Die Lösung

Ende Okto­ber 2019 ließ die Mel­dung der spa­ni­schen Dele­ga­ti­ons­lei­te­rin Toñi Prie­to auf­hor­chen, die EBU füh­le gera­de bei den Sen­dern vor, wie dort die Stim­mung in Sachen Jury und / oder Tele­vo­ting ste­he. Nach den mas­si­ven Pein­lich­kei­ten rund um die feh­ler­be­haf­te­te Abstim­mung in Tel Aviv kein Wun­der. Daher nun mei­ne vier per­sön­li­chen Lieb­lings­ideen für das Voting­ver­fah­ren, die uns aus dem tie­fen Jam­mer­tal in eine hel­le, gol­de­ne Zukunft füh­ren und alle Pro­ble­me mit einem Schlag lösen. Ohne mich jetzt selbst all zu sehr loben zu wol­len *hüs­tel*. Lie­be ESC-Ver­ant­wort­li­chen: ihr dürft Euch hier jeder­zeit ger­ne kos­ten­los bedienen!

1. Raus heißt raus

Die ers­te davon setzt die EBU seit 2008 sogar schon um. Aller­dings lei­der erst zur Hälf­te, näm­lich in den bei­den Qua­li­fi­ka­ti­ons­run­den. Dort dür­fen näm­lich nur die­je­ni­gen meist so zwi­schen 16 und 19 Län­der mit­stim­men, die auch jeweils in die­ser Run­de teil­neh­men (plus, durch Los­ver­fah­ren einem der bei­den Semis zuge­ord­net, die Big Five). Was sich als her­vor­ra­gend wirk­sa­me Maß­nah­me zur Ein­gren­zung des Nach­bar­schafts­vo­ting her­aus­stell­te. Seit­her liegt die West­quo­te bei den Qualifikant/innen aus bei­den Semis deut­lich höher und es wer­den nicht mehr, wie noch 2007, auf Teu­fel komm raus Bei­trä­ge aus dem Bal­kan und dem ehe­ma­li­gen Ost­block durch­ge­wun­ken. Und mal abge­se­hen davon, dass seit ihrer Wie­der­ein­füh­rung die ver­ma­le­dei­ten und dafür von mir bis aufs Blut ver­hass­ten Jurys in den bei­den Halb­fi­na­len Jahr für Jahr unwei­ger­lich die bes­ten Num­mern raus­kan­ten, ent­spre­chen die Semi-Wer­tun­gen seit­her im Gro­ßen und Gan­zen den gezeig­ten musi­ka­li­schen Leis­tun­gen. Nur im sams­täg­li­chen Fina­le bricht sich (trotz Jury!) wei­ter­hin offen natio­na­lis­ti­sches Abstim­mungs­ver­hal­ten freie Bahn. Denn dort dür­fen nach wie vor alle 40+ Natio­nen des jewei­li­gen Jahr­gangs mit­stim­men, inklu­si­ve der bereits Aus­ge­schie­de­nen. War­um also nicht die Mit­mach­re­gel auf das Fina­le anwen­den und so die Aus­wüch­se erfolg­reich eindämmen?

Oli­via Lewis, Opfer des obsti­na­ten Ostblocks.

2. Das Züng­lein an der Waage

Die von der EBU als Grund für die Abstim­mungs­be­rech­ti­gung der Aus­ge­schie­de­nen ins Feld geführ­ten Ein­schalt­quo­ten tau­gen nicht als über­zeu­gen­des Gegen­ar­gu­ment: in den nicht für das Fina­le qua­li­fi­zier­ten Län­dern schau­en am Sams­tag erfah­rungs­ge­mäß ohne­hin fast nur noch die Migrant/innen zu. Und rufen für ihr Her­kunfts­land an: das berüch­tig­te Dia­spo­ra­vo­ting. Die EBU züch­tet sich also das durch die Jurys angeb­lich zu bekämp­fen­de Pro­blem selbst! Für wahr­schein­li­cher hal­te ich, dass es eigent­lich um die Ein­nah­men aus dem Tele­fon­vo­ting geht. Denn wäh­rend die ARD mit nur 14 Cent pro Fest­netz­an­ruf ledig­lich den Min­dest­preis der Tele­kom wei­ter­be­rech­net, ohne selbst dar­an zu ver­die­nen, kas­sie­ren vie­le klei­ne­re Sen­der teils bis zu einem Euro. Aus den so ent­ste­hen­den Mehr­ein­nah­men refi­nan­zie­ren die­se zu nicht uner­heb­li­chen Antei­len ihre Euro­vi­si­ons­teil­nah­me. Daher bie­tet es sich alter­na­tiv an, das Tele­vo­ting im Fina­le in allen 40+ Teil­neh­mer­län­dern zwar wei­ter­hin zuzu­las­sen die Voten aus den nicht qua­li­fi­zier­ten Natio­nen aber zu einer sechs­und­zwan­zigs­ten Gesamt­stim­me (“Rest­eu­ro­pa”) zusam­men­zu­fas­sen. Die könn­te man dann ganz am Ende ver­le­sen und von mir aus sogar mit der dop­pel­ten Punk­te­zahl gewich­ten. Damit käme die­sen Län­dern die Funk­ti­on des Züng­leins an der Waa­ge zu: ein her­vor­ra­gen­der Anreiz, zuzu­schau­en und mit­zu­stim­men, auch für die indi­ge­nen Bewohner/innen!

Span­nung bis zum letz­ten Ergeb­nis, das geht auch ohne Jury!

3. Ein Land, eine Stimme

Und ja, ich weiß: Dima Bilan (der Aus­lö­ser der gan­zen Debat­te) hät­te 2008 nach obi­ger Metho­de eben­falls gewon­nen. Habe ich auch gar nix gegen. Mir geht es um die Plat­zie­run­gen Islands und Por­tu­gals in näm­li­chem Jahr. Und da ist mir die­se Tabel­le von Ste­fan Nig­ge­mei­er (Wer­tun­gen 2008 ohne Ost­län­der) sehr viel sym­pa­thi­scher als das amt­li­che End­ergeb­nis. Bis auf die unver­dient hohen Ergeb­nis­se für die gräss­li­che grie­chi­sche Heli­um-Shaki­ra und die tür­ki­schen Polit­ro­cker, die über­pro­por­tio­nal vom Dia­spo­ra­vo­ting der in West­eu­ro­pa leben­den Immigrant/innen pro­fi­tier­ten. Auch das lie­ße sich jedoch auf ein ver­tret­ba­res Maß zurück­füh­ren: in dem das von der EBU mit der Stimm­aus­zäh­lung beauf­trag­te deut­sche T‑Vo­te-Unter­neh­men Diga­me künf­tig pro Anschluss nur noch einen Anruf pro Land zählt. Ein Mensch – eine Stim­me: eigent­lich eine basis­de­mo­kra­ti­sche Rege­lung. Ich saß selbst schon sehr oft bei Bun­des­tags­wah­len als Hel­fer an der Urne. Da durf­te jeder nur einen Stimm­zet­tel rein­wer­fen, dar­auf ach­te­te ich stets pein­lich genau. Beim Song Con­test hin­ge­gen darf ich der­zeit inner­halb des Voting­fens­ters bis zu zwan­zig Mal anru­fen. Per­sön­lich ver­tei­le ich meist so an die zehn Anru­fe auf mei­ne drei Lieb­lings­ti­tel, nur im Fal­le Con­chi­tas gin­gen natür­lich 16 von 20 SMS-Voten an die Kai­se­rin. Was die hete­ro­nor­ma­ti­ve deut­sche Jury dann wie­der mut­wil­lig ent­wer­te­te, wofür alle Betei­lig­ten auf ewig in der Höl­le schmo­ren sollen!

Ers­te auch im deut­schen Tele­vo­ting, durch den offen trans­pho­ben Juror Sido und sei­ne Kolleg:innen aber zur natio­na­len Schan­de auf Rang 7 her­un­ter­ge­drückt: die Kaiserin.

Die der­zei­ti­gen Tele­vo­tin­g­er­geb­nis­se jeden­falls legen nahe, dass unter dem aktu­el­len Abstim­mungs­for­mat von Hei­mat­ge­füh­len getrie­be­ne Diasporavoter/innen von sämt­li­chen ver­füg­ba­ren Han­dys und Fest­netz­an­schlüs­sen aus jeweils bis zu zwan­zig Mal geschlos­sen für ihr Her­kunfts­land abstim­men. Was ihnen nicht vor­zu­wer­fen ist: die EBU lässt es ja aus­drück­lich zu! Durchschnittszuschauer/innen aber, die, wenn über­haupt, nur ein ein­zi­ges Mal für ihren Lieb­lings­song anru­fen, gehen bei die­sem Ver­fah­ren ziem­lich unter. Das lässt sich nur dann wirk­sam ent­zer­ren, wenn man nur noch die ers­te Stim­me für ein bestimm­tes Land zählt. So, dass maxi­mal 25 Anru­fe von einem Anschluss aus zuläs­sig wären: einer pro am Fina­le teil­neh­men­den Land, außer dem eige­nen. Davon bin und blei­be ich so lan­ge fel­sen­fest über­zeugt, bis ein tat­säch­lich durch­ge­führ­ter Lauf unter die­sen Bedin­gun­gen beim Grand Prix mir das Gegen­teil beweist. Und ich behaup­te sogar, dass dies noch nicht ein­mal nen­nens­wert nega­ti­ve Ein­flüs­se auf die Ein­nah­men aus dem Tele­vo­ting hät­te. Denn Otto Normalzuschauer/in ruft ohne­hin nur ein­mal an. Die deut­lich abstim­mungs­freu­di­ge­ren Hard­core-Grand-Prix-Fans aber haben meist mehr als nur eine/n Favorit/in, gäben also auch künf­tig meh­re­re Stim­men ab.

Die unter­halt­sam prä­sen­tier­te, leicht­flüs­si­ge Mélan­ge aus tra­shi­gem Euro­pop und tra­di­tio­nel­lem Joik über­zeug­te 2019 die geschmack­lich ver­sier­ten Zuschauer/innen.

4. Vor­sprung durch Technik

Ganz zum Schluss noch eine ver­rück­te Bonus-Idee: die digi­ta­le Voting-App von eurovision.tv, in ihrer aktu­el­len Aus­prä­gung ledig­lich ein umständ­li­cher Weg, schnö­de SMS zu ver­sen­den, lie­ße sich tech­nisch doch viel sinn­vol­ler nut­zen, um – gege­be­nen­falls als kos­ten­pflich­ti­ge Zusatz­funk­ti­on – ein per­sön­li­ches Ran­king zu erstel­len und damit Punk­te von 1 bis 12 für die eige­ne Top Ten oder gar von 1 bis 25 für alle Final­ti­tel abzu­ge­ben. Ich lie­ße mir so eine Ran­king-Funk­ti­on jeden­falls Geld kos­ten und bin damit sicher nicht der Ein­zi­ge. Denn nichts tun ech­te Euro­vi­sio­nis­tas lie­ber als Wer­tungs­rei­hen­fol­gen zu erstel­len. Das auf die­se Wei­se gewon­ne­ne Fan-Voting könn­te dann bei­spiels­wei­se unter gleich­zei­ti­ger Bei­be­hal­tung des regu­lä­ren Tele­vo­tings für die Normalzuschauer/innen die Jury kom­plett erset­zen. Denn nie­mand beschäf­tigt sich so umfas­send mit den Bei­trä­gen wie Grand-Prix-Fans, die wah­ren Expert/innen in Euro­vi­si­ons­fra­gen. Somit hät­te man alle Flie­gen mit einer Klap­pe geschla­gen: die zwei­tei­li­ge Punk­te­prä­sen­ta­ti­on bleibt und kann wei­ter für Span­nung bis zur letz­ten Sekun­de sor­gen, die fach­kun­di­ge­ren und objek­ti­ve­ren Hard­core-Fans bil­den ein Gegen­ge­wicht zu auf­merk­sam­keits­schwa­chen und nach­bar­schafts­af­fi­nen Durchschnittszuschauer/innen. Und das Ergeb­nis wäre nicht wei­ter fremd­be­stimmt durch will­kür­lich aus­ge­wähl­te, ten­den­zi­ell erz­kon­ser­va­ti­ve, natio­na­lis­ti­sche und homo­pho­be Jurys.

Gehasst von den Jurys: “die Has­sen­den” (Hat­a­ri) aus Island mit “Der Hass wird sie­gen”. Q.e.d.

Stand: 30.10.2019

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17 Comments

  • Zwei­mal “ehr­lich”: Ich habe das heu­te erst­ma­lig gele­sen und ich habe alle 5 Tei­le die­ses  sowohl unter­halt­sa­men (fast wie immer 😉 ) als auch pro­fun­den (hehe) Ein­tra­ges gele­sen. Und mit Freu­den  die Lösung, der sich mit mei­ner deckt – ja, so könn­te es gehen. Auch wenn ich natür­lich nicht immer mit dem Musik­ge­schmack des Blog­gers über­ein­stim­me, denn ich moch­te sowohl More­na als auch Niamh. Aber so soll es ja auch sein. Lie­be Grü­ße von Wahl­hel­fer zu Wahlhelfer 😉

  •  Eine Schwu­len­ju­ry­wer­tung pro Land und der ESC lie­fe rich­tig rund!

  • Bezüg­lich: “Ach ja, mal wie­der mit Span­nung auf das letz­te Ergeb­nis war­ten, das wäre schön!”
    Genau das hät­ten wir im letz­ten Jahr ja gehabt! Aber nur wegen der Jury­wer­tung ist uns ein Kri­mi am Tableau vor­ent­hal­ten wor­den. Das ver­ge­be ich der EBU nie! Zumin­dest zeigt es aber, dass span­nen­de Wer­tun­gen auch heu­te noch mög­lich sind.

  • Hal­te ich in der Tat für eine gute Idee. Auch das mit den Stim­men von “Rest­eu­ro­pa”. Und der Umstand, dass in vie­len Län­dern die Zahl der mög­li­chen Publi­kums­stim­men nicht begrenzt ist (oder wie letz­tes Jahr zumin­dest die Gren­ze erst bei 20 Anru­fen zieht), ist ein Skan­dal. Wie wur­de der Wett­be­werb dadurch schon zuguns­ten der Tür­kei ver­zerrt? One man – one vote. Etwas ande­res ist schlicht eine Saue­rei! Mei­ne Stim­men für Slo­we­ni­en und Island waren dadurch um ein Viel­fa­ches weni­ger wert – weil ich nur eine Stim­me abge­ge­ben habe. Einer­seits regen sich alle über die Regimes in Aser­bai­dschan, Weiß­russ­land und der Ukrai­ne auf und het­zen ger­ne gegen die harm­lo­sen Refor­men des demo­kra­tisch gewähl­ten Orban aus Ungarn, aber über die­se unde­mo­kra­ti­sche Saue­rei beschwert sich kei­ner, der Rang und Namen hat.

    Nur wür­de ich sagen, dass die Leis­tung der Jury in den letz­ten Jah­ren gar nicht so schlecht war. Ich fin­de es gut, dass Däne­mark (2011), Bel­gi­en (2010) und – davon kann man wohl aus­ge­hen – Alba­ni­en (2012) auf die­se Wei­se auf­ge­wer­tet wur­den, wäh­rend furcht­bar pri­mi­ti­ve Musik wie Nor­we­gen (2011) oder Russ­land (2011 + 2012, wovon man aus­ge­hen kann) abge­wer­tet wur­den, auch wenn mir die Num­mer von die­sem Jahr Spaß gemacht hat. Gera­de durch die Wer­tun­gen der Jury – die die Bal­kan-Macht übri­gens durch­aus etwas abge­schwächt hat und die­se Län­der nun im Schnitt weni­ger Punk­te bekom­men – wer­den Kata­stro­phen­wer­tun­gen zum Glück öfter ver­hin­dert. Auch wenn die Jurys die­ses Jahr den Sieg Schwe­dens nicht ver­hin­dert haben. War­um auch immer, ich fand es grau­sam. Man kann aber natür­lich trotz­dem viel kri­ti­sie­ren, z.B. die bis­wei­len wenig nach­voll­zieh­ba­re Zusam­men­set­zung der Jurys (was hat z.B. Engel­ke mit Musik zu tun? Was qua­li­fi­ziert sie hier zu bewer­ten? Was hat Tim Bendz­ko bis­her groß geleis­tet, außer den BSC und einen New­co­mer-Award gewon­nen zu haben?) und die ver­meint­li­che Kor­rup­ti­ons­an­fäl­lig­keit. Ande­rer­seits besteht immer irgend­wo Miss­brauchs­ge­fahr und bei der Jury kann man ver­schie­de­ne Schutz­me­cha­nis­men (zusätz­lich zur Geheim­hal­tung der Jury-Mit­glie­der) ein­bau­en. Der Ver­dacht, dass Aser­bai­dschan beim “Tele­vo­ting” in klei­nen Län­dern (z.B. Mal­ta) betrügt ist aus mei­ner Sicht viel gra­vie­ren­der. Ich bin also ein Anhän­ger der Jurys, zumal in der obi­gen Aus­füh­rung (zumin­dest im Kapi­tel “Lösung”) nicht expli­zit deren Abschaf­fung gefor­dert wird. 

    Eine Peti­ti­on an die EBU mit den hier genann­ten bei­den gro­ßen Reform­vor­schlä­gen wür­de ich gleich unter­schrei­ben (wobei das zwei­te eigent­lich gar kei­ne Reform, son­dern die Her­stel­lung einer Selbst­ver­ständ­lich­keit ist).

  • Größ­ten­teils kann ich dem ja zustim­men, aber ich hof­fe doch mal stark, dass der ers­te Abschnitt iro­nisch gemeint ist. Eine im all­täg­li­chen Leben der Men­schen letzt­lich kom­plett bedeu­tungs­lo­se Ver­an­stal­tung auf eine Stu­fe mit dem zu stel­len, was Vik­tor Orban in Ungarn ver­an­stal­tet (inwie­fern ist das, was die­ser Mensch da treibt, bit­te “harm­los”?), ist knapp vor einem Godwin. 

  • Oh bit­te. Ja, 2011 wäre ohne Jurys span­nen­der gewe­sen. Und 2010 ohne Tele­vo­ter (zwei Punk­te Abstand von Lena zu Tom Dice). Was bit­te beweist das? (Und war­um lese ich 2013 noch die­se Bei­trä­ge und ant­wor­te darauf? 😉 )

  • Solan­ge die Zuschau­er mehr als eine Stim­me haben und Zuschau­er nicht für das Lied, das am Bes­ten ist bzw. das sie am Bes­ten fin­den, anru­fen (wegen Natio­nal­stolz etc.), ist das Tele­vo­ting unbrauch­bar und nur in der Theo­rie die opti­ma­le Methode.

  • Im Gegen­satz wozu genau? Jury­wer­tun­gen? Auch Jurys bestehen aus Men­schen, und Men­schen tref­fen ihre Ent­schei­dun­gen nicht nur basie­rend dar­auf, wel­ches Lied sie am bes­ten fin­den – oder glaubt hier jemand ernst­haft, die fünf fünf­und­zwan­zigs­ten Plät­ze in der Jury­wer­tung Arme­ni­ens für Aser­bai­dschan und umge­kehrt sei­en nur des­halb zustan­de gekom­men, weil zufäl­lig fünf Arme­ni­er “Start a Fire” und fünf Ase­ris “Not Alo­ne” gehasst haben?

  • Die Sache mit Arme­ni­en und Aser­bai­dschan im ver­gan­ge­nen Jahr hät­te bei mir eh dazu geführt, dass bei­de Län­der für die­ses Jahr nicht teil­nah­me­be­rech­tigt gewe­sen wären.

    Gemäß Defi­ni­ti­on ist eine Jury ein Gre­mi­um, des­sen Auf­ga­be es ist, unter den Bewer­bern für einen Preis den oder die Preis­wür­digs­ten herauszufinden.

    Im opti­ma­len Fall spie­len dabei per­sön­li­che Vor­lie­ben kei­ne Rol­le. Eine Jury soll so wer­ten, wie sie glaubt, dass die Mehr­heit der Men­schen wer­ten würde.

    Wenn eine Jury rich­tig besetzt ist (im Fal­le des ESC mit Per­so­nen, die musi­ka­li­schen Sach­ver­stand haben) und die Beset­zung voll­kom­men frei wer­ten kann, ist mir eine rei­ne Jury­wer­tung wesent­lich ange­neh­mer, als wenn Mil­lio­nen Men­schen alles bewer­ten, nur nicht das Lied, und somit Ergeb­nis­se zustan­de kom­men, die nicht ein­mal ansatz­wei­se etwas mit dem eigent­li­chen Wett­be­werb zu tun haben.

  • Ja genau – “im opti­ma­len Fall”. Und jetzt will ich sehen, wo du 200 oder mehr per­fek­te Juro­ren her­neh­men willst. Wenn die Jurys dei­ner Mei­nung nach sowie­so nur Vol­kes Wil­le ver­tre­ten sol­len, kön­nen wir auch direkt ins Radio gehen oder die Leu­te auf You­tube über die Prä­sen­ta­ti­ons­vi­de­os abstim­men las­sen, dann braucht es kei­ne auf­wen­di­ge Büh­nen­show. Aber dann wäre der ESC tot.

    Und “musi­ka­li­scher Sach­ver­stand”? Was heißt das bit­te in Bezug auf Pop­mu­sik? Wenn ich einen Klas­sik-Fach­mann, einen Jaz­zer, einen Metal­fan, einen World-Music-Exper­ten und einen Pro­gres­si­ve-Rock-Freak in die Jury set­ze, wer­de ich fünf völ­lig unter­schied­li­che Lis­ten bekom­men, von denen wie­der­um kei­ne ein­zi­ge was mit dem Geschmack der All­ge­mein­heit zu tun haben dürf­te. Und selbst wenn ich die Aus­wahl­kri­te­ri­en enger zie­he: ein Plat­ten­boss (gibt’s die noch?) sieht Musik mit völ­lig ande­ren Augen als ein Club­be­sit­zer, ein Radio­mo­de­ra­tor oder eine Sän­ge­rin. Auch deren Lis­ten dürf­ten also völ­lig unter­schied­lich aus­fal­len. (Und mal mit rei­nem musi­ka­li­schem Sach­ver­stand geur­teilt: Cezar war einer der tech­nisch bes­ten Sän­ger 2013. War­um wur­de er von den Jurys so herabgewertet?)

    Jurys kön­nen völ­lig unwür­di­gen Kram, der den Durch­schnitts­zu­schau­er mit Büh­nen­zau­ber blen­det, her­aus­fil­tern (wie Russ­land 2012), aber sobald wir das Reich der gro­ben musi­ka­li­schen Schnit­zer ver­las­sen, kom­men wir da in sehr sub­jek­ti­ve Area­le. War­um gibt es Lis­ten der “schlech­tes­ten Hits des Jah­res”? Weil man­che Leu­te Lie­der aufs Blut has­sen, die ande­ren Leu­ten gut gefal­len, und das (bei­des) nicht nur iro­nisch. Ich könn­te hier jetzt Namen in den Ring wer­fen – die Klas­si­ker, wie “We Built This City”, “Every­thing I Do”, “Mac­a­re­na”, “Bar­bie Girl”, “Dra­go­s­tea Din Tei” und so wei­ter. Jeder ein­zel­ne die­ser Songs war ein Rie­sen­hit und hat(te) Mil­lio­nen von Fans. Im Gegen­satz zu Meis­ter­wer­ken des schlech­ten Films wie “Plan 9 from Outer Space” oder “The Room” ist es bei Musik enorm schwie­rig, irgend­was zu fin­den, bei dem sich alle einig sind, dass es Grüt­ze ist und man das höchs­tens als Guil­ty Plea­su­re gut fin­den darf (viel­leicht, weil die abso­lu­te Grüt­ze es nicht in die Charts oder auch nur auf Plat­te schafft, wenn­gleich sich das gera­de ändert, sie­he vira­le Inter­net-Hits wie “Fri­day” oder “Gang­nam Style”). 

    Musik ist die emo­tio­nals­te und unmit­tel­bars­te aller Küns­te, und sie in ein Bewer­tungs­sche­ma zu pres­sen, ist ziem­lich albern. Aber da “albern” seit 1956 Grund­be­stand­teil des ESC ist, passt das inso­weit wie­der ganz gut. Es ist der Euro­vi­si­on Song Con­test – hier wer­den Gesamt­pa­ke­te bewer­tet, geschnürt aus Lied und Auf­tritt. Solan­ge hier Men­schen Musik beur­tei­len, wird es immer Urtei­le geben, bei denen sich ande­re Men­schen nur fas­sungs­los vor den Kopf schlagen.

  • Da, wo Men­schen im Spiel sind, gibt es kei­ne Perfektion.

    Mit dei­nem Vor­schlag nähern wir uns doch der best­mög­li­chen Metho­de, näm­lich, dass die Men­schen sel­ber ent­schei­den und zwar jeder nur ein­mal und nur hin­sicht­lich des Lie­des; und dies kann sehr wohl nach Live-Auf­trit­ten auf der Büh­ne pas­sie­ren und muss nicht im Inter­net, was ich eh ableh­ne, da auch heut­zu­ta­ge sich nicht jeder im Inter­net auf­hält. Außer­dem soll­te die Stimm­ab­ga­be Aller im sel­ben Zeit­raum erfol­gen, was im Inter­net nicht gewähr­leis­tet ist.

    Unter musi­ka­li­schem Sach­ver­stand ver­ste­he ich die Fähig­keit, die Kri­te­ri­en, die ein Lied aus­ma­chen, qua­li­ta­tiv ein­ord­nen zu kön­nen. Selbst­ver­ständ­lich haben Musi­ker aus unter­schied­li­chen Gen­res ver­schie­den Ansät­ze und ich erwar­te von einem pro­fes­sio­nel­len Musi­ker, dass er in der Lage ist, über sei­ne selbst­ge­steck­ten Gen­re­gren­zen hin­aus auch Musik ande­rer Gen­res objek­tiv beur­tei­len zu können.

    Hin­sicht­lich Cezar gebe ich dir Recht, aber nur in Bezug auf die Stim­me, was aber nicht das ein­zi­ge Merk­mal eines Lie­des ist. Dazu gehö­ren auch noch bei­spiels­wei­se Arran­ge­ment, Akkor­de, Melo­die. War­um die Jury das Lied abge­wer­tet hat, soll­te man die Jury­mit­glie­der fra­gen und sich dann even­tu­ell über die Zusam­men­stel­lung der Jury Gedan­ken machen.

    Dass in der Chart­mu­sik der Erfolg eines Lie­des mehr davon abhängt, wie es ver­mark­tet wird, und weni­ger, wel­che Qua­li­tät es hat, ist evi­dent. Und ob jemand ein Lied hasst, hängt auch eher davon ab, wie oft jemand die­ses Lied hört. Wo wir wie­der bei sub­jek­ti­ver Emp­fin­dung sind, die bei der Bewer­tung eines Lie­des völ­lig unbrauch­bar ist.

    Damit wir uns wenigs­tens in einem Punkt einig sind ;-), stim­me ich mit dir völ­lig über­ein, dass sich beim ESC immer wesent­lich mehr Men­schen fin­den, die mit dem Ergeb­nis nicht zufrie­den als umge­kehrt, was auch voll­kom­men nor­mal ist, wenn ich mich aus 25 Lie­dern für eins ent­schei­den soll, habe ich immer die Men­schen gegen mich, die eins von den ande­ren 24 bes­ser fanden.

    Viel­leicht stim­men wir bei­de noch­mal über­ein: Mein dies­jäh­ri­ger Favo­rit ist Norwegen.

  • Mein Pro­blem dabei ist fol­gen­des: wie bewer­te ich, wenn ich einen Live-Auf­tritt gese­hen habe, nur das Lied und nicht den Auf­tritt an sich? Ein fan­tas­ti­scher Sän­ger ohne jedes Cha­ris­ma wird anders bewer­tet (näm­lich höchst­wahr­schein­lich schlech­ter, solan­ge man kei­ne Robo­ter in die Jurys setzt) als ein mit­tel­mä­ßi­ger Sän­ger mit der Aus­strah­lung eines Frank Sina­tra. Wo sind da die Gren­zen zu ziehen?

    Und wo bit­te fin­de ich Juro­ren, die einen so wil­den Gen­re­mix wie beim ESC nach dei­nen Stan­dards sinn­voll beur­tei­len kön­nen? Wo soll ich in einem Land wie Island oder San Mari­no fünf Leu­te her­neh­men, die bul­ga­ri­sche Kehl­ge­sän­ge eben­so gut beur­tei­len kön­nen wie fin­ni­schen Punk, por­tu­gie­si­schen Fado-Pop oder ase­rischwe­di­schen Dance­pop? Wo soll ich die­se Leu­te selbst in Deutsch­land oder Russ­land fin­den? Wie wäh­le ich die Juro­ren aus? Wie prü­fe ich ihre Befä­hi­gung? Sowas funk­tio­niert viel­leicht noch bei sowas wie San Remo, aber doch nicht bei einem euro­pa­wei­ten Wett­be­werb mit poten­zi­ell fünf­zig teil­neh­men­den Län­dern. Ich behaup­te ein­fach mal, dass es nach die­sen Kri­te­ri­en schlicht nie­man­den auf der Welt gibt, der zum Jury­dienst wirk­lich taug­lich wäre – was schon dar­an liegt, dass ein Fan eines Gen­res an diver­sen ande­ren eben deren Kern­ei­gen­schaf­ten has­sen wird; wenn ich Punk für sei­ne rebel­li­sche Ein­stel­lung und die “Rück­be­sin­nung auf das Ein­fa­che” mag, wer­de ich mit hoher Wahr­schein­lich­keit mit Pro­gres­si­ve Rock, der auf Instru­men­ten­gef­ri­ckel und Kom­ple­xi­tät auf­baut, eher nichts anfan­gen kön­nen. Wo ist die­ser hypo­the­ti­sche Mensch, dem alle Gen­res gleich gut gefal­len, damit er/sie auch alle gleich gut bewer­ten kann?

    Es ist schlicht nicht mög­lich, Musik objek­tiv zu bewer­ten – wenn das gin­ge, gäbe es ein abso­lut akzep­tier­tes Ran­king des Gesamt­werks jedes ein­zel­nen klas­si­schen Kom­po­nis­ten, bei denen wir inzwi­schen Jahr­zehn­te bis Jahr­hun­der­te Zeit hat­ten, einen Kon­sens zu fin­den. Aber genau das ist nicht pas­siert – wenn man zehn moder­ne Klas­sik­fans oder selbst Musik­pro­fes­so­ren um eine ent­spre­chen­de Rang­lis­te bit­tet, wet­te ich, dass die­se Lis­ten nicht abso­lut iden­tisch sein wer­den. Kunst – ins­be­son­de­re eine so emo­tio­nal auf­ge­la­de­ne wie Musik – ist kei­ne Wis­sen­schaft und jen­seits einer gewis­sen tech­ni­schen Beherr­schung eben nicht nach irgend­wel­chen unpar­tei­ischen Kri­te­ri­en bewert­bar. Und selbst die­se tech­ni­sche Beherr­schung ist gen­re­ab­hän­gig – ein exzel­len­ter klas­si­scher Per­kus­sio­nist wird sich mono­ton und robo­ter­haft anhö­ren, wenn er mit der erlern­ten Prä­zi­si­on ver­sucht, ein Jazz­stück zu spie­len, das gera­de von leich­ten Unre­gel­mä­ßig­kei­ten lebt.

    Und war­um bit­te soll es davon abhän­gen, wie oft ich ein Lied höre, bevor ich es has­se? Ich weiß meis­tens nach dem ers­ten Hören (oder schon wäh­rend­des­sen), dass ich einen Song auf den Tod nicht lei­den kann. Der Hass wird sich natür­lich inten­si­vie­ren, wenn ein Groß­teil der Men­schen das anders sieht und ich dem Song des­halb einen gan­zen Som­mer lang nicht ent­kom­men kann.

    Und um auf den letz­ten Absatz ein­zu­ge­hen: Rumä­ni­en. Sor­ry. 😉 (Nor­we­gen ist aber auch recht hoch ange­sie­delt, wenn­gleich mich der Fan­hype um das Teil rat­los zurücklässt.)

  • Die Inter­pre­ta­ti­on gehört natür­lich zum Lied dazu. Eine bril­lan­ter Sän­ger schafft es nicht, aus einem schlech­ten Lied ein Gutes zu machen. Anders­rum geht das freilich.

    Ich gebe dir voll­kom­men recht, dass eine opti­ma­le Jury­be­set­zung beim ESC nicht umzu­set­zen ist. Aber man kann wenigs­tens ver­su­chen, sich dem anzu­nä­hern. Wenn ich aller­dings sehe, dass in der deut­schen fünf­köp­fi­gen Jury vom ver­gan­ge­nen Jahr Sido Mit­glied ist, muss ich lei­der tes­tie­ren, dass man sich nicht all­zu viel Mühe gege­ben hat.

    Ich hof­fe, dass wir uns eini­gen kön­nen, dass Yes­ter­day von den Beat­les ein bes­se­res Lied ist als Che­ri Che­ri Lady von Modern Tal­king. Und wenn ich bei­de Lie­der unter­su­che, gibt es dafür auch klar benenn­ba­re Grün­de. Hier­für kann ich dir herz­lich Klaus Kau­ker, ins­be­son­de­re sei­ne bei You­tube anzu­tref­fen­den Bei­trä­ge, ans Herz legen. Den­noch gibt es sicher­lich nicht weni­ge Men­schen, die es genau anders sehen. Denn wäh­rend Yes­ter­day ledig­lich bis auf Platz 6 der Charts gelangt ist, stand Che­ri Che­ri Lady zwei Wochen lang auf Platz 1.

    Wenn ich jedes Mal 1 Euro bekä­me, wenn ein bestimm­tes Lied im Radio läuft und mir jemand sagt: “Ich kann es nicht mehr hören!”, bräuch­te ich nicht mehr zu arbei­ten. Ver­gan­ge­nen Sams­tag habe ich von einem mei­ner Freun­de genau die­se Aus­sa­ge hin­sicht­lich des aktu­el­len Lie­des von Major Lazer gehört. Das geschieht rela­tiv häu­fig, wenn ein bestimm­tes Lied im Radio rauf- und run­ter­ge­du­delt wird.

    Rumä­ni­en habe ich im obe­ren Drit­tel, aber mei­nes Erach­tens gibt es die­ses Jahr auch vie­le exzel­len­te Titel.

  • Auf die Gefahr hin, die­se abso­lut über­flüs­si­ge Debat­te noch künst­lich in die Län­ge zu zie­hen: war­um genau ist Sido – ein sehr erfolg­rei­cher Musi­ker, auch wenn eini­ge Men­schen bis heu­te nicht begrif­fen haben, dass auch Rap und Hip-Hop unter den gro­ßen Ober­be­griff “Musik” fal­len – anschei­nend dein Leit­bei­spiel für eine schlech­te Jury­be­set­zung? War­um ist er weni­ger qua­li­fi­ziert als ande­re Musi­ker? Weil er unsym­pa­thisch ist? Dar­in sind wir uns wohl einig, aber das hat mit sei­ner Eig­nung für die Jury exakt gar nichts zu tun. Weil er mit sei­ner Unwis­sen­heit in bestimm­ten musi­ka­li­schen Din­gen koket­tiert? Dar­in ist er ehr­li­cher als neun­zig Pro­zent der ande­ren Jury­mit­glie­der in ganz Euro­pa, denn wie schon oben ange­merkt gibt es wohl nie­man­den, der über alle beim ESC ver­tre­te­nen musi­ka­li­schen und kul­tu­rel­len Eigen­hei­ten Bescheid weiß; Sido gibt das wenigs­tens offen zu.

    Und die “Yesterday”-Sache ist wirk­lich wit­zig – beim Haus­herrn wür­dest du mit dem Ver­gleich ver­mut­lich vor die Wand lau­fen, der betrach­tet näm­lich Abba als wich­ti­ger für die Pop­mu­sik als die Beat­les. Das ist objek­tiv betrach­tet Unfug – man zei­ge mir bit­te die Ein­flüs­se, die Abba auf die Pop­mu­sik außer­halb des ESC-Zir­kus aus­ge­übt haben, die sich auch nur ansatz­wei­se mit der Bedeu­tung der Beat­les für besag­te Musik ver­glei­chen las­sen – aber sub­jek­tiv eben auch nicht wider­leg­bar, denn was gefällt, gefällt, und was nicht gefällt, das gefällt eben nicht. Ich kann mit der Musik, die Die­ter Boh­len schreibt, nichts anfan­gen, aber ich bin durch­aus in der Lage, sei­ne Fähig­kei­ten als Autor anzu­er­ken­nen – näm­lich aus zwei­ein­halb Akkor­den einen Hit nach dem ande­ren zu machen. Und ich bin mir fast sicher, dass mehr Men­schen etwa mei­ner Gene­ra­ti­on oder ein biss­chen älter in Deutsch­land “Che­rie Che­rie Lady” mit­sin­gen könn­ten als “Yes­ter­day”. Letz­te­res ist der bes­se­re Song? Aber hal­lo – wobei es genug Beat­les-Fans gibt, die Yes­ter­day auf den Tod nicht lei­den kön­nen, aber das ist bei fast allen Kom­po­si­tio­nen des Haupt­song­schrei­bers der Band so, der im Gegen­satz zu John Len­non nicht den Anstand hat­te, zei­tig von der Büh­ne des Lebens abzugehen. 

    Natür­lich kann ich sagen, dass 80er-Dis­co-Trash “schlech­ter” ist als 60er-Song­wri­ter-Pop. Wenn es aber nur um sol­che objek­ti­ven Kri­te­ri­en gin­ge, wäre es eben mög­lich, die Songs der Beat­les (oder die Songs jeder ande­ren Band, oder die Lis­te der Num­mer-1-Hits) in eine zumin­dest ansatz­wei­se akzep­tier­te Rang­fol­ge zu brin­gen, so dass ein Groß­teil der Fach­leu­te sich dar­über einig wäre, wo “Yes­ter­day” im Ver­gleich zu “Straw­ber­ry Fields Fore­ver” oder “While My Gui­tar Gent­ly Weeps” hin­ge­hört. Aber eine sol­che Rang­fol­ge gibt es nicht. Einer mei­ner Lieb­lings­songs von den Beat­les ist “Octopus’s Gar­den” – ein Song, der vom Groß­teil der ernst­zu­neh­men­den Beat­les-For­schung kom­plett igno­riert wird, weil es sich im Grun­de um ein Kin­der­lied han­delt, bei dem die bei­den hohen Her­ren Lennon/McCartney sich mal dazu her­ab­ge­las­sen haben, ihren Drum­mer einen Song schrei­ben zu las­sen. Mir gefällt die­ser “gerin­ge­re” Ein­trag in den Beat­les-Kata­log aber deut­lich bes­ser als zum Bei­spiel fast alle Songs von Geor­ge Har­ri­son, die ich zum Groß­teil sturz­lang­wei­lig fin­de. Selbst die Bewer­tung der Bedeu­tung von Rin­go für die Beat­les hat sich über die Jah­re immer wie­der gewan­delt, von “mit­tel­mä­ßi­ger Drum­mer, der das unver­schäm­te Glück hat­te, bei der größ­ten Band aller Zei­ten zu spie­len” bis hin zu “rhyth­mi­sches Grund­ge­rüst, ohne dass die rest­li­chen Beat­les nie so groß­ar­tig gewor­den wären”. Rin­go ist objek­tiv betrach­tet kein son­der­lich tech­nisch ver­sier­ter Schlag­zeu­ger, wenn man ihn mit Kory­phä­en wie John Bon­ham oder Char­lie Watts ver­gleicht. Aber wären die Beat­les zwin­gend eine bes­se­re Band gewe­sen, wenn sie ein ech­tes Genie am Schlag­zeug gehabt hätten?

  • Wel­che Büch­se habe ich da geöffnet…

    Erfolg bedeu­tet nicht Qua­li­tät. Womit Sido anfangs Erfolg hat, zeigt eigent­lich nur, wie niveau­los unse­re Gesell­schaft oder zumin­dest ein Teil davon mitt­ler­wei­le gewor­den ist. War­um soll­te Sido unsym­pa­thisch sein und war­um soll­te dies bei mei­ner Mei­nung, ob er in die Jury passt, eine Rol­le spie­len? Ent­we­der pro­ji­zierst du dei­ne Ansich­ten auf mich oder du ver­brei­test völ­lig halt­lo­se Unter­stel­lun­gen. Ich dre­he dei­ne Fra­ge ein­mal her­um und möch­te ger­ne wis­sen, war­um Sido ein geeig­ne­tes Jury­mit­glied sein soll. Er hat kei­ner­lei musi­ka­li­sche Aus­bil­dung und somit kei­ne Refe­ren­zen vor­zu­wei­sen, Mit­glied einer Jury in Musik­fra­gen zu sein. Wenn jemand im Berufs­le­ben kei­ne abge­schlos­se­ne Aus­bil­dung hat, kann er zwar in einem Berufs­feld arbei­ten, aber ob das sinn­voll ist, ist eine ande­re Fra­ge. Um Anwalt zu sein, muss man Jura stu­die­ren und zwei Staats­examen erfolg­reich absol­vie­ren. Hof­fent­lich gera­te ich nie­mals an eine Per­son, die mich ope­riert, obwohl sie nie erfolg­reich Medi­zin stu­diert hat.

    Dein Ver­gleich der Beat­les mit Abba fin­de ich herr­lich. Sub­jek­tiv gefällt mir die Musik von Abba gene­rell bes­ser als die der Beat­les und den­noch bin ich in der Lage, objek­tiv zu kon­sta­tie­ren, dass die Beat­les im Durch­schnitt die bes­se­re Musik kre­iert haben. Die­ter Boh­len ist ein bril­lan­ter Pro­du­zent mit einem äußerst ein­ge­schränk­ten Reper­toire. Er kann musi­ka­lisch nur sehr wenig aber dies exzellent.

    Zu den Beat­les kann ich auf­grund man­geln­der Kennt­nis lei­der nichts Erhel­len­des bei­steu­ern. Aber Keith Moon, Gott hab ihn selig, hät­te den Beat­les als Drum­mer sicher nicht scha­den können.

  • Wenn du Sidos Erfolg mit der Niveau­lo­sig­keit gewis­ser Gesell­schafts­tei­le erklärst, impli­ziert das schon bestimm­te Din­ge über ihn und sei­ne Fans. Zu sei­ner Qua­li­fi­ka­ti­on: Sido ist ein erfolg­rei­cher Musi­ker, mit Chart­plat­zie­run­gen über die letz­ten elf Jah­re. Das ist eine nicht abzu­strei­ten­de Tat­sa­che, und wie viel oder wenig er über Musik weiß (ganz unbe­leckt wird er in der Hin­sicht nach 10+ Jah­ren im Geschäft aller­dings auch nicht sein, wenn er nicht der lern­re­sis­ten­tes­te Mensch ist, der je gebo­ren wur­de) wis­sen weder du noch ich genau, inso­fern pro­ji­zierst du da auch dei­ne eige­nen Vor­ur­tei­le auf ihn.

    Und zum letz­ten Absatz: Doch, hät­te er. Die Beat­les hat­ten meh­re­re Pha­sen, in denen Rin­go der Leim war, der die Trup­pe zusam­men­hielt, was direkt auf sei­ne Beschei­den­heit und Dank­bar­keit zurück­ging, Teil die­ser Band zu sein. Mit einem Keith Moon oder einem John Bon­ham am Schlag­zeug wäre die Band schon um 1967 aus­ein­an­der­ge­fal­len, weil nie­mand im tita­ni­schen Ego-Kampf zwi­schen John Len­non und Paul McCart­ney hät­te ver­mit­teln kön­nen – im Gegen­teil hät­te ein genia­le­rer Drum­mer sich ver­mut­lich an die­sen Ego-Kämp­fen betei­ligt -, und dann wären die Beat­les nie der Gold­stan­dard guter Pop­mu­sik gewor­den, der sie heu­te sind – kein “Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band”, kein Wei­ßes Album, kein “Abbey Road”. Aber ich wäre dafür, die Dose an die­ser Stel­le wie­der zuzu­ma­chen. Kei­ner von uns bei­den wird den ande­ren an die­ser Stel­le noch von irgend­was über­zeu­gen, weil wir inzwi­schen wahr­schein­lich bei­de der Mei­nung sind, der ande­re sei ein­fach nur zu stur, um das Licht zu sehen. Wir sind inzwi­schen hier ange­kom­men: https://xkcd.com/386/ – und das ist kein guter Auf­ent­halts­ort. Ange­neh­men Tag noch.

  • Wie schon gesagt: Erfolg heißt nicht Qua­li­tät und ist gute Arbeit ist dafür kei­ne Vor­aus­set­zung! Das ist in der Arbeits­welt genau­so. Jemand kann Erfol­ge ver­bu­chen, ohne auch nur ansatz­wei­se Kom­pe­tenz zu besit­zen. Sido kann kein Instru­ment spie­len und hat kei­ne Gesangs­aus­bil­dung. Er ist als Jury­mit­glied eines Lie­der­wett­be­wers genau­so unbrauch­bar wie ich. Und das hat nichts mit Vor­ur­tei­len zu tun. Das ist eben­so Tat­sa­che wie sei­ne Plat­ten­ver­käu­fe. Wenn man natür­lich nur das ver­steht, was man ver­ste­hen möch­te, dann gebe ich dir recht. Außer­dem habe ich den Ein­druck, dass du unse­rem Dia­log wesent­lich mehr Bedeu­tung bei­misst als sich. Man kann schließ­lich nicht den gan­zen Tag Mines­weeper spielen.

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