Mein Haus, meine Straße, mein Viertel, mein Block
Blockvoting, also das regelmäßige gegenseitige Zuschustern hoher Wertungen jenseits des Abstimmungsverhaltens anderer Nationen einzig aufgrund einer geografischen und kulturellen Nähe, existiert. Das ist wissenschaftlich bewiesen. Der Brite Derek Gatherer schrieb im Jahre 2005 eine Examensarbeit über das Phänomen und belegte das Vorhandensein der “Pyrenäenachse” (Spanien und Andorra), des “Balkanblocks”, des “Warschauer Pakts” (Russland, Polen und die Ukraine) sowie des “Wikingerimperiums” (Skandinavien und das Baltikum). Andere Statistik-Nerds wollen seither ergänzend eine “Muslimbrüderschaft” (Türkei, Aserbaidschan, Bosnien, Mazedonien, Albanien) ausgemacht haben. Am augenfälligsten für die Zuschauer:innen im Sinne eines stetigen 12-Punkte-Austauschs funktioniert es aber bei direkt benachbarten Staaten, die kulturell, sprachlich und geschichtlich eine Einheit bilden und sich auch selbst als Brudervolk bezeichnen, wie Griechenland und Zypern, die (seit 2013 aus Protest gegen das Big-Five-Privileg ausgeschiedene) Türkei und Aserbaidschan oder Rumänien und Moldawien. Hier führt(e) das überraschende Ausbleiben der fest eingerechneten Douze Points schon mal zu hitzigen Parlamentsdebatten und kleineren diplomatischen Krisen.
Den liebt der gesamte Balkan: Schlagerkönig Željko Joksimović.
Ist das Blockvoting aber tatsächlich ein Problem? Die ehemaligen Jugoslaw:innen beispielsweise stimmen ja nicht aus purer Bösartigkeit für die anderen Exmitglieder des unter exorbitantem Blutzoll auseinander gebrochenen Staatenbundes ab. Die vor 1991 geboren Jahrgänge wuchsen in einem gemeinsamen Land auf, sie sprechen – auch wenn sie das gelegentlich vehement bestreiten mögen – die selbe Sprache und natürlich hören und mögen sie dieselbe Musik, auch wenn sie sich jetzt auf sieben Länder verteilen. Dima Bilan (Sie erinnern sich, der Grund für die Rückkehr der Jurys) war bereits vor seiner zweifachen Teilnahme am Eurovision Song Contest ein im gesamten russischsprachigen Raum kommerziell höchst erfolgreicher Popstar, gewissermaßen der Justin Timberlake des Ostens. Dass er sowohl 2006 (Platz 2 mit ‘Never let you go’) als auch 2008 in eben diesen Ländern abräumte, in denen er zuvor schon massenhaft Tonträger verkaufte, verdankte er also seiner Popularität und nicht seiner Nationalität. Zudem siegte seit der Einführung des Televotings beim Eurovision Song Contest jedes Mal ein anderes Land, im deutlichen Gegensatz zu der Dekade davor, in der Irland praktisch ein Dauerlos innehatte.
Erhielt in Baku Applaus wie ein Heimbeitrag: Can Bonomo, der bis dato leider letzte Vertreter der Türkei.
Und die angebliche “Ostrovision” florierte stets mithilfe des Westens: auch die alten europäischen Länder, allen voran Deutschland, verteilten jedesmal reichlich Punkte an den Sieger aus dem Osten. Jawohl, auch an Drogen-Dima. Weswegen also die künstliche Aufregung? Es war doch alles in bester Ordnung, oder? Nein, war es nicht. Denn nicht nur als geübte:r Eurovisionszuschauer:in konnte man in der Ära des reinen Televotings die Zehn- und Zwölf-Punkte-Wertungen der meisten Länder blind vorhersagen. Und lag dabei traurigerweise richtig. Immer. Das machte das Voting langweilig. Und es schmeckte nach Betrug. Auch wenn es, wie oben erläutert, tatsächlich keiner war: Spaß machte die Stimmenauszählung, das Kernelement des Wettbewerbs, so keinen mehr. Fairerweise muss man sagen: der Osten gab sich bis in die Zweitausendzehner hinein deutlich mehr Mühe als der Westen, nahm den Contest im Gegensatz zu uns als Wettbewerb ernst und hatte in der Regel die besseren Songs. Es ist daher gar nichts dagegen einzuwenden, wenn diese siegten. Zumal die Olsen Brothers, Helena Paparizou und Lordi bewiesen: wenn er sich anstrengt, kann auch der Westen den ESC gewinnen! Das – unstreitig existierende – Blockvoting krönt also weder Sieger:innen noch verhindert es sie.
Wie subjektiv und fragil die Begriffe “West” und “Ost” im Zusammenhang mit dem politischen Konstrukt Europa sind, belegt sehr schön das Beispiel Griechenland: anders als z.B. das lange Zeit kommunistisch geführte, von der Außenwelt abgeschottete Albanien zählte die historische Wiege der Demokratie für mich schon immer traditionell zum Westen, obwohl es rein geografisch weiter östlich liegt als das Land der Skipetaren.
Doch der Sieg ist nicht das allein Entscheidende: in der Tabelle folgen noch 25 weitere Plätze! Dass mein Favorit fast nie die Krone holt, damit habe ich mich schon lange abgefunden. Aber wo landen die ungefähr zehn anderen guten (im Sinne von: mir persönlich gefallenden) Songs pro Jahrgang? Dass beispielsweise solche fantastischen Contestperlen wie ‘Senhora du Mar’ (Portugal 2008) im Mittelfeld versackten, weil ein stabiler Verbund der immergleichen Nationen stets die vorderen Plätze blockierte, verdarb mir schon ein wenig den Spaß am Grand Prix. Und hier zeigte das Blockvoting eben doch einen Effekt: Länder wie die Türkei, Griechenland, Mazedonien oder Russland starteten dank nachbarschaftlicher Hilfe stets mit einem satten Punktevorsprung ins Rennen und schoben sich so selbst mit miserablen Songs an besseren Titeln vorbei. Von der nur aufs Finale fixierten deutschen Öffentlichkeit wenig beachtet, in seinen Auswirkungen aber noch entscheidender: das Gleiche galt für die Semis. Auch hier existierte ein Verbund von zehn Nationen, allesamt Angehörige einer der eingangs beschriebenen Votingblöcke, die sich mit über achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit qualifizierten, egal, wie grottig das Lied sein mochte. Und die damit besseren Konkurrent:innen den Startplatz im Finale wegnahmen.
Mazedonien muss als das Musterbeispiel eines Landes gelten, dass sich dank des Balkan-Blockvotings während der reinen Televotingphase trotz gleichbleibend grausamer Songs stets ungerechtfertigter Weise fürs Finale qualifizierte. Heute wiederum strafen die Jurys selbst die oftmals kreativen und mutigen Beiträge der kleinen Nation stur ab.
Nachbarschafts- versus Diasporavoting
So wie die insbesondere von der deutschen Skandalpresse forcierte Verengung der damaligen Debatte alleine auf den samstäglichen Sieger den Blick auf das Problem verstellte, so lenkt auch die Fokussierung auf die Nachbarschaftsstimmen vom eigentlichen Thema ab. Und das heißt: Diasporavoting. Dass beispielsweise aus Deutschland bis 2012 stets zwölf (Publikums-)Punkte an die Türkei gingen, hatte nicht nur mit der oft sehr guten, gelegentlich aber auch grottigen Qualität der osmanischen Beiträge zu tun, sondern vor allem mit den hier lebenden, einst von uns ins Land geholten “Gastarbeitern” aus Anatolien, denen wir unter anderem das deutsche Wirtschaftswunder verdanken, und ihren hier geborenen Nachkommen. Noch augenfälliger zeigte sich der Diaspora-Effekt bei den von der ARD vor dem breiten Publikum bis heute weitestgehend geheim gehaltenen Qualifikationsrunden, bei denen die deutschen Punkte quasi eins zu eins die hiesige Einwanderungsstatistik abbildeten. Genauso standen (und stehen) hohe Anrufzahlen aus der Ukraine oder Lettland keinesfalls für einen ausgeprägten Rückkehrwillen der abtrünnigen Ex-GUS-Staaten an den Busen von Mütterchen Russland: sie sind vielmehr den in diesen Ländern lebenden russischen Minderheiten geschuldet.
Profitierte von der Diaspora wie vom Welpenbonus: Filipa Schnarcha aus Portugal.
Ob auffallend viele Punkte aus dem Süden Italiens an das vom gegenüberliegenden Meeresufer der Adria winkende Massenauswanderungsland Albanien; ob Douze Points aus Wien, der westlichsten Metropole des Balkans, für Serbien; oder ob eurovisionäre Transferüberweisungen litauischer Klempner aus Irland beziehungsweise portugiesischer Putzfrauen aus Frankreich in die schmerzlich vermisste Heimat: das Televoting zeichnet stets ein recht zuverlässiges Bild der innereuropäischen Wanderungsbewegungen. Die ich, um nicht missverstanden zu werden, keinesfalls kritisiere: Migration ist seit jeher ein integraler Bestandteil der Menschheitsgeschichte, ohne die wir noch immer in Höhlen hausen würden. Sie stärkt den Genpool und sorgt für den lebenserhaltenden kulturellen Austausch. Denn eine inzestuöse, sich nicht ständig mit Einflüssen von Außen vermischende und dadurch erneuernde Kultur stagniert und verliert ihre Anpassungsfähigkeit an sich unvermeidlich ändernde Lebensverhältnisse.
Jonidas sterbensschönes Lamento rief die albanischen Arbeitsmigrant:innen zurück in die Heimat. Die mussten aber weiter im Ausland Geld für die Familie verdienen und schickten stattdessen telefonisch Punkte gen Tirana.
Auch die zeitweilige Existenz der aus Griechenland, Armenien sowie den osmanischen Bruderstaaten Türkei und Aserbaidschan bestehenden “Little Four”, eines das inoffizielle Gegengewicht zu den rein aufgrund ihrer Finanzkraft privilegierten Big-Five-Nationen bildenden Viererbundes an Ländern, die sich dank des Televotings stets sicher für das Finale qualifizierten, und wenn sie einen Besen auf die Bühne gestellt hätten, verdankte sich einzig und alleine der hohen Zahl von Exilant:innen in ganz Europa. Wichtig ist die oben skizzierte Unterscheidung zwischen kulturell geprägtem Nachbarschafts- und auswanderungsbedingtem Diasporavoting vor allem aus einem Grund: der wettbewerbsverzerrende Effekt letzteren Verhaltens ließe sich nämlich, anders als beim (aus meiner Sicht auch gar nicht zu beanstandenden) ersten, tatsächlich eindämmen. Wenn man denn nur wollte. Wie man das macht, fragen Sie? Das verrate ich natürlich erst im letzten Teil meiner kleinen Reihe. Und wer jetzt direkt dorthin vorspringt, ist doof! 😉
Stand: 24.10.2019
[…] Das Problem […]
[…] Das Problem […]
[…] Das Problem […]
“Wien, die westlichste Metropole des Balkans”
Also das hör’ ich jetzt auch zum ersten Mal. Geografisch betrachtet ist doch Zagreb die westlichste Metropole des Balkans. Österreich liegt noch nicht mal auf dem Balkan.
Nicht falsch verstehen. Ich weiß, dass in Österreich viele Serben leben und darauf das Diaspora-Voting zurückzuführen ist. Aber “westlichste Metropole des Balkans” ist dann doch ein wenig gewagt, zumindest für meinen Geschmack.