For real / Das schwedische Jahrzehnt
Der Contest wird politisch
Auf die Demokratisierung des Abstimmungsverfahrens durch das 1998 eingeführte Televoting folgte beim Eurovision Song Contest die Professionalisierung der audiovisuellen Darbietungen mit immer aufwändigerer Bühnentechnik, abgefeimteren Trickkleidern, spektakuläreren Hochleistungschoreografien und wahnsinnigeren Materialschlachten, die beim russischen Siegerbeitrag 2008 von Dima Bilan in einer Kunsteislaufbahn und einer millionenteuren Stradivari ihren Höhepunkt fanden. Zum Verdruss der westlichen Gründerväter, deren Vertreter:innen mit den deutlich ehrgeizigeren Kolleg:innen vom Balkan und den ehemaligen Sowjetländer schlichtweg nicht mehr mithalten konnten. Was in einem ebenso verblendeten wie lautstarken Lamento über das “Blockvoting” gipfelte und dazu führte, dass die um die Teilnahmegebühren der Big-Four-Länder fürchtende EBU das Rad der Geschichte zurückdrehte und die diabolischen Jurys wieder mit ins Boot holte – als “Korrektiv” mit 50% Stimmmacht. Immerhin endete die Feuertaufe des neuen Halb-und-halb-Verfahrens auf märchenhaft versöhnliche Weise: mit dem (vorhersehbaren) Erdrutschsieg von Alexander Rybak, einem in Weißrussland geborenen und in Norwegen aufgewachsenen Musiktalent, dessen gleichermaßen folkloristisches wie popmodernes ‘Fairytale’ sowohl das klassische Musikinstrument Geige wie eine von sportgestählten Bodenturnern dargebotene Choreografie aufbot und somit mustergültig alle Elemente eines Eurovisionsbeitrags neuerer Prägung in sich vereinte. Inklusive des kommerziellen Erfolgs.
Catweazle und die Mana-mana-Singers: Alex Rybak (NO 2009).
Um den kaum mehr zu bewältigenden Spagat zwischen den Präferenzen der Jury und den Vorlieben der Zuschauer:innen hinzubekommen, kauften immer mehr Länder ihre Beiträge bei schwedischen Autor:innen und Beratungsteams ein, deren Erfolgsquote darauf hindeutet, dass das skandinavische Volk tatsächlich ein Händchen für diese Show hat. Nicht umsonst ist das Melodifestivalen die beliebteste Vorentscheidung unter Fans, für welche in Zeiten von wie Pilze aus dem Boden schießenden Grand-Prix-Blogs, die über jede noch so pupsige Nichtigkeit hyperventilieren, und von Livestreams sämtlicher nationalen Vorentscheidungen im Netz aus der ehedem einmal im Jahr stattfindenden Show eine immer stärker ausufernde Ganz-Jahres-Beschäftigung geworden ist. Mit dem zweiten Grand-Prix-Sieg im Jahre 2010 läutete Deutschland dann eine weitere kulturelle Zeitenwende ein: die Ära der Authentizität. Lena Meyer-Landrut siegte ohne großen Show-Firlefanz, lediglich mit einem eingängigen Pop-Liedchen und dank ihrer frischen Ausstrahlung, die klaren Siegeshunger mit scheinbarer jugendlicher Unbekümmertheit und dem Willen verband, dabei Spaß zu haben. Man nahm ihr ab, den Wettbewerb ernst zu nehmen, ohne ihn all zu ernst zu nehmen. Mit exakt dieser Einstellung siegten auch die esoterisch-verstrahlt wirkende schwedische House-Elfe Loreen – die erste Grand-Prix-Gewinnerin mit erkennbar afrikanischen (marokkanischen) Wurzeln – und die österreichische LGBTIQ*-Ikone Conchita Wurst.
Bestes ESC-Opening aller Zeiten. Und das sage ich nicht, weil es aus Deutschland kam.
Der überwältigende Sieg der zunächst auch im Heimatland hochgradig umstrittenen und angefeindeten, tradierte Geschlechterrollen so spielerisch wie machtvoll aufbrechenden Frau mit Bart illustriert auf das Trefflichste die vorzügliche Souveränität des Publikums, das damit die richtige Antwort auf die zunehmenden fortschritts- und vielfaltsfeindlichen Töne aus Russland und anderen osteuropäischen Staaten, aber auch von westlichen Modernisierungsverlierer:innen und Ewiggestrigen gab. Und auf die feige Vogel-Strauß-Politik der EBU beim Thema Menschenrechte, die sich beispielsweise im hilflosen Umgang mit dem aserbaidschanischen Régime während des Protz-Contests von 2012 manifestierte, wofür der Journalist Stefan Niggemeier den treffenden Begriff vom “Mulm von Baku” prägte. Und er sorgte für berechtigte Kritik an der Jury, die Conchitas Sieg zwar nicht verhindern konnte, die von Fans und Medien einhellig geliebte “Sissi die Zweite” aber – nicht nur im offiziell homofeindlichen Osten, sondern auch im angeblich so toleranten Deutschland – massiv herunterwertete. Selbst unter den grundsätzlichen Befürworter:innen der Jury als Gegengewicht zum Massengeschmack fanden sich daraufhin Stimmen, die forderten, ihre Macht zumindest etwas einzuschränken.
Reborn and transformed: Frau Wurst (AT 2014)
Eine Forderung, die durch den letzten Contest dieser Dekade zusätzlich Nahrung erhielt, in dem erstmals nicht der klare Zuschauer:innenfavorit, das italienische Popera-Trio Il Volo, gewann, sondern Juryliebling Måns Zelmerlöw aus – natürlich! – Schweden. Immer mehr Menschen fragten sich zu Recht, wofür sie überhaupt noch anrufen sollten, wenn am Ende ein Häuflein von fünf willkürlich ausgewählten “Expert:innen” das Ergebnis bestimmt? Ein Ärgernis, auf das die EBU bislang allerdings ebenso wenig eine schlüssige Antwort fand wie auf die schleichende Bedeutungs-Erosion des Wettbewerbs in den neueren Eurovisionsländern, wo man dem Event des Öfteren aus finanziellen Gründen oder aufgrund der Unzufriedenheit mit der ungerechten Privilegierung der Big Five fernbleibt. Stattdessen suchte man in Genf sein Heil in der Expansion: nach einer entsprechenden Einstimmung des Publikums durch Einspieler und Pausenacts aus dem Land der Känguruhs und Wombats präsentierte die EBU 2015 anlässlich des sechzigjährigen Eurovisionsjubiläums Australien als neuestes Teilnehmerland – angeblich “einmalig”, was sich aber flugs als so durchschaubare wie überflüssige Lüge entpuppte. Wogegen prinzipiell gar nichts einzuwenden ist: der ozeanische Kontinent hat durch seine Kolonialgeschichte eine enge kulturelle Bindung an Europa, die Australier:innen sind begeisterte Fans und saucoole Leute, und bereits der Premierenteilnehmer Guy Sebastian legte die musikalische Messlatte für alle eins höher. Ob aber angesichts des allmählichen Auseinanderdriftens Europas dieser Schritt, der natürlich auch Begehrlichkeiten aus Asien oder China Tür und Tor öffnete, der richtige war, wird erst die Zeit zeigen.
Mit ihm gerne heute Nacht nochmal: der australische Guy.
Stand: 26.06.2020
Die einzelnen Jahrgänge inklusive der Semifinale und der deutschen Vorentscheidungen:
Zu den internationalen Vorentscheidungen:
Land | 2007 | 2008 | 2009 | 2010 | 2011 | 2012 | 2013 | 2014 | 2015 |
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AL | 2007 | 2008 | 2009 | 2010 | 2011 | 2012 | 2013 | 2014 | 2015 |
AM | 2007 | 2008 | 2009 | 2010 | 2011 | 2012 | 2013 | 2014 | 2015 |
AZ | – | 2008 | 2009 | 2010 | 2011 | 2012 | 2013 | 2014 | 2015 |
BE | 2007 | 2008 | 2009 | 2010 | 2011 | 2012 | 2013 | 2014 | 2015 |