Ende Oktober 2019 ließ die Meldung der spanischen Delegationsleiterin Toñi Prieto aufhorchen, die EBU fühle gerade bei den Sendern vor, wie dort die Stimmung in Sachen Jury und / oder Televoting stehe. Nach den massiven Peinlichkeiten rund um die fehlerbehaftete Abstimmung in Tel Aviv kein Wunder. Daher nun meine vier persönlichen Lieblingsideen für das Votingverfahren, die uns aus dem tiefen Jammertal in eine helle, goldene Zukunft führen und alle Probleme mit einem Schlag lösen. Ohne mich jetzt selbst all zu sehr loben zu wollen *hüstel*. Liebe ESC-Verantwortlichen: ihr dürft Euch hier jederzeit gerne kostenlos bedienen!
1. Raus heißt raus
Die erste davon setzt die EBU seit 2008 sogar schon um. Allerdings leider erst zur Hälfte, nämlich in den beiden Qualifikationsrunden. Dort dürfen nämlich nur diejenigen meist so zwischen 16 und 19 Länder mitstimmen, die auch jeweils in dieser Runde teilnehmen (plus, durch Losverfahren einem der beiden Semis zugeordnet, die Big Five). Was sich als hervorragend wirksame Maßnahme zur Eingrenzung des Nachbarschaftsvoting herausstellte. Seither liegt die Westquote bei den Qualifikant/innen aus beiden Semis deutlich höher und es werden nicht mehr, wie noch 2007, auf Teufel komm raus Beiträge aus dem Balkan und dem ehemaligen Ostblock durchgewunken. Und mal abgesehen davon, dass seit ihrer Wiedereinführung die vermaledeiten und dafür von mir bis aufs Blut verhassten Jurys in den beiden Halbfinalen Jahr für Jahr unweigerlich die besten Nummern rauskanten, entsprechen die Semi-Wertungen seither im Großen und Ganzen den gezeigten musikalischen Leistungen. Nur im samstäglichen Finale bricht sich (trotz Jury!) weiterhin offen nationalistisches Abstimmungsverhalten freie Bahn. Denn dort dürfen nach wie vor alle 40+ Nationen des jeweiligen Jahrgangs mitstimmen, inklusive der bereits Ausgeschiedenen. Warum also nicht die Mitmachregel auf das Finale anwenden und so die Auswüchse erfolgreich eindämmen?
Olivia Lewis, Opfer des obstinaten Ostblocks.
2. Das Zünglein an der Waage
Die von der EBU als Grund für die Abstimmungsberechtigung der Ausgeschiedenen ins Feld geführten Einschaltquoten taugen nicht als überzeugendes Gegenargument: in den nicht für das Finale qualifizierten Ländern schauen am Samstag erfahrungsgemäß ohnehin fast nur noch die Migrant/innen zu. Und rufen für ihr Herkunftsland an: das berüchtigte Diasporavoting. Die EBU züchtet sich also das durch die Jurys angeblich zu bekämpfende Problem selbst! Für wahrscheinlicher halte ich, dass es eigentlich um die Einnahmen aus dem Telefonvoting geht. Denn während die ARD mit nur 14 Cent pro Festnetzanruf lediglich den Mindestpreis der Telekom weiterberechnet, ohne selbst daran zu verdienen, kassieren viele kleinere Sender teils bis zu einem Euro. Aus den so entstehenden Mehreinnahmen refinanzieren diese zu nicht unerheblichen Anteilen ihre Eurovisionsteilnahme. Daher bietet es sich alternativ an, das Televoting im Finale in allen 40+ Teilnehmerländern zwar weiterhin zuzulassen die Voten aus den nicht qualifizierten Nationen aber zu einer sechsundzwanzigsten Gesamtstimme (“Resteuropa”) zusammenzufassen. Die könnte man dann ganz am Ende verlesen und von mir aus sogar mit der doppelten Punktezahl gewichten. Damit käme diesen Ländern die Funktion des Züngleins an der Waage zu: ein hervorragender Anreiz, zuzuschauen und mitzustimmen, auch für die indigenen Bewohner/innen!
Spannung bis zum letzten Ergebnis, das geht auch ohne Jury!
3. Ein Land, eine Stimme
Und ja, ich weiß: Dima Bilan (der Auslöser der ganzen Debatte) hätte 2008 nach obiger Methode ebenfalls gewonnen. Habe ich auch gar nix gegen. Mir geht es um die Platzierungen Islands und Portugals in nämlichem Jahr. Und da ist mir diese Tabelle von Stefan Niggemeier (Wertungen 2008 ohne Ostländer) sehr viel sympathischer als das amtliche Endergebnis. Bis auf die unverdient hohen Ergebnisse für die grässliche griechische Helium-Shakira und die türkischen Politrocker, die überproportional vom Diasporavoting der in Westeuropa lebenden Immigrant/innen profitierten. Auch das ließe sich jedoch auf ein vertretbares Maß zurückführen: in dem das von der EBU mit der Stimmauszählung beauftragte deutsche T‑Vote-Unternehmen Digame künftig pro Anschluss nur noch einen Anruf pro Land zählt. Ein Mensch – eine Stimme: eigentlich eine basisdemokratische Regelung. Ich saß selbst schon sehr oft bei Bundestagswahlen als Helfer an der Urne. Da durfte jeder nur einen Stimmzettel reinwerfen, darauf achtete ich stets peinlich genau. Beim Song Contest hingegen darf ich derzeit innerhalb des Votingfensters bis zu zwanzig Mal anrufen. Persönlich verteile ich meist so an die zehn Anrufe auf meine drei Lieblingstitel, nur im Falle Conchitas gingen natürlich 16 von 20 SMS-Voten an die Kaiserin. Was die heteronormative deutsche Jury dann wieder mutwillig entwertete, wofür alle Beteiligten auf ewig in der Hölle schmoren sollen!
Erste auch im deutschen Televoting, durch den offen transphoben Juror Sido und seine Kolleg:innen aber zur nationalen Schande auf Rang 7 heruntergedrückt: die Kaiserin.
Die derzeitigen Televotingergebnisse jedenfalls legen nahe, dass unter dem aktuellen Abstimmungsformat von Heimatgefühlen getriebene Diasporavoter/innen von sämtlichen verfügbaren Handys und Festnetzanschlüssen aus jeweils bis zu zwanzig Mal geschlossen für ihr Herkunftsland abstimmen. Was ihnen nicht vorzuwerfen ist: die EBU lässt es ja ausdrücklich zu! Durchschnittszuschauer/innen aber, die, wenn überhaupt, nur ein einziges Mal für ihren Lieblingssong anrufen, gehen bei diesem Verfahren ziemlich unter. Das lässt sich nur dann wirksam entzerren, wenn man nur noch die erste Stimme für ein bestimmtes Land zählt. So, dass maximal 25 Anrufe von einem Anschluss aus zulässig wären: einer pro am Finale teilnehmenden Land, außer dem eigenen. Davon bin und bleibe ich so lange felsenfest überzeugt, bis ein tatsächlich durchgeführter Lauf unter diesen Bedingungen beim Grand Prix mir das Gegenteil beweist. Und ich behaupte sogar, dass dies noch nicht einmal nennenswert negative Einflüsse auf die Einnahmen aus dem Televoting hätte. Denn Otto Normalzuschauer/in ruft ohnehin nur einmal an. Die deutlich abstimmungsfreudigeren Hardcore-Grand-Prix-Fans aber haben meist mehr als nur eine/n Favorit/in, gäben also auch künftig mehrere Stimmen ab.
Die unterhaltsam präsentierte, leichtflüssige Mélange aus trashigem Europop und traditionellem Joik überzeugte 2019 die geschmacklich versierten Zuschauer/innen.
4. Vorsprung durch Technik
Ganz zum Schluss noch eine verrückte Bonus-Idee: die digitale Voting-App von eurovision.tv, in ihrer aktuellen Ausprägung lediglich ein umständlicher Weg, schnöde SMS zu versenden, ließe sich technisch doch viel sinnvoller nutzen, um – gegebenenfalls als kostenpflichtige Zusatzfunktion – ein persönliches Ranking zu erstellen und damit Punkte von 1 bis 12 für die eigene Top Ten oder gar von 1 bis 25 für alle Finaltitel abzugeben. Ich ließe mir so eine Ranking-Funktion jedenfalls Geld kosten und bin damit sicher nicht der Einzige. Denn nichts tun echte Eurovisionistas lieber als Wertungsreihenfolgen zu erstellen. Das auf diese Weise gewonnene Fan-Voting könnte dann beispielsweise unter gleichzeitiger Beibehaltung des regulären Televotings für die Normalzuschauer/innen die Jury komplett ersetzen. Denn niemand beschäftigt sich so umfassend mit den Beiträgen wie Grand-Prix-Fans, die wahren Expert/innen in Eurovisionsfragen. Somit hätte man alle Fliegen mit einer Klappe geschlagen: die zweiteilige Punktepräsentation bleibt und kann weiter für Spannung bis zur letzten Sekunde sorgen, die fachkundigeren und objektiveren Hardcore-Fans bilden ein Gegengewicht zu aufmerksamkeitsschwachen und nachbarschaftsaffinen Durchschnittszuschauer/innen. Und das Ergebnis wäre nicht weiter fremdbestimmt durch willkürlich ausgewählte, tendenziell erzkonservative, nationalistische und homophobe Jurys.
Gehasst von den Jurys: “die Hassenden” (Hatari) aus Island mit “Der Hass wird siegen”. Q.e.d.
Stand: 30.10.2019
Zweimal “ehrlich”: Ich habe das heute erstmalig gelesen und ich habe alle 5 Teile dieses sowohl unterhaltsamen (fast wie immer 😉 ) als auch profunden (hehe) Eintrages gelesen. Und mit Freuden die Lösung, der sich mit meiner deckt – ja, so könnte es gehen. Auch wenn ich natürlich nicht immer mit dem Musikgeschmack des Bloggers übereinstimme, denn ich mochte sowohl Morena als auch Niamh. Aber so soll es ja auch sein. Liebe Grüße von Wahlhelfer zu Wahlhelfer 😉
Eine Schwulenjurywertung pro Land und der ESC liefe richtig rund!
Bezüglich: “Ach ja, mal wieder mit Spannung auf das letzte Ergebnis warten, das wäre schön!”
Genau das hätten wir im letzten Jahr ja gehabt! Aber nur wegen der Jurywertung ist uns ein Krimi am Tableau vorenthalten worden. Das vergebe ich der EBU nie! Zumindest zeigt es aber, dass spannende Wertungen auch heute noch möglich sind.
Halte ich in der Tat für eine gute Idee. Auch das mit den Stimmen von “Resteuropa”. Und der Umstand, dass in vielen Ländern die Zahl der möglichen Publikumsstimmen nicht begrenzt ist (oder wie letztes Jahr zumindest die Grenze erst bei 20 Anrufen zieht), ist ein Skandal. Wie wurde der Wettbewerb dadurch schon zugunsten der Türkei verzerrt? One man – one vote. Etwas anderes ist schlicht eine Sauerei! Meine Stimmen für Slowenien und Island waren dadurch um ein Vielfaches weniger wert – weil ich nur eine Stimme abgegeben habe. Einerseits regen sich alle über die Regimes in Aserbaidschan, Weißrussland und der Ukraine auf und hetzen gerne gegen die harmlosen Reformen des demokratisch gewählten Orban aus Ungarn, aber über diese undemokratische Sauerei beschwert sich keiner, der Rang und Namen hat.
Nur würde ich sagen, dass die Leistung der Jury in den letzten Jahren gar nicht so schlecht war. Ich finde es gut, dass Dänemark (2011), Belgien (2010) und – davon kann man wohl ausgehen – Albanien (2012) auf diese Weise aufgewertet wurden, während furchtbar primitive Musik wie Norwegen (2011) oder Russland (2011 + 2012, wovon man ausgehen kann) abgewertet wurden, auch wenn mir die Nummer von diesem Jahr Spaß gemacht hat. Gerade durch die Wertungen der Jury – die die Balkan-Macht übrigens durchaus etwas abgeschwächt hat und diese Länder nun im Schnitt weniger Punkte bekommen – werden Katastrophenwertungen zum Glück öfter verhindert. Auch wenn die Jurys dieses Jahr den Sieg Schwedens nicht verhindert haben. Warum auch immer, ich fand es grausam. Man kann aber natürlich trotzdem viel kritisieren, z.B. die bisweilen wenig nachvollziehbare Zusammensetzung der Jurys (was hat z.B. Engelke mit Musik zu tun? Was qualifiziert sie hier zu bewerten? Was hat Tim Bendzko bisher groß geleistet, außer den BSC und einen Newcomer-Award gewonnen zu haben?) und die vermeintliche Korruptionsanfälligkeit. Andererseits besteht immer irgendwo Missbrauchsgefahr und bei der Jury kann man verschiedene Schutzmechanismen (zusätzlich zur Geheimhaltung der Jury-Mitglieder) einbauen. Der Verdacht, dass Aserbaidschan beim “Televoting” in kleinen Ländern (z.B. Malta) betrügt ist aus meiner Sicht viel gravierender. Ich bin also ein Anhänger der Jurys, zumal in der obigen Ausführung (zumindest im Kapitel “Lösung”) nicht explizit deren Abschaffung gefordert wird.
Eine Petition an die EBU mit den hier genannten beiden großen Reformvorschlägen würde ich gleich unterschreiben (wobei das zweite eigentlich gar keine Reform, sondern die Herstellung einer Selbstverständlichkeit ist).
Größtenteils kann ich dem ja zustimmen, aber ich hoffe doch mal stark, dass der erste Abschnitt ironisch gemeint ist. Eine im alltäglichen Leben der Menschen letztlich komplett bedeutungslose Veranstaltung auf eine Stufe mit dem zu stellen, was Viktor Orban in Ungarn veranstaltet (inwiefern ist das, was dieser Mensch da treibt, bitte “harmlos”?), ist knapp vor einem Godwin.
Oh bitte. Ja, 2011 wäre ohne Jurys spannender gewesen. Und 2010 ohne Televoter (zwei Punkte Abstand von Lena zu Tom Dice). Was bitte beweist das? (Und warum lese ich 2013 noch diese Beiträge und antworte darauf? 😉 )
Solange die Zuschauer mehr als eine Stimme haben und Zuschauer nicht für das Lied, das am Besten ist bzw. das sie am Besten finden, anrufen (wegen Nationalstolz etc.), ist das Televoting unbrauchbar und nur in der Theorie die optimale Methode.
Im Gegensatz wozu genau? Jurywertungen? Auch Jurys bestehen aus Menschen, und Menschen treffen ihre Entscheidungen nicht nur basierend darauf, welches Lied sie am besten finden – oder glaubt hier jemand ernsthaft, die fünf fünfundzwanzigsten Plätze in der Jurywertung Armeniens für Aserbaidschan und umgekehrt seien nur deshalb zustande gekommen, weil zufällig fünf Armenier “Start a Fire” und fünf Aseris “Not Alone” gehasst haben?
Die Sache mit Armenien und Aserbaidschan im vergangenen Jahr hätte bei mir eh dazu geführt, dass beide Länder für dieses Jahr nicht teilnahmeberechtigt gewesen wären.
Gemäß Definition ist eine Jury ein Gremium, dessen Aufgabe es ist, unter den Bewerbern für einen Preis den oder die Preiswürdigsten herauszufinden.
Im optimalen Fall spielen dabei persönliche Vorlieben keine Rolle. Eine Jury soll so werten, wie sie glaubt, dass die Mehrheit der Menschen werten würde.
Wenn eine Jury richtig besetzt ist (im Falle des ESC mit Personen, die musikalischen Sachverstand haben) und die Besetzung vollkommen frei werten kann, ist mir eine reine Jurywertung wesentlich angenehmer, als wenn Millionen Menschen alles bewerten, nur nicht das Lied, und somit Ergebnisse zustande kommen, die nicht einmal ansatzweise etwas mit dem eigentlichen Wettbewerb zu tun haben.
Ja genau – “im optimalen Fall”. Und jetzt will ich sehen, wo du 200 oder mehr perfekte Juroren hernehmen willst. Wenn die Jurys deiner Meinung nach sowieso nur Volkes Wille vertreten sollen, können wir auch direkt ins Radio gehen oder die Leute auf Youtube über die Präsentationsvideos abstimmen lassen, dann braucht es keine aufwendige Bühnenshow. Aber dann wäre der ESC tot.
Und “musikalischer Sachverstand”? Was heißt das bitte in Bezug auf Popmusik? Wenn ich einen Klassik-Fachmann, einen Jazzer, einen Metalfan, einen World-Music-Experten und einen Progressive-Rock-Freak in die Jury setze, werde ich fünf völlig unterschiedliche Listen bekommen, von denen wiederum keine einzige was mit dem Geschmack der Allgemeinheit zu tun haben dürfte. Und selbst wenn ich die Auswahlkriterien enger ziehe: ein Plattenboss (gibt’s die noch?) sieht Musik mit völlig anderen Augen als ein Clubbesitzer, ein Radiomoderator oder eine Sängerin. Auch deren Listen dürften also völlig unterschiedlich ausfallen. (Und mal mit reinem musikalischem Sachverstand geurteilt: Cezar war einer der technisch besten Sänger 2013. Warum wurde er von den Jurys so herabgewertet?)
Jurys können völlig unwürdigen Kram, der den Durchschnittszuschauer mit Bühnenzauber blendet, herausfiltern (wie Russland 2012), aber sobald wir das Reich der groben musikalischen Schnitzer verlassen, kommen wir da in sehr subjektive Areale. Warum gibt es Listen der “schlechtesten Hits des Jahres”? Weil manche Leute Lieder aufs Blut hassen, die anderen Leuten gut gefallen, und das (beides) nicht nur ironisch. Ich könnte hier jetzt Namen in den Ring werfen – die Klassiker, wie “We Built This City”, “Everything I Do”, “Macarena”, “Barbie Girl”, “Dragostea Din Tei” und so weiter. Jeder einzelne dieser Songs war ein Riesenhit und hat(te) Millionen von Fans. Im Gegensatz zu Meisterwerken des schlechten Films wie “Plan 9 from Outer Space” oder “The Room” ist es bei Musik enorm schwierig, irgendwas zu finden, bei dem sich alle einig sind, dass es Grütze ist und man das höchstens als Guilty Pleasure gut finden darf (vielleicht, weil die absolute Grütze es nicht in die Charts oder auch nur auf Platte schafft, wenngleich sich das gerade ändert, siehe virale Internet-Hits wie “Friday” oder “Gangnam Style”).
Musik ist die emotionalste und unmittelbarste aller Künste, und sie in ein Bewertungsschema zu pressen, ist ziemlich albern. Aber da “albern” seit 1956 Grundbestandteil des ESC ist, passt das insoweit wieder ganz gut. Es ist der Eurovision Song Contest – hier werden Gesamtpakete bewertet, geschnürt aus Lied und Auftritt. Solange hier Menschen Musik beurteilen, wird es immer Urteile geben, bei denen sich andere Menschen nur fassungslos vor den Kopf schlagen.
Da, wo Menschen im Spiel sind, gibt es keine Perfektion.
Mit deinem Vorschlag nähern wir uns doch der bestmöglichen Methode, nämlich, dass die Menschen selber entscheiden und zwar jeder nur einmal und nur hinsichtlich des Liedes; und dies kann sehr wohl nach Live-Auftritten auf der Bühne passieren und muss nicht im Internet, was ich eh ablehne, da auch heutzutage sich nicht jeder im Internet aufhält. Außerdem sollte die Stimmabgabe Aller im selben Zeitraum erfolgen, was im Internet nicht gewährleistet ist.
Unter musikalischem Sachverstand verstehe ich die Fähigkeit, die Kriterien, die ein Lied ausmachen, qualitativ einordnen zu können. Selbstverständlich haben Musiker aus unterschiedlichen Genres verschieden Ansätze und ich erwarte von einem professionellen Musiker, dass er in der Lage ist, über seine selbstgesteckten Genregrenzen hinaus auch Musik anderer Genres objektiv beurteilen zu können.
Hinsichtlich Cezar gebe ich dir Recht, aber nur in Bezug auf die Stimme, was aber nicht das einzige Merkmal eines Liedes ist. Dazu gehören auch noch beispielsweise Arrangement, Akkorde, Melodie. Warum die Jury das Lied abgewertet hat, sollte man die Jurymitglieder fragen und sich dann eventuell über die Zusammenstellung der Jury Gedanken machen.
Dass in der Chartmusik der Erfolg eines Liedes mehr davon abhängt, wie es vermarktet wird, und weniger, welche Qualität es hat, ist evident. Und ob jemand ein Lied hasst, hängt auch eher davon ab, wie oft jemand dieses Lied hört. Wo wir wieder bei subjektiver Empfindung sind, die bei der Bewertung eines Liedes völlig unbrauchbar ist.
Damit wir uns wenigstens in einem Punkt einig sind ;-), stimme ich mit dir völlig überein, dass sich beim ESC immer wesentlich mehr Menschen finden, die mit dem Ergebnis nicht zufrieden als umgekehrt, was auch vollkommen normal ist, wenn ich mich aus 25 Liedern für eins entscheiden soll, habe ich immer die Menschen gegen mich, die eins von den anderen 24 besser fanden.
Vielleicht stimmen wir beide nochmal überein: Mein diesjähriger Favorit ist Norwegen.
Mein Problem dabei ist folgendes: wie bewerte ich, wenn ich einen Live-Auftritt gesehen habe, nur das Lied und nicht den Auftritt an sich? Ein fantastischer Sänger ohne jedes Charisma wird anders bewertet (nämlich höchstwahrscheinlich schlechter, solange man keine Roboter in die Jurys setzt) als ein mittelmäßiger Sänger mit der Ausstrahlung eines Frank Sinatra. Wo sind da die Grenzen zu ziehen?
Und wo bitte finde ich Juroren, die einen so wilden Genremix wie beim ESC nach deinen Standards sinnvoll beurteilen können? Wo soll ich in einem Land wie Island oder San Marino fünf Leute hernehmen, die bulgarische Kehlgesänge ebenso gut beurteilen können wie finnischen Punk, portugiesischen Fado-Pop oder aserischwedischen Dancepop? Wo soll ich diese Leute selbst in Deutschland oder Russland finden? Wie wähle ich die Juroren aus? Wie prüfe ich ihre Befähigung? Sowas funktioniert vielleicht noch bei sowas wie San Remo, aber doch nicht bei einem europaweiten Wettbewerb mit potenziell fünfzig teilnehmenden Ländern. Ich behaupte einfach mal, dass es nach diesen Kriterien schlicht niemanden auf der Welt gibt, der zum Jurydienst wirklich tauglich wäre – was schon daran liegt, dass ein Fan eines Genres an diversen anderen eben deren Kerneigenschaften hassen wird; wenn ich Punk für seine rebellische Einstellung und die “Rückbesinnung auf das Einfache” mag, werde ich mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Progressive Rock, der auf Instrumentengefrickel und Komplexität aufbaut, eher nichts anfangen können. Wo ist dieser hypothetische Mensch, dem alle Genres gleich gut gefallen, damit er/sie auch alle gleich gut bewerten kann?
Es ist schlicht nicht möglich, Musik objektiv zu bewerten – wenn das ginge, gäbe es ein absolut akzeptiertes Ranking des Gesamtwerks jedes einzelnen klassischen Komponisten, bei denen wir inzwischen Jahrzehnte bis Jahrhunderte Zeit hatten, einen Konsens zu finden. Aber genau das ist nicht passiert – wenn man zehn moderne Klassikfans oder selbst Musikprofessoren um eine entsprechende Rangliste bittet, wette ich, dass diese Listen nicht absolut identisch sein werden. Kunst – insbesondere eine so emotional aufgeladene wie Musik – ist keine Wissenschaft und jenseits einer gewissen technischen Beherrschung eben nicht nach irgendwelchen unparteiischen Kriterien bewertbar. Und selbst diese technische Beherrschung ist genreabhängig – ein exzellenter klassischer Perkussionist wird sich monoton und roboterhaft anhören, wenn er mit der erlernten Präzision versucht, ein Jazzstück zu spielen, das gerade von leichten Unregelmäßigkeiten lebt.
Und warum bitte soll es davon abhängen, wie oft ich ein Lied höre, bevor ich es hasse? Ich weiß meistens nach dem ersten Hören (oder schon währenddessen), dass ich einen Song auf den Tod nicht leiden kann. Der Hass wird sich natürlich intensivieren, wenn ein Großteil der Menschen das anders sieht und ich dem Song deshalb einen ganzen Sommer lang nicht entkommen kann.
Und um auf den letzten Absatz einzugehen: Rumänien. Sorry. 😉 (Norwegen ist aber auch recht hoch angesiedelt, wenngleich mich der Fanhype um das Teil ratlos zurücklässt.)
Die Interpretation gehört natürlich zum Lied dazu. Eine brillanter Sänger schafft es nicht, aus einem schlechten Lied ein Gutes zu machen. Andersrum geht das freilich.
Ich gebe dir vollkommen recht, dass eine optimale Jurybesetzung beim ESC nicht umzusetzen ist. Aber man kann wenigstens versuchen, sich dem anzunähern. Wenn ich allerdings sehe, dass in der deutschen fünfköpfigen Jury vom vergangenen Jahr Sido Mitglied ist, muss ich leider testieren, dass man sich nicht allzu viel Mühe gegeben hat.
Ich hoffe, dass wir uns einigen können, dass Yesterday von den Beatles ein besseres Lied ist als Cheri Cheri Lady von Modern Talking. Und wenn ich beide Lieder untersuche, gibt es dafür auch klar benennbare Gründe. Hierfür kann ich dir herzlich Klaus Kauker, insbesondere seine bei Youtube anzutreffenden Beiträge, ans Herz legen. Dennoch gibt es sicherlich nicht wenige Menschen, die es genau anders sehen. Denn während Yesterday lediglich bis auf Platz 6 der Charts gelangt ist, stand Cheri Cheri Lady zwei Wochen lang auf Platz 1.
Wenn ich jedes Mal 1 Euro bekäme, wenn ein bestimmtes Lied im Radio läuft und mir jemand sagt: “Ich kann es nicht mehr hören!”, bräuchte ich nicht mehr zu arbeiten. Vergangenen Samstag habe ich von einem meiner Freunde genau diese Aussage hinsichtlich des aktuellen Liedes von Major Lazer gehört. Das geschieht relativ häufig, wenn ein bestimmtes Lied im Radio rauf- und runtergedudelt wird.
Rumänien habe ich im oberen Drittel, aber meines Erachtens gibt es dieses Jahr auch viele exzellente Titel.
Auf die Gefahr hin, diese absolut überflüssige Debatte noch künstlich in die Länge zu ziehen: warum genau ist Sido – ein sehr erfolgreicher Musiker, auch wenn einige Menschen bis heute nicht begriffen haben, dass auch Rap und Hip-Hop unter den großen Oberbegriff “Musik” fallen – anscheinend dein Leitbeispiel für eine schlechte Jurybesetzung? Warum ist er weniger qualifiziert als andere Musiker? Weil er unsympathisch ist? Darin sind wir uns wohl einig, aber das hat mit seiner Eignung für die Jury exakt gar nichts zu tun. Weil er mit seiner Unwissenheit in bestimmten musikalischen Dingen kokettiert? Darin ist er ehrlicher als neunzig Prozent der anderen Jurymitglieder in ganz Europa, denn wie schon oben angemerkt gibt es wohl niemanden, der über alle beim ESC vertretenen musikalischen und kulturellen Eigenheiten Bescheid weiß; Sido gibt das wenigstens offen zu.
Und die “Yesterday”-Sache ist wirklich witzig – beim Hausherrn würdest du mit dem Vergleich vermutlich vor die Wand laufen, der betrachtet nämlich Abba als wichtiger für die Popmusik als die Beatles. Das ist objektiv betrachtet Unfug – man zeige mir bitte die Einflüsse, die Abba auf die Popmusik außerhalb des ESC-Zirkus ausgeübt haben, die sich auch nur ansatzweise mit der Bedeutung der Beatles für besagte Musik vergleichen lassen – aber subjektiv eben auch nicht widerlegbar, denn was gefällt, gefällt, und was nicht gefällt, das gefällt eben nicht. Ich kann mit der Musik, die Dieter Bohlen schreibt, nichts anfangen, aber ich bin durchaus in der Lage, seine Fähigkeiten als Autor anzuerkennen – nämlich aus zweieinhalb Akkorden einen Hit nach dem anderen zu machen. Und ich bin mir fast sicher, dass mehr Menschen etwa meiner Generation oder ein bisschen älter in Deutschland “Cherie Cherie Lady” mitsingen könnten als “Yesterday”. Letzteres ist der bessere Song? Aber hallo – wobei es genug Beatles-Fans gibt, die Yesterday auf den Tod nicht leiden können, aber das ist bei fast allen Kompositionen des Hauptsongschreibers der Band so, der im Gegensatz zu John Lennon nicht den Anstand hatte, zeitig von der Bühne des Lebens abzugehen.
Natürlich kann ich sagen, dass 80er-Disco-Trash “schlechter” ist als 60er-Songwriter-Pop. Wenn es aber nur um solche objektiven Kriterien ginge, wäre es eben möglich, die Songs der Beatles (oder die Songs jeder anderen Band, oder die Liste der Nummer-1-Hits) in eine zumindest ansatzweise akzeptierte Rangfolge zu bringen, so dass ein Großteil der Fachleute sich darüber einig wäre, wo “Yesterday” im Vergleich zu “Strawberry Fields Forever” oder “While My Guitar Gently Weeps” hingehört. Aber eine solche Rangfolge gibt es nicht. Einer meiner Lieblingssongs von den Beatles ist “Octopus’s Garden” – ein Song, der vom Großteil der ernstzunehmenden Beatles-Forschung komplett ignoriert wird, weil es sich im Grunde um ein Kinderlied handelt, bei dem die beiden hohen Herren Lennon/McCartney sich mal dazu herabgelassen haben, ihren Drummer einen Song schreiben zu lassen. Mir gefällt dieser “geringere” Eintrag in den Beatles-Katalog aber deutlich besser als zum Beispiel fast alle Songs von George Harrison, die ich zum Großteil sturzlangweilig finde. Selbst die Bewertung der Bedeutung von Ringo für die Beatles hat sich über die Jahre immer wieder gewandelt, von “mittelmäßiger Drummer, der das unverschämte Glück hatte, bei der größten Band aller Zeiten zu spielen” bis hin zu “rhythmisches Grundgerüst, ohne dass die restlichen Beatles nie so großartig geworden wären”. Ringo ist objektiv betrachtet kein sonderlich technisch versierter Schlagzeuger, wenn man ihn mit Koryphäen wie John Bonham oder Charlie Watts vergleicht. Aber wären die Beatles zwingend eine bessere Band gewesen, wenn sie ein echtes Genie am Schlagzeug gehabt hätten?
Welche Büchse habe ich da geöffnet…
Erfolg bedeutet nicht Qualität. Womit Sido anfangs Erfolg hat, zeigt eigentlich nur, wie niveaulos unsere Gesellschaft oder zumindest ein Teil davon mittlerweile geworden ist. Warum sollte Sido unsympathisch sein und warum sollte dies bei meiner Meinung, ob er in die Jury passt, eine Rolle spielen? Entweder projizierst du deine Ansichten auf mich oder du verbreitest völlig haltlose Unterstellungen. Ich drehe deine Frage einmal herum und möchte gerne wissen, warum Sido ein geeignetes Jurymitglied sein soll. Er hat keinerlei musikalische Ausbildung und somit keine Referenzen vorzuweisen, Mitglied einer Jury in Musikfragen zu sein. Wenn jemand im Berufsleben keine abgeschlossene Ausbildung hat, kann er zwar in einem Berufsfeld arbeiten, aber ob das sinnvoll ist, ist eine andere Frage. Um Anwalt zu sein, muss man Jura studieren und zwei Staatsexamen erfolgreich absolvieren. Hoffentlich gerate ich niemals an eine Person, die mich operiert, obwohl sie nie erfolgreich Medizin studiert hat.
Dein Vergleich der Beatles mit Abba finde ich herrlich. Subjektiv gefällt mir die Musik von Abba generell besser als die der Beatles und dennoch bin ich in der Lage, objektiv zu konstatieren, dass die Beatles im Durchschnitt die bessere Musik kreiert haben. Dieter Bohlen ist ein brillanter Produzent mit einem äußerst eingeschränkten Repertoire. Er kann musikalisch nur sehr wenig aber dies exzellent.
Zu den Beatles kann ich aufgrund mangelnder Kenntnis leider nichts Erhellendes beisteuern. Aber Keith Moon, Gott hab ihn selig, hätte den Beatles als Drummer sicher nicht schaden können.
Wenn du Sidos Erfolg mit der Niveaulosigkeit gewisser Gesellschaftsteile erklärst, impliziert das schon bestimmte Dinge über ihn und seine Fans. Zu seiner Qualifikation: Sido ist ein erfolgreicher Musiker, mit Chartplatzierungen über die letzten elf Jahre. Das ist eine nicht abzustreitende Tatsache, und wie viel oder wenig er über Musik weiß (ganz unbeleckt wird er in der Hinsicht nach 10+ Jahren im Geschäft allerdings auch nicht sein, wenn er nicht der lernresistenteste Mensch ist, der je geboren wurde) wissen weder du noch ich genau, insofern projizierst du da auch deine eigenen Vorurteile auf ihn.
Und zum letzten Absatz: Doch, hätte er. Die Beatles hatten mehrere Phasen, in denen Ringo der Leim war, der die Truppe zusammenhielt, was direkt auf seine Bescheidenheit und Dankbarkeit zurückging, Teil dieser Band zu sein. Mit einem Keith Moon oder einem John Bonham am Schlagzeug wäre die Band schon um 1967 auseinandergefallen, weil niemand im titanischen Ego-Kampf zwischen John Lennon und Paul McCartney hätte vermitteln können – im Gegenteil hätte ein genialerer Drummer sich vermutlich an diesen Ego-Kämpfen beteiligt -, und dann wären die Beatles nie der Goldstandard guter Popmusik geworden, der sie heute sind – kein “Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band”, kein Weißes Album, kein “Abbey Road”. Aber ich wäre dafür, die Dose an dieser Stelle wieder zuzumachen. Keiner von uns beiden wird den anderen an dieser Stelle noch von irgendwas überzeugen, weil wir inzwischen wahrscheinlich beide der Meinung sind, der andere sei einfach nur zu stur, um das Licht zu sehen. Wir sind inzwischen hier angekommen: https://xkcd.com/386/ – und das ist kein guter Aufenthaltsort. Angenehmen Tag noch.
Wie schon gesagt: Erfolg heißt nicht Qualität und ist gute Arbeit ist dafür keine Voraussetzung! Das ist in der Arbeitswelt genauso. Jemand kann Erfolge verbuchen, ohne auch nur ansatzweise Kompetenz zu besitzen. Sido kann kein Instrument spielen und hat keine Gesangsausbildung. Er ist als Jurymitglied eines Liederwettbewers genauso unbrauchbar wie ich. Und das hat nichts mit Vorurteilen zu tun. Das ist ebenso Tatsache wie seine Plattenverkäufe. Wenn man natürlich nur das versteht, was man verstehen möchte, dann gebe ich dir recht. Außerdem habe ich den Eindruck, dass du unserem Dialog wesentlich mehr Bedeutung beimisst als sich. Man kann schließlich nicht den ganzen Tag Minesweeper spielen.