Nicht nur beim deutschen Vorentscheid brach sich 2022 der Fan-Zorn freie Bahn gegen die Entscheidungen der Vorauswahljury. Auch in Rumänien kochte die Volksseele: dort hatte eine fünfköpfige Jury aus ursprünglich einmal 94 Einreichungen in mehreren Schritten insgesamt zehn Titel für das gestern ausgestrahlte Finale der Selecția Națională herauskondensiert und dabei sämtliche Publikumslieblinge – in einer der öffentlichen Vorrunden durften die heimischen Fans fünf Songs mitbestimmen – zielsicher herausgekantet. Im Finale nun ließ der Sender TVR die Zuschauer:innen zwar wieder mitvoten. Und zwar für üppige 1,20 € pro Anruf oder SMS, in dem verhältnismäßig armen Land ein kleines Vermögen. Doch ihre Stimmen zählten zusammengerechnet lediglich als sechstes Jury-Plazet, flossen also zu gerade mal 16,5% ins Endergebnis ein. Kein Wunder, dass die Beteiligung überschaubar blieb: lediglich rund 12.000 Anrufe gingen ein, und die Hälfte davon verteilte sich fast gleichmäßig auf die beiden Spitzentitel. Wobei beim Publikum am Ende die Sängerin Dora Gaitanovici mit der unfassbar drögen Rockballade ‘Ana’ mit etwas über 200 Stimmen mehr ganz leicht vorne lag.
Zehn Songs in drei Stunden: Rumänien versteht es, seine Vorentscheidungsshow (Playlist mit allen drei Teilen) zu strecken.
Doch dem ungewaschenen Pöbel einfach so seinen Willen zu lassen, das kam für den rumänischen Staatssender TVR noch nie in Frage. Und so schob man zwischen dem Ende des Televotings und der Ergebnisverkündung einen weit über einstündigen Showblock ein, in dem gleich sieben der bereits ausgewählten Konkurrent:innen aus anderen Nationen ihre Lieder vorstellten. Darunter die albanische Wuchtbrumme Ronela Hajati, die im Vollplayback zum Eurovisionsremix ihres nunmehr leider größtenteils englischsprachigen Ethno-Bangers ‘Secret’ aufreizend twerkte; der live singende Este Stefan Airapetjan; die tschechische Band Domi, ebenfalls mit einer revampten Version ihres Beitrags ‘Lights off’, als natürlich auch die moldawischen Vertreter Zdob şi Zdub mit dem Rock’n’Roll-Remix ihres fantastischen Werbelieds für den Zug zwischen Bukarest und Chișinău. Und selbstverständlich durfte auch Jamala nicht fehlen, die wie schon bei Germany, 12 Points auch hier nochmal ihr ‘1944’ sang und eine Friedensbotschaft an die Zuschauer:innen im Studio Pangrati richtete, von einer deutlich hörbaren Dolmetscherin (looking at you, NDR!) ins Rumänische übersetzt. Zeit genug für die Fünf von der Bevormundungsfront, ihre Voten abzustimmen und dem Volk einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Machten trotz intensivstem Patriotismus keinen Stich bei Jury und Publikum: die drei üppig dekolletierten Damen Cream, Minodora und Diana Bucşă.
In diesem Fall muss ich sagen: Gott sei Dank! Denn zwar belohnten sie einerseits erneut den von ihnen von Anfang an gegen jeden Widerstand durchgeschleppten, schrecklich knödelnden Kyrie Mendél und seinen unerträglichen Balladenriemen ‘Hurricane’, der beim Publikum ganz weit hinten landete. Doch, viel wichtiger: mit dreimal Douze Points boxten sie den einzigen verbliebenen anhörbaren Song zum Sieg. Nämlich das sehr, sehr campe ‘Llámame’ (‘Ruf mich an’). Der als Andrei Ionuț Ursu geborene, sehr offensichtlich tragisch veranlagte WRS knüpft mit dem spanischsprachigen Songtitel nicht nur bei einem anderen, ebenso campen Eurovisionskollegen an, nämlich dem für seine verdächtigen Handgesten berüchtigten Iberer Raphael (1966). Textlich präsentierte er uns damit, auch wenn man das aufgrund seiner undeutlichen Aussprache kaum verstand, eine Neuauflage des allerersten schwulen Grand-Prix-Kampfliedes ‘Nous, les Amoureux’ von 1961. Wie schon seinerzeit Jean-Claude Pascal beschreibt auch Ursu sich und seinen namenlosen, als “Bebé-bé” apostrophierten Partner als von der feindlichen Gesellschaft potentiell bedrohte Liebende (“Was, wenn sie es herausfinden? Niemand wird es mögen”), entschließt sich aber, sich “der Welt zu zeigen” und “es nicht länger zu verstecken”, denn die “Liebe kann von niemandem aufgehalten werden”.
Trotz der beiden zur Tarnung hinzugefügten Sandprinzessinnen: wem Andreis Interesse gilt, ist unverkennbar.
Einerseits ziemlich traurig, dass es sechs Jahrzehnte später noch immer solche Selbstermächtigungssongs braucht, gerade jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs. Andererseits: wo, wenn nicht beim Eurovision Song Contest, wäre der richtige Platz dafür? Insofern, diesmal: Merci, Jury!
Vorentscheid RO 2022
Selecția Națională 2022. Samstag, 5. März 2022, aus dem Studio Pangrati in Bukarest, Rumänien. Zehn Teilnehmer:innen. Moderation: Eda Marcus und Aurelian Temișan. Jury (83%), Televoting (17%).# | Interpreten | Songtitel | Jury | Televoting | Platz |
---|---|---|---|---|---|
01 | Andrei Petruş | Take me | 11 | 807 | 09 |
02 | Alex Parker + Bastien Tudor | All this Love | 27 | 429 | 07 |
03 | Gabriel Basco | One Night | 35 | 1.048 | 04 |
04 | Vanu | Never give up | 34 | 676 | 05 |
05 | Petra Donciu | Ireligious | 34 | 412 | 06 |
06 | Møise | Guilty | 10 | 585 | 10 |
07 | Cream, Minodora + Diana Bucşă | România mea | 13 | 764 | 08 |
08 | Kyrie Mendél | Hurricane | 46 | 641 | 02 |
09 | Dora Gaitanovici | Ana | 32 | 3.737 | 03 |
10 | WRS | Llámame | 48 | 3.497 | 01 |
Was sagst du? Kann sich WRS für Rumänien ins Finale voguen?
- Mich befremdet, dass sich die Rumänen immer für Latinos halten. Und ich glaube, das geht Resteuropa auch so. (47%, 24 Votes)
- Bei den ebenfalls tragisch veranlagten Teilen des Publikums kommt das sicher an. Aber bei den Jurys? Das ist denen zu futtig! (29%, 15 Votes)
- Unbedingt. Das ist herrlich camp, erfreulich uptempo und hat auch noch Haltung. I like! (24%, 12 Votes)
Total Voters: 51
Selecția Națională 2023 >
Ich muß zugeben, daß mir gelegentlich auch mal billige Sachen gefallen… Wenn man sich mit dem Inhalt des Textes (dank an den Hausherrn) beschäftigt, verstehe ich auch die “verwaschene” Aussprache.
Bei mir reicht es derzeit sogar knapp für die Top 10 und ich werte mit 7,5/^12
Wunderbarer Pop-Trash, so hab ich’s gern. Und ich spüre jetzt schon das erotische Knistern in Turin zwischen ihm und Michael Ben David aus Israel. Wenn WRS noch ein bisschen übt, könnten die beiden fast in einer Liga spielen. Musikalisch gesprochen natürlich.
Haha, man kann auch mit einem Texthänger gewinnen 😛
Erinnert mich an “Musica” von Elettra Lamborghini aus Sanremo 2020
Guter Laune trash, passt schon