Eigentlich wollte ich auf diesem Blog ja nichts mehr zum aktuellen Eurovisionsgeschehen schreiben und mich stattdessen auf die reiche Historie des Wettbewerbs konzentrieren. Doch nun treibt mich meine tiefe Enttäuschung über das aktuelle Ergebnis, vor allem aber die falschen Lehren, die in der Medienöffentlichkeit schon wieder aus dem deutschen Desaster gezogen werden, doch dazu, noch einmal meinen Senf abzugeben. Denn nach dem bitteren und völlig unverdienten, auch mich diesmal komplett ratlos hinterlassenden letzten Platz für die super sympathischen Glamrocker Lord of the Lost und ihre musikalisch meisterhaft vielfältig-verspielte Nummer ‘Blood and Glitter’ kommen nun schon wieder allenthalben die alten weißen Männer wie Thomas Gottschalk (72) oder leider auch mein ehemaliger Eurovisionsheld und Retter des Grand Prix, Guildo Horn (60), aus ihren Löchern gekrochen und empfehlen: “einfach mal den Geldhahn zudrehen” (Gottschalk), also beim ESC zu pausieren und “vielleicht dann in ein paar Jahren mit einem neuen verantwortlichen Kreativteam nochmal mit einer gewissen Leichtigkeit des Seins” (Horn) wieder einzusteigen. Und selbst vonseiten der ARD vernahm man eher alarmierende Töne zum weiteren Umgang mit dem deutschen Vorentscheid.
‘We’re so happy we could die’ fasst meine Stimmung perfekt zusammen: Lord of the Lost (DE).
So zitierte RND ein Statement des NDR-Mannes Andreas Gerling: „Wir sind mit einem außergewöhnlichen Act gestartet, der überhaupt nicht das Ergebnis erzielt hat, das wir uns gewünscht haben. Wir hatten im Auswahlverfahren auf die Ausweitung der musikalischen Genres gesetzt. Der Diskussion und Überlegung, warum auch dieser Titel beim ESC nicht verfangen hat, müssen und werden wir uns jetzt stellen.“ Dass lässt sich kaum anders interpretieren als: so, wir haben es jetzt ein einziges Mal mit etwas Anderem probiert, hat nicht geklappt, nächstes Jahr dann wieder zurück zu unseren heißgeliebten Variationen von beige. Und das wäre natürlich genau die falsche Reaktion, denn das halsstarrige Festhalten des Hamburger Senders an seichter Formatmucke hat uns ja überhaupt erst in die langanhaltende Malaise geführt. Bitte nicht vergessen, dass wir bereits 2022 mit Electric Callboy unseren eigenen Käärijä hätten haben können, wenn die ARD-eigene Vorauswahljury nicht auf “Radiotauglichkeit” bestanden hätte. Und nur, weil ein singulärer Versuch mit etwas mehr Abwechslung nicht sofort zu einer vollständigen Trendwende führt, gleich die Flinte ins Korn zu werfen, wäre nicht nur dämlich, sondern auch feige.
Hätten im gelben Bolerojäckchen und in Spike-Lederhosen wohl auch eine gute Figur gemacht: die Elektro-Sexarbeiter.
Das Gegenteil ist also richtig: der deutsche Vorentscheid müsste im nächsten Jahr noch deutlich vielfältiger werden, mit mindestens (!) doppelt so vielen Startplätzen und einem noch sehr viel breiteren musikalischen Feld, in dem von klassischem Schlager über Deutschrap, Indierock über Techno, Hardrock über Ballermannmucke, um nur ein paar Genres zu nennen, möglichst jede Facette des heimischen Musikschaffens angemessen vertreten ist. Und der NDR müsste sein Budget für den Vorentscheid mindestens (!) verfünffachen und noch sehr viel mehr Geld für die professionelle Inszenierung der Auftritte ausgeben. Da war man beim diesjährigen Lied für Liverpool ja immerhin auf einem ganz guten Weg, allerdings mutete die Show im Direktvergleich mit der unter widrigsten Umständen in einer Kiewer U‑Bahn-Station produzierten ukrainischen Vidbir noch immer an wie eine Buxtehuder Schultheateraufführung gegenüber einem Londoner Westend-Musical. Und, um Himmels Willen, nehmt endlich der trutschigen, alten weißen Frau Barbara Schöneberger die Moderation weg! Ein echter Neuanfang braucht auch frische, unverbrauchte Gesichter. Und nein, das ist nicht als Ageismus gemeint, sondern bezieht sich auf das ganze schlimme Das-wird-man-doch-noch-sagen-dürfen-Gehabe von Babsi, die mittlerweile leider auch nur noch das weibliche Äquivalent von Dieter Nuhr ist.
Die “Siegerin” von Jurys Gnaden: Loreens historische Leistung, mit Johnny Logan gleichzuziehen, wirkte aufgrund der Umstände leider leer und schal (SE).
Das zweite Thema, das mich umtreibt, ist die am Samstag erfolgte, langweiligste Punkteauszählung seit Menschengedenken mit dem von der Jury bewusst herbeimanipulierten und im Grunde bereits nach wenigen Wertungen feststehenden Sieg von Loreen. Die ich übrigens als Künstlerin persönlich toll finde und deren Stimme und Show ich sehr mochte. Nur, dass ihr Lied ‘Tattoo’, dieser schwachbrüstige B‑Seiten-Abklatsch von ‘Euphoria’, halt eines erneuten Triumphes einfach nicht würdig war, zumal es mit dem grandiosen ‘Cha Cha Cha’ ein viel besseres Angebot gab. Das zeigte sich auch am Verhalten des Publikums in der Liverpooler Arena, das zu meiner diebischen Begeisterung während der Akklamation der schwedischen Pop-Elfe lautstark “Cha Cha Cha” skandierte und damit nochmals deutlich machte, wer der eigentliche Sieger dieses Abends war. Nämlich der finnische Kobold Käärijä, der für seine originelle, inhaltlich clever-vielschichtige Partyhymne die Spitzenwertungen der Zuschauer:innen aus Europa (beziehungsweise diesmal der ganzen Welt) einsammelte und mit 376 Punkten klarer König der Herzen wurde. Die Jurys hingegen erwiesen sich einmal mehr als die CDU des Song Contests, ignorierten mit ihm jegliche Fortschrittlichkeit und schanzten stattdessen Loreen mit ihrer schalen Wiederholung des Althergebrachten die Krone zu.
Geiler geht nicht mehr: Käärijä (FI) lieferte den mit Abstand besten Eurovionsbeitrag aller Zeiten ab.
Um wie vieles erfreulicher als die erzürnende Votingprozedur des Finales verliefen hingegen diesmal die beiden Qualifikationsrunden. Dort hatten nämlich nach den Korruptionsskandalen des Vorjahres endlich wieder die Zuschauer:innen die alleinige Macht. Und sie nutzen sie sehr weise: bis auf den mein Herz brechenden letzten Platz für die niedlich introvertierten Glitzerpulli-Partyboys The Busker aus Malta im ersten Semi wählten sie ausschließlich die exakt richtigen Titel ins samstägliche Finale weiter und sorgten so dort diesmal für ein deutlich stärkeres Wettbewerbsfeld als in den vergangenen Jahren. Was vielleicht mit zur erneuten Roten Laterne für Deutschland beitrug: gegenüber der Vielzahl an echten Knüllern (‘Who the Hell is Edgar?’) nahm sich – das von mir sehr goutierte – ‘Blood and Glitter’ dann halt doch ein bisschen zahm aus. Und mit der ziemlich statischen Inszenierung verblasste es auch ein wenig gegenüber dem deutlich dynamischer präsentieren australischen Konkurrenzangebot ‘Promise’ von Voyager, die im zweiten Semifinale sogar die Abstimmung anführten, überraschenderweise im Finale hingegen kaum mehr Televotingstimmen einsammeln konnten als LotL und lediglich von den Jurys mit mehr Liebe bedacht wurden.
Von der niedlichen Zahnlücke am Mikro bis zum zottelbärtigen The Animal an den Drums: die Jungs aus Tralien waren super sweet. Und der Jumpscare-Growl des glatzköpfigen Gitarristen schockte richtig gut.
Als Retter in der Not erwiesen sich die “Professionellen” dort auch für die Spanierin Blanca Paloma und ihr von Europa unverstandenes, absolut hinreißendes Neo-Flamenco-Chanson ‘Eaea’. Hier verhielt es sich also ausnahmsweise umgekehrt und die vermeintlichen Musiksachverständigen der Jury erwiesen sich tatsächlich als musikalisch (etwas) sachverständiger denn der ungewaschene Plebs. Überraschend kam das aber nicht: schon Palomas Grand-Prix-Vorgängerin Remedios Amaya musste sich 1983 in München mit null Punkten für das nicht minder famose ‘¿Quién maneja mi Barca?’ begnügen. Diese von europäischen Kulturbanausen als anstrengend empfundene Art von Musik stößt außerhalb iberisch geprägter Länder leider allenthalben auf taube Ohren, wie die lediglich drei Televoting-Pünktchen aus Portugal und zwei aus dem Rest der Welt (=Lateinamerika) belegen. Reichen diese beiden Zufallstreffer aber aus, um die Existenz der Jurys zu rechtfertigen? Natürlich nicht! Denn das etwas erratische Abstimmungsverhalten des Samstags-Zuschauer:innen hängt neben der Tatsache, dass im Finale ganz andere demografische Gruppen einschalten und voten als unter der Woche, ja auch damit zusammen, dass dort – anders als in den Semis – alle 37 Teilnehmerländer mitstimmen dürfen und sich gerade in den bereits in den Qualifikationsrunden ausgeschiedenen Nationen so wieder das allseits belamentierte Blockvoting breit machen kann.
Sollen die Jurys ernstlich ein Gegengewicht zum schlechten Geschmack der Zuschauer:innen sein, hätten sie Blanca (ES) mit 444 Punkten überschütten müssen. Sie gaben ihr aber nur 95. Also: weg mit ihnen.
Dabei böte die in diesem Jahr zur Verbreiterung der Zuschauer:innenbasis erstmals eingeführte “Rest of the World”-Stimme ja das ideale Auffangbecken: lasst gerne im Televoting weiterhin Anrufe aus allen Ecken und Enden unseres blauen Planeten zu, aber wertet für die Einzelpunktevergabe nur die Stimmen der im Finale antretenden 26 Nationen aus und addiert den ganzen Rest, einschließlich der ausgeschiedenen Länder, zur 27. Wertung. Denn gerade die Ergebnisse der beiden Qualifikationsrunden, wo – bis auf jeweils drei der fixen Finalisten – ja eben nur die dort jeweils teilnehmenden Nationen abstimmen durften (und wo im ersten Semifinale Käärijä Loreen deutlich deklassierte), beweisen ja, dass das Publikum klug abstimmen kann, wenn man es denn lässt. Das hilft den Big-Five-Nationen natürlich nicht unbedingt weiter, aber hier wäre es ohnehin dringend an der Zeit, über die Abschaffung dieses unzeitgemäßen Privilegs nachzudenken. Welches uns nach meiner Überzeugung sowieso mehr schadet als nützt, weil uns der fehlende Semifinalauftritt jeglicher Chancen beraubt, mit den europäischen Zuschauer:innen zu connecten. Das 20-Sekunden-Interview und ‑Clipausschnitt sind hierfür kein adäquater Ersatz.
Im zweiten Semifinale noch auf Platz 2 hinter Voyager, gab es für die fantastischen Teya & Salena (AT) im Finale nur noch unentschuldbare 16 Televotingpünktchen. Ugh!
Und ja, ein Ausstieg aus dem Big-Five-System bürge natürlich das Risiko, künftig bereits in den Semis rauszufliegen, was vermutlich wieder zu Forderungen der Ewiggestrigen nach einer Grand-Prix-Pause führen würde. Aber die kommen ja, wie wir sehen, so oder so. Andererseits erhöhte es den Druck auf den deutschen Sender, sich zu wirklich radikalen künstlerischen Neuerungen durchzuringen und die in diesem Jahr zaghaft begonnene Reform des Vorentscheids mit noch größerem Nachdruck zu verfolgen. Ist es eine Garantie für ein besseres Ergebnis? Nein, natürlich nicht. Aber wie heißt es so schön: ob es besser wird, wenn es anders wird, wissen wir nicht. Nur, dass es anders werden muss, um besser zu werden, das wissen wir. Allerdings, um am Ende meines Rants Wermut in den Wein zu gießen: angesichts der aktuellen Debatte um unseren ausschließlich aus aggressiver Verdrängung bestehenden Umgang mit der Klimakatastrophe, bei der radikale, unbequeme Änderungen am Status Quo noch viel essentieller wären als beim Unterhaltungsevent ESC, habe ich wenig Hoffnung, dass in der rettungslos verknöcherten Rentnerrepublik Deutschland noch genügend Kraft für die notwendigen Reformen besteht. Daher war meine Entscheidung, dem aktuellen Geschehen fernzubleiben, wohl doch die richtige.
Wenn die Welt mich verrückt werden lässt, rettet mich Gustaphs (BE) tröstend nostalgisches Neunzigerjahre-Vocal-House. Danke dafür, und dass du wie z.B. auch Marco Mengoni und LotL ein wichtiger Teil der starken queeren Repräsentanz in diesem Jahr warst.
Eines Vorweg: Danke nochmal für diesen neuen Artikel. War ein Spaß, mal wieder was von dir zu lesen. Alleinig deshalb hat sich der Skandal um die Abstimmung 2023 schon gelohnt 😉
Zum Endergebnis: Tja, so sind nun mal die Regeln. Man muss einfach damit rechnen, dass ein Jurysieger mal Gesamtsieger wird, auch wenn das Televoting einen anderen Liebling hat. Gut, das sagt sich jetzt so leicht als jemand, der eher ein Mix-Befürworter ist (alleinig wegen dem Abschneiden von Estland), sowohl “Cha Cha Cha” als auch “Tattoo” sehr mochte und beide eines Sieges würdig empfand. Ich kann von meiner Seite aus wenigstens sagen, dass ich für den schwedischen Sieg in diesem Jahr absolut nix getan habe. Ich habe im Finale nicht dafür abgestimmt. Dennoch hoffe ich jetzt einfach mal, dass die Teilnehmerländer für 2024 und eventuell darüberhinaus diesen Sieg nicht fehlinterpretieren, die Songwritingcamps nicht von den Toten wiederauferstehen und wir 2024 kein Überangebot an schwedischen Kompoistionen beim ESC haben werden. Die Befürchtung wird dadurch genährt, dass der zypriotische Beitrag, den ich absolut langweilig fand, ja auch recht gut abgeschnitten hat. Und um auf die Jurys zurückzukommen: Eher wird hier reformiert, als dass sie komplett abgeschafft werden, zumindest für 2024. Natürlich kann man jetzt pessimistisch sein und eine schlechte Einschaltquote für 2024 prognostizieren, da dies das einzige Mittel wäre, die Reference Group zum Umdenken zu bringen bezüglich Jury-Einfluss.
Zu den Halbfinals: Ich bin etwas erstaunt, dass du dich so zufrieden mit den Ergebnissen dort zeigst. War Estland für dich nicht eine “Strunzlangweilige, tausend Mal gehörte Klavierballade” die dich null berührt (Zitat von Twitter)? War einfach nix im 2. Halbfinale für dich drin, was es mehr verdient hätte ins Finale einzuziehen oder hast du angesichts der Balladenebbe in diesem Jahr, die sich zum Zeitpunkt der Auswahl des estnischen Beitrags noch nicht andeutete, damit angefreundet, dass Estland weiterkommt, damit für die Balladenfreunde des ESC auch noch was übrigbleibt? Ich meine, wir hatten ja so oder so “Due Vite” im Finale.
Sorry übrigens, dass ich so intensiv auf Estland eingegangen bin, aber es ist mein Lieblingsbeitrag neben Finnland und Serbien gewesen und es ging mir so ein bisschen auf den Sack, wie Leute der Ansicht waren, dass Estland nur mit den Bedwetters oder Ollie gut abgeschnitten hätte. Ich lehne mich weit aus dem Fenster und sage, dass die beiden nicht in die Top 10 gekommen wären.
Zuletzt: Wird die Hall-of-shame der Nilpointer von dir trotz deines Abstands zum aktuellen Geschehen noch fortgeführt? Mit Rumänien und San Marino haben wir im zweiten Semi ja zwei neue Einträge dazubekommen. Mich würde es sehr freuen! So oder so, eine schöne PED dir und danke nochmal für diesen Artikel, lieber Oliver.
Hallo Lucas,
dankeschön für den Kommentar. Was Estland angeht: so leid es mir tut, aber das ist für mich weiterhin eine strunzlangweilige, schon tausend Mal gehörte Baukastenballade, auf die ich gerne verzichtet hätte. Tatsächlich gab es im zweiten Semi aber auch maximal fünf Songs, die ich gut fand, deswegen war es mir egal. Zumal, das muss ich zugestehen, sie es aufgrund der beeindruckenden stimmlichen Leistung zumindest technisch verdient hatte.
Und ja, natürlich wäre ich schon froh, wenn es in Sachen Jury wenigstens Reformen geben würde. Es gab ja schon Forderungen nach Aufstockung auf mehr Juror:innen, striktere Bewertungsvorgaben und vor allem eine prozentuale Mindergewichtung ihres Einflusses. Ist zwar alles Herumdoktorn an den Symptomen, aber besser als nichts. Mir verderben diese “so sind halt die” Regeln halt den Spaß am Grand Prix, ich überlege schon, mir künftig das Finale ganz zu schenken und nur noch die Vorentscheide und Halbfinale zu schauen.
Danke für den Hinweis auf die Nilpointer. Mach ich vielleicht mal bei Gelegenheit.