Eine im Zusammenhang mit dem Abstimmungsverfahren beim Eurovision Song Contest immer mal wieder aufflammende Diskussion dreht sich um die Sonderbehandlung der sogenannten “Big Five”, also der fünf Hauptzahlernationen, die nicht nur über ihre Teilnehmergebühren einen erklecklichen Teil der Kosten für des ESC schultern, sondern auch einen Großteil der Zuschauer:innen beisteuern und im Gegenzug stets direkt fürs Finale gesetzt sind. Selbst innerhalb der EBU kursierten zeitweilig Überlegungen, den auch intern gelegentlich kritisierten Ausnahmestatus abzuschaffen, den die Türkei offiziell mit als Grund für ihren schmerzlichen Eurovisionsausstieg im Jahre 2013 anführte. Kassiert man diese Regelung, müsste auch Deutschland künftig durch die Qualifikationsrunde. Chance oder Risiko?
Ihm verdanken wir den privilegierten Status: Leon, der designierte deutsche Grand-Prix-Vertreter 1996, der in einer internen Jury-Vorauswahl rausflog. Was sich für die Finanzen und die Quoten als verheerend herausstellte.
“Keiner mag uns” – aus gutem Grund!
Stellen Sie sich einmal vor, liebe Leserin, lieber Leser, in Ihrer Firma gäbe es unter den Beschäftigten eine Wahl zur/zum Angestellten des Jahres. Wer diese gewinnt, erhält eine üppige Prämienzahlung, alle anderen gehen leer aus. Bis auf die fünf Abteilungsleiter:innen, die ohnehin überdurchschnittlich gut verdienen und exklusiv an einer Gewinnausschüttung partizipieren, aber dennoch an der Wahl teilnehmen. Hand aufs Herz: gäben Sie einem von den Fünfen Ihre Stimme?
Oh, bunter Harlekin: noch nicht einmal die Störung durch den Bühnenflitzer Jimmy Jump brachte dem kriminell unterbewerteten Spanier Daniel Diges 2010 einen Sympathiebonus ein.
Dass die großen Nationen Großbritannien, Frankreich, Spanien und Deutschland seit der 1999 erfolgten Etablierung des Televotings in der Publikumsgunst fast immer ziemlich geschlossen auf den letzten Rängen landen, liegt – neben ihren oftmals erbärmlichen Beiträgen – natürlich an diesem Privileg. Alle anderen Länder müssen sich zuerst für das samstägliche Finale qualifizieren und dazu auch noch früher anreisen und öfters proben. Andorra schaffte seit seiner Erstteilnahme 2004 bei sechs Versuchen keinen einzigen Finaleinzug und gab dann entnervt auf. Nur wir sind direkt gesetzt: wundert sich da ernsthaft noch jemand, dass uns keiner lieb hat und die Punkte so spärlich fließen? 1997 in Folge der Relegation des deutschen Vertreters Leon eingeführt und 2011 um das lange Zeit absente und von der EBU zur Eurovisonsrückkehr bekniete Italien erweitert, wackelt die Regelung zunehmend. Denn durch die Etablierung der zweiten Qualifikationsrunde erweiterte sich der Teilnehmerkreis, die Kosten verteilen sich auf mehr Schultern. Ein finanzieller Aderlass bei Nichtteilnahme einer der Großen Fünf ließe sich leichter verkraften.
Stiff upper Lip: noch nicht einmal die Störung durch einen Bühnenflitzer brachte der unterbewerteten Britin SuRie 2018 einen Sympathiebonus ein.
Kritik kam nicht nur aus der Türkei. Auch die Niederlande, die ab 2005 eine achtjährige durchgängige Durststrecke ohne Finalteilnahme zu erdulden hatten, murrten in dieser Zeit vernehmlich, zudem sie nach eigener Darstellung im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl ebenfalls zu den Vielzahlern gehörten. Russland, das im Vorfeld des ESC 1996 das gleiche Schicksal erlitt wie Deutschland, erhielt daraufhin jedoch kein Finalprivileg zugesprochen, obschon die Föderation fast doppelt so viel Einwohner:innen vorweisen kann wie die Bundesrepublik. Zwar schauen von denen in dem riesigen Flächenstaat mit seinen elf Zeitzonen deutlich weniger zu als im dichter besiedelten Westen. Dennoch wirkt die Nichtaufnahme Russlands in dem Big-Boys-Club etwas willkürlich, zumal die Föderation 2009 mit der Ausrichtung des wohl pompösesten Eurovision Song Contests aller Zeiten in Moskau, bei dem Geld keine Rolle spielte, auch finanziell und organisatorisch unter Beweis stellte, dass sie mit den großen Hunden pinkeln gehen kann. Ist es also an der Zeit, die Big-Five-Regelung abzuschaffen? Was wären die Folgen? Hier zwei mögliche Szenarien:
Wie Leon scheiterte auch Andrej vor Oslo an den Juror:innen, was in seinem Fall aber weniger erstaunt. Sein Werk fällt noch in die Frühphase Russlands beim ESC mit russischen Texten und für westliche Ohren eher gewöhnungsbedürftig schwermütiger Musik.
Party for Everybody
Erstens: die Win-Win-Situation. Zunächst einmal bedeutete der Wegfall der fixen Finalteilnahme für die deutschen TV-Zuschauer:innen doppelt so viel Grand Prix im Ersten, denn nach den gültigen ESC-Statuten müsste die ARD dann dort auch das Semifinale ausstrahlen, in dem wir drin wären. Bis 2011, als das Erste die Düsseldorfer Show produzierte und daher alle drei Teile auch im Hauptprogramm zeigte, wussten die meisten Deutschen nämlich gar nichts von der Existenz der Vorrunden. Der verantwortliche NDR tat vorher (und hinterher) sein Bestes, sie erfolgreich vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Viel entscheidender als das: endlich läge es im ureigensten Interesse des Hamburger Senders, einen richtig guten, wettbewerbsfähigen, “kantigen” Beitrag auszuwählen, der auch Chancen hätte, die Endrunde zu erreichen. Denn die Liveübertragung des samstäglichen Grand-Prix-Finales könnte die ARD ja nicht einfach kurzfristig canceln, sollten wir in der Vorrunde ausscheiden.
Ohne Big-Five-Privileg müsste Deutschland beim ESC endlich mal wieder seine musikalischen Muskeln zeigen. Wie das geht, bewiesen Laing 2015 beim Vorentscheid.
Allerdings würde das Erste in diesem Fall auf dem prominentesten Sendeplatz der Woche erwartbar schlechte Quoten einfahren. Eine Vorstellung, bei der sich die Programmverantwortlichen auch der gebührenfinanzierten Sender natürlich rituell bekreuzigen. Somit wäre der NDR also gezwungen, sich richtig Mühe zu geben und sich Gedanken darüber zu machen, was international ankommt. Dass er das trotz unregelmäßiger Konzeptkrisen grundsätzlich kann, stellte der Sender in der Vergangenheit mehrfach unter Beweis, so zuletzt mit der Unser-Song-Neuausrichtung im Jahre 2018 und einem überzeugenden vierten Platz beim ESC. Das Beste aber: wir spielten endlich fair, erführen im Gegenzug (hoffentlich) eine faire, von rachebedingter Stimmenthaltung unbelastete Wertung und kämen mit einem guten Song so ins Finale weiter. Wodurch auch unsere Chance auf ein gutes Ergebnis am Samstag stiege, denn so vernähme halb Europa unseren Song nicht erstmalig im Finale, sondern schon im Semi. Und das Erste hätte gleich zwei Shows mit guten Einschaltquoten. Alle gewönnen.
Es geht doch, wenn man nur will: mit einem starken Song und einer eindrucksvollen Inszenierung kann auch Deutschland international überzeugen.
Das tut unheimlich weh
Nun, als wildes Gedankenspiel, das Horrorszenario: die nach dem 2019er Desaster vom NDR verzweifelt kontaktierten Plattenfirmen bieten eine bunte Palette hoffnungsfroher bis etablierter Künstler:innen für den deutschen Vorentscheid Unser Song für Rotterdam auf. Darunter, von vielen Fans heiß ersehnt, die Schlagerikone Helene Fischer, welche die den Vorauswahl aufgrund ihrer Beliebtheit in heimischen Gefilden spielend gewinnt und mit ihrem Beitrag, nennen wir ihn mal ‘Ich fühl Dich so tief in mir’, einen nationalen Nummer-Eins-Hit landet. In der Qualifikationsrunde zu Rotterdam erhält sie auch zahlreiche Anrufe aus Österreich und den schlageraffinen Niederlanden, nichts jedoch aus der Schweiz und dem ebenfalls fischerfreundlichen Dänemark, denn die starten – so hat es das Losglück gewollt – im anderen Semi. Das etwas geschmackssicherere restliche Europa zeigt der deutschen Schlagerqueen die kalte Schulter und dank des gezielten Downvotings durch die Jurys, die solche Musik natürlich nicht mal mit der Kneifzange anfassen würden, scheidet Frau Fischer am Ende mit wenigen Punkten im Semi aus.
Helenes Tophit in einer Neubearbeitung.
Man kann sich die entsprechende, die komplette Titelseite in Anspruch nehmende Bild-Schlagzeile schon jetzt ausmalen! Vermutlich riefe das Springer-Hetzblatt gar zum gezielten GEZ-Boykott (“Nicht von unseren Gebühren!”) auf, nachdem beim am Samstag ohne deutsche Beteiligung ausgestrahlten Grand-Prix-Finale erwartbar die Zuschauerzahlen wegbrächen. Markus Söder, der froh wäre, für ein paar Tage vom Mautdebakel ablenken zu können, spräche öffentlich von der “Schande von Rotterdam” und forderte: “Es müssen Köpfe rollen!” (Hauptsache, nicht seiner!). Innerhalb der ARD brächen kontroverse Debatten vom Zaun, auch hinsichtlich der im Verhältnis zu den samstäglichen Quoten unverantwortbaren Kosten. Jeder zeigte mit dem Finger auf den Anderen im Versuch, nicht den Schwarzen Peter abzukriegen. Und am Ende gäben die Öffentlich-Rechtlichen dem Druck nach und stiegen komplett aus dem Eurovision Song Contest aus. Große Chancen also, um den Preis noch größerer Risiken. Und da Risikofreude keine allzu typische deutsche Eigenschaft darstellt – um es vorsichtig zu formulieren – hege ich gewisse Zweifel, dass sich an der Big-Five-Regelung in naher Zeit etwas ändert.
Ein Schuldiger gesucht? Schieb es auf die Disco, wie schon Alcazar raten!
So, nun wissen wir, was alles nicht funktioniert. Aber wie bekommen wir das Problem mit dem Voting denn in Griff? Frohlocket: der fünfte und letzte Teil der Serie bietet die Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und überhaupt allem.
Stand: 26.10.2019
Ich fände es ehrlich gesagt nicht schlecht, wenn Deutschland wirklich mal eine ESC-Pause machen würde. Schliesslich haben wir 2010 gewonnen – was soll da noch kommen? Erstmal nix besonderes mehr, in ein paar Jahren vielleicht wieder. Unser Song für Baku ist ok, aber nichts besonderes wie Lena es 2010 war. Sollte ich mich irren und Roman das Ding reissen – umso besser 😉
Trotzdem würde ich mir für 2013 (wenn wir alle dann noch leben :D) ein anderes Vorentscheid-Verfahren wünschen, diese Castingkiste hat sich langsam.
Und Deutschland im Halbfinale? Warum auch nicht, hätte ich nichts gegen.