Lati­no-Pop-Schla­ger, für den erneut der glat­te Schön­ling Alva­ro Est­rel­la sein Gesicht hin­hielt. ‘Sua­ve’ ver­sam­mel­te pflicht­ge­mäß sämt­li­che zum The­ma erwart­ba­ren pop­hand­werk­li­chen wie text­li­chen Kli­schees und reih­te sie ordent­lich wie an einer Per­len­ket­te auf. Prak­tisch wie es sei­ner­zeit bei uns Mar­quess taten, nur halt in feh­ler­frei­em Spa­nisch. Sei­ne gesell­schaft­li­che Libe­ra­li­tät unter­strich der Sen­der SVT schließ­lich mit der Nomi­nie­rung der trans­se­xu­el­len Sän­ge­rin Tone Seke­li­us. Die steu­er­te mit dem Mid­tem­po-Pop­ti­tel ‘My Way’ den in sol­chen Fäl­len still­schwei­gend vor­ge­schrie­be­nen, aus der eige­nen Geschich­te schöp­fen­den Torch­song bei, tat dies jedoch mit sehr viel damen­haf­tem Anmut, einem Trick­kleid und – im Gegen­satz zu ihrer schon vor einem Vier­tel­jahr­hun­dert den Weg ebnen­den israe­li­schen Kol­le­gin Dana Inter­na­tio­nal – mit siche­rer Stimm­kraft. Aber halt lei­der auch mit dem lang­wei­li­ge­ren Lied.

Hin­fort mit dem lan­gen Man­tel, schließ­lich steht der Früh­ling vor der Tür: Tone Seke­li­us (SE).

Auch schon wie­der fast drei Wochen zurück liegt das Halb­fi­na­le des rumä­ni­schen Vor­ent­scheids Sel­ecția Națio­nală, bei dem eine allei­ne stimm­be­rech­tig­te fünf­köp­fi­ge Jury unter zwan­zig bereits vor­aus­ge­sieb­ten Kandidat:innen zehn für das Fina­le am kom­men­den Sams­tag aus­wähl­te. Und dabei alle Erfolg ver­spre­chen­den Bei­trä­ge gna­den­los raus­warf. Wobei man den Juror:innen im Fal­le des cam­pen Dis­co­schla­gers ‘Do Svi­dany­ja’ von Aris sogar noch sehe­ri­sche Fähig­kei­ten zuge­ste­hen mag. Denn der mit aller­lei Rus­sen­kli­schees spie­len­de, selbst für die Sän­ge­rin offen­bar zu abrupt enden­de, auf­grund Aris’ ver­wa­sche­ner Aus­spra­che (“You ate a Rus­si­an Spy”) unfrei­wil­lig lus­ti­ge sowie von einer tadel­lo­sen Cho­reo­gra­fie beglei­te­te Ban­ger wäre seit dem Ein­marsch von Putins Trup­pen in der Ukrai­ne ohne­hin im Wett­be­werb nicht mehr vor­stell­bar. Der Jury-Bann traf außer­dem den frü­he­ren hei­mi­schen Euro­vi­si­ons­re­prä­sen­tan­ten und Coun­ter­te­nor Cezar Oua­tu, der dies­mal nicht als glit­zern­der Tam­pon-Vam­pir antrat, son­dern in einer Art auf­ge­styl­tem Jog­ging­an­zug. Und, beglei­tet von einem männ­li­chen Engels­chor, einen extrem zähen Pope­ra-Rie­men zum Bes­ten gab. Sein Feh­ler: er fiel erst im Schluss­re­frain in sei­ne cha­rak­te­ris­ti­sche Kas­tra­ten­stim­me zurück und into­nier­te den Rest mit männ­lich-tie­fem Ton. Langweilig!

Aris: Wie­so ließ der bezopf­te Tän­zer links außen als ein­zi­ger die gan­zen drei Minu­ten sein Sak­ko zuge­knöpft? Fett sah er doch auch nicht aus! (RO)

Bass erstaunt jedoch das Aus für die bereits in Wacken auf­ge­tre­te­ne Folk-Metal-For­ma­ti­on E‑an-na, die im eth­nostar­ken ‘Male­re’ das Akkor­de­on mit har­ten Rock­gi­tar­ren und cha­rak­te­ris­tisch folk­lo­ris­ti­schen Gesän­gen zu einem extrem span­nen­den Gesamt­kunst­werk ver­schränk­te. Zwar hat­te die Jury den Titel bereits im Vor­feld aus den über 90 ein­ge­gan­ge­nen Vor­schlä­gen (davon ein nicht uner­heb­li­cher Anteil aus der Feder der schwe­di­schen Seri­en­schrei­be­rin­nen­schwes­tern Ylva und Lin­da Pers­son) aus­sor­tiert. Der Sen­der TVR nomi­nier­te ihn jedoch für die ers­te Aus­wahl­run­de Anfang Febru­ar 2022 nach, wo ihn die im dor­ti­gen Online-Voting allei­ne abstim­mungs­be­rech­tig­ten Fans wei­ter­vo­te­ten. Die dar­über augen­schein­lich bis ins Mark ihrer pro­fes­sio­nel­len Berufs­eh­re belei­dig­ten Fünf von der Bevor­mun­dungs­front reagier­ten bockig und stell­ten sich nun erst recht gegen den klar erkenn­ba­ren Wil­len des Sen­der wie des Publi­kums. Wann wer­den die Euro­vi­si­ons­ver­ant­wort­li­chen in den Län­dern end­lich begrei­fen, dass es nie eine gute Idee ist, ein der­ar­tig klei­nes Häuf­chen von Han­seln mit einer der­art opu­len­ten Macht­fül­le aus­zu­stat­ten? Außer natür­lich, man will mit Gewalt im Semi­fi­na­le des Euro­vi­si­on Song Con­test aus­schei­den oder auf kei­nen Fall in die Gefahr kom­men, den Wett­be­werb nächs­tes Jahr selbst aus­tra­gen zu müs­sen (loo­king at you, NDR).

Da kann man schon mal die Faust bal­len: E‑an-na hat­ten kei­ne Chan­ce gegen die Jury (RO). Trotz Dino!

Der Dau­men senk­te sich zudem über der blon­den Bob­fris­ur­trä­ge­rin Eli­sa Gaiot­to ali­as Eli­za G und ihrer haupt­säch­lich auf Ita­lie­nisch vor­ge­tra­ge­nen Patent­bal­la­de ‘The other Half of me’. Sowie über der Ein­hei­mi­schen Euge­nia Nico­lae (eigent­lich: Niţu) und ihrem mit Nasen­flö­te und Hack­brett auf­war­ten­den, lei­der nicht so recht aus dem Quark kom­men­den Eth­no-Pop-Stück ‘Doi­na’. Dem ver­damm­ten Virus hin­ge­gen ver­dan­ken wir das unfrei­wil­li­ge Aus­schei­den von Fabi­an Fer­ra­ra ali­as Fabi und sei­nes schaum­ge­brems­ten Ober­schen­kel­mit­wip­pers ‘That Way’. Scha­de ist es um den bereits in der Vor­run­de raus­ge­flo­ge­nen Eth­no-Stamp­fer ‘Mir­uni­ca’ von Letiţia Moi­ses­cu, die nicht nur einen inter­es­san­ten Kopf­schmuck in der Form eines D‑Cup-Büs­ten­hal­ters mit ange­näh­ten, hüft­lan­gen Tas­seln aus uni­far­be­nen Stoff­bah­nen vor­führ­te, son­dern auch eine Art Ansteck­rock. Also ein knie­ho­hes, hand­tuch­brei­tes Klei­dungs­stück, das aller­dings nur das rech­te Bein bedeck­te. Ohne die von Letiţia drun­ter getra­ge­nen schwar­zen Leg­gings hät­te man also frei­en Ein­blick in das gehabt, was die let­ti­schen Citi Zēni beim Con­test bekannt­lich essen möch­ten… Erstaun­li­cher Wei­se schräg­te es schließ­lich mit ‘On Top of the Rain­bow’ von irgend­ei­ner Miryam auch ein von Ovi­diu Anton (wir erin­nern uns, das Schul­den­dra­ma von 2016) kom­po­nier­tes Bom­bast­rock­stück mit instru­men­ta­len Eth­no-Ver­zie­run­gen und kraft­vol­len “Hey!”-Chö­ren.

Hüb­sche Blu­se, zudem: Letiţia Moi­ses­cu (RO).

4 Comments

  • Eth­no Metal mit Akkor­de­on – Ik Ben Verliefd!!!
    Immer­hin kriegt man in Rumä­ni­en sowas im VE zu sehen…

    Und wohin die Klei­der­spen­de mit den Glit­zer­kos­tü­men vom letzt­jäh­ri­gen ESC ging wis­sen wir jetzt auch

  • Die Leu­te haben neben dem Frie­dens­kitsch aber ein ganz ande­res Pro­blem mit Nico Sua­ve. Gut, eher gesagt fällt es der All­ge­mein­heit auch hier wie­der schwer, Künst­ler von Per­son des öffent­li­chen Lebens zu tren­nen. Herr Sua­ve soll angeb­lich irgend­ei­ne Ver­bin­dung zu Xavier Naidoo haben und des­halb sei er in den Augen man­cher Leu­te “untrag­bar für die deut­sche Vor­ent­schei­dung”. Nun gut, egal was da jetzt über­mor­gen aus­ge­wählt wird. Mehr als Rang 12 in mei­nem bis­he­ri­gen ESC-Ran­king 2022 wirds für den deut­schen Bei­trag nicht. Dann lie­ber Schwe­den, die für mei­ne Begrif­fe eini­ge gute Sachen im Fina­le haben (gut, viel­leicht bin ich ein­fach zu sehr Mel­lo-bia­sed, um das ver­nünf­tig ein­schät­zen kön­nen, aber bes­ser als der deut­sche Vor­ent­scheid ist es allemal).

  • Dan­ke Oli­ver, da hast du auch mei­ne High­lights ziel­si­cher hervorgehoben.

    In Island mache ich mir kei­ne Hoff­nung für Gia, zu schräg für TV-Sta­tio­nen und Juries und das Tele­vo­ting im Halb­fi­na­le ging ja auch nicht gut aus.

    Rumä­ni­en hat anschei­nend die deut­sche Stra­te­gie gewählt und alle posi­tiv auf­fal­len­den Stü­cke raus­ge­wählt. Das Ziel scheint zu sein, auf kei­nen Fall ins Fina­le zu gelangen.

  • @Zwelfbungt
    Nach­dem es der NDR die­ses Jahr so epo­chal ver­kackt hat, wün­sche ich mir bei­nah Team Lie­be mit ihrem zu einem ver­lo­ge­nen Peace-Song umge­tex­te­ten hei­le Welt- Lied­chen den Sieg.
    Und die Chan­cen ste­hen gar nicht mal schlecht das es so kommt.
    Bei mir steht der bes­te deut­sche Bei­trag (kei­ne Ahnung wel­cher das ist) auf Platz 17 von aktu­ell 21

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