Eine der ältesten Weisheiten im Filmgeschäft lautet angeblich, bloß niemals mit Kindern oder Tieren zu drehen, denn diese stehlen jedem noch so großen Star unweigerlich die Schau. In bestimmten Zweigen der Erwachsenenunterhaltung können sie die Beteiligten sogar ins Gefängnis bringen, aber das ist hier nicht unser Thema. Wir befinden uns beim Eurovision Song Contest, bei dem geht es um Popmusik, und bei dieser lautet eine der ältesten Geschäftsregeln: Kinder ziehen immer. Speziell in Deutschland: ob die bereits kurz nach Kriegsende mit dem Evergreen ‘Pack die Badehose ein’ zur Sommerfrische im Grunewald einladende, seinerzeit noch blutjunge Conny Froboess, ob der sich leidenschaftlich schluchzend ins sentimentale Mutterherz schleimende Heintje (‘Mama’), ob die im erbitterten Sorgerechtsstreit der geschiedenen Eltern gnadenlos zur moralischen Manipulation missbrauchte Andrea Jürgens (‘Und dabei liebe ich Euch beide’) oder ob der seine glockenhelle Knabenstimme für karitative Zwecke einsetzende ‘Manuel’ - je minderjähriger die Interpret:innen, desto steiler die mit ihnen generierten Umsätze, so eines der Erfolgsrezepte des deutschen Schlagergeschäfts, speziell in den Sechzigern und Siebzigern.
All sein Geld für Hannelore Kohl gegeben: so hat’s der Heck gerne. Der Knüller: im Chor singt die blutjunge Anke Engelke!
Auch beim Grand Prix, wo Tiere aufgrund ihres völlig unberechenbaren Verhaltens und der damit für eine Live-Sendung verbundenen Unwägbarkeiten schon immer verboten waren, setzte man gerne mal auf singende Kinder. Interessanterweise verstärkt in der Phase, als diese aus dem realen Popgeschäft bereits zunehmend verschwanden: konnte der 1969 als maßstabsgetreue Kopie seines Landsmannes Heintje angetretene Belgier Jean-Jacques Bertolai (‘Maman, Maman’) noch nicht reüssieren, so verfehlte die Spanierin Betty Missiego zehn Jahre später mit ihrem vierköpfigen Kinderchor Caramelos und ‘Su Canción’ nur ganz knapp den Sieg. Der gelang dann 1986 der damals angeblich 15 Lenze zählenden, laut Geburtsurkunde aber erst dreizehnjährigen Belgierin Sandra Kim mit ‘J’aime la Vie’. Sie ist damit die jüngste Grand-Prix-Gewinnerin aller Zeiten. Was ihr niemand mehr streitig machen kann, denn die durch ihren Sieg in den folgenden Jahren beim Contest ausgelöste Kinderschwemme, die 1989 ihren Höhepunkt in der Teilnahme von gleich zwei knapp zwölfjährigen, mit entsetzlich hohen Schrillstimmen nervenden Interpret:innen (nämlich Gili Netanel für Israel und Nathalie Pâque für Frankreich) fand, sorgte dafür, das bald Schluss war mit der Kinderarbeit: 1990 erließ die EBU für den Wettbewerb ein bis heute gültiges Mindestalter von 16 Jahren.
Minderjährige unter Drogen? Die offenbar mit Speed vollgepumpte Sandra Kim 1986.
Im Jahre 2003 rief die an einer Diversifikation ihrer Marke interessierte EBU stattdessen den Junior Eurovision Song Contest (JESC) ins Leben, bei dem die obere Altersgrenze zunächst bei 16 Jahren lag. 2016 senkte man sie auf 14 Jahre, womit die EBU nun gewissermaßen Lückekinder geschaffen hat, die während zweier Jahre weder bei der einen noch bei der anderen Show antreten dürfen. Der anfänglich vor allem in Skandinavien und bis heute in Teilen Osteuropas populäre Wettbewerb war jedoch stets umstritten: wie schon die in den Neunzigern auf RTL (und im belgischen Fernsehen) gezeigte Mini Playback Show, in der kleine Kinder sich als ihre Popidole verkleideten und deren Hits nachplärrten, sah sich der JESC stets dem Vorwurf ausgesetzt, der Pädophilie Vorschub zu leisten. Was in dieser Zuspitzung natürlich Quatsch ist. Dennoch: das dahinter liegende Missbehagen teile ich. Denn Popmusik steht nun mal für Sex & Drugs & Rock’n’Roll, und da haben Kinder nichts verloren. Zum einen, weil sie natürlich noch zu jung dafür sind; vor allem jedoch, weil jedes noch so putzig gemeinte Nachahmen durch die Infanten den Pop eben genau dieser drei essentiellen Elemente beraubt und ihn so entwertet.
Gigliola hat’s erfasst: noch nicht alt genug für die Liebe – noch nicht reif für den Contest!
Denn es dürfte vermutlich etlichen Zuschauer:innen so gehen wie dem Blogger, der den Eurovision Song Contest zugegebenermaßen verfolgt, um sich neben der trashigen Musik, den futtigen Kostümen und den atemberaubenden Choreografien mit Vorliebe an herrlich doppeldeutigen Texten (‘Hop onto my Ship, Baby, I’ll make you fly’, TR 2012) zu delektieren und sich nicht zuletzt im optischen Genuss gut aussehender Sänger und leichtgeschürzter, durchtrainierter Tänzer zu suhlen. Aufmerksamen Leser:innen wird womöglich nicht entgangen sein, dass sich der Hausherr gelegentlich gar in launigen Betrachtungen der erotischen Qualitäten insbesondere der männlichen Interpreten ergeht. Und in diesem Hinblick ist alles unter 16 Jahren schlichtweg uninteressant (oder, wie die gute Gigliola Cinquetti singen würde: ‘Non ho l’eta per Armati’). Die paar Omis und Pädophilen aber, die sich an achtjährigen Madonna-Imitaten erfreuen, reichen nun mal nicht für eine anständige Einschaltquote. Das brach hierzulande schon der Mini Playback Show das Genick. Und das ließ lange Zeit auch den JESC kaum über den Status einer eher unbedeutenden Randerscheinung hinauskommen, weil es ihn insbesondere für TV-Märkte mit extremer Konkurrenz wie in Deutschland uninteressant machte.
Die Vorläufer der Fridays for Future: bereits 2008 machte das georgische Kindertrio Bizerba Bzikebi mit ihrem eindringlichen Protestsong auf das dramatische Bienensterben aufmerksam.
Nach 16 Teilnehmernationen zur Première und einem Zwischenhoch mit 18 Startern bei der zweiten Ausgabe in 2004 sank der anfängliche Enthusiasmus europaweit rapide: 2012 und 2013 musste die EBU betteln gehen, um wenigstens das vorgegebene Minimum von zwölf Ländern zusammenzubekommen. Den Rekord hält der JESC 2018 aus Minsk mit 20 Nationen. Zum Vergleich: beim richtigen Grand Prix liegt er mit 43 Ländern mehr als doppelt so hoch. Die ARD zeigte aus oben genannten Gründen sehr lange Zeit kein Interesse an der Show, auch wenn sich zwischendrin mal Überlegungen abzeichneten, eventuell mit dem gemeinsam mit dem ZDF betriebenen KIKA einzusteigen. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sich das – ursprünglich wie die Erwachsenenausgabe als Abendveranstaltung konzipierte – internationale Event nach dem augenscheinlich unverrückbaren Sendeschluss des deutschen Kinderkanals um 21 Uhr richtet und den Showstart entsprechend vorverlegt. 2016 fand die Sendung dann auch tatsächlich sonntags von 16 bis 18 Uhr statt. Jedoch wollte man bei KIKA nun das sendereigene Format Dein Song als Vorentscheid nutzen, und dort durften die Kandidat:innen älter sein als beim JESC. Daraufhin ruhte der See erneut still in Sachen deutscher Teilnahme, vielleicht auch der Angst geschuldet, sich bei diesem Wettbewerb international ebenso zu blamieren wie beim richtigen ESC.
Zu alt für den JESC: Dein-Song-Siegerin 2013, Lina (und Mia).
Wie erstarrt und verkrustet unser Land ist, zeigte sich daran, dass es trotz fortgesetzter Beobachtung des Wettbewerbs ganze vier weitere Jahre brauchte, sich doch noch zu einer JESC-Teilnahme durchzuringen. Die von KIKA intern ausgesuchte vierzehnjährige Berliner Susan Oseloff ging für uns am 29.11.2020 mit der Ballade ‘Stronger with you’ ins Rennen. Die besteht, den aktuellen Contestregeln folgend, aus deutsch gesungenen Strophen (60% Wortanteil) und einem englischen Refrain. Susan traf bei der germanischen Junior-Première auf lediglich elf Konkurrent:innen, wobei “treffen” nicht das richtige Wort ist: aufgrund der auch für den starken Einbruch des Teilnehmerfeldes verantwortlichen Covid-Pandemie entfielen die Live-Auftritte. Stattdessen gingen bei der Show lokal aufgezeichnete Clips über den Äther. Lediglich die Moderation und das Begleitprogramm kamen an diesem Nachmittag aus den TVP-Sendestudios im polnischen Warschau. Was der Grand-Prix-Fangemeinde zumindest die Möglichkeit gab, sich schon mal mit einem virtuellen Wettbewerb anzufreunden, denn dieses Format zählt mit zu den vier möglichen Optionen für den “echten” Eurovision Song Contest im Mai 2021 – und dürfte mittlerweile wohl die realistischste Variante darstellen. Allerdings verfolgten bei der JESC-Première lediglich 370.000 deutsche Zuschauer:innen, wie wir uns auch bei der Kinderversion des Wettbewerbs die übliche Rote Laterne ersangen – im Vergleich zu den üblichen 7 bis 11 Millionen beim richtigen Grand Prix eine doch ziemlich enttäuschende Zahl.
Befürchtungen bestätigt: Deutschlands Premierentitel holte in Warschau den letzten Platz. Damit bleiben wir uns immerhin treu.
Die übrigen Big-Five-Länder entsandten beim JESC stets nur punktuell Repräsentant:innen, wobei dem erst seit 2014 partizipierenden Italien das Kunststück gelang, gleich beim Debüt den Sieg zu erringen. Dennoch wollte die Rai den Wettbewerb 2015 nicht austragen, das zweitplatzierte Bulgarien sprang ein. Der tatsächliche Wert des JESC liegt denn auch in seinen Nebenfunktionen. So nutzt die EBU die Veranstaltung mittlerweile mit Begeisterung als Versuchslabor für angedachte Regeländerungen aller Art. Ob neue Verfahren bei der Stimmenauszählung, ob Sprachenregelungen, ob Teilplayback: sämtliche potentielle Neuerungen prüfen die Genfer zunächst bei den Kindern auf Praxistauglichkeit, bevor man sie den Erwachsenen zumutet. Oder eben nicht: so testete man beim JESC 2017 erstmalig ein Onlinevoting, dessen Einsatz auch beim Grand Prix im Gespräch war und das sich, wie nicht anders zu erwarten, als extrem manipulationsanfällig erwies. Was jedoch bei der Kinder-Gesangs-Olympiade eine friedensstabilisierende Wirkung zeigte: konnten sich so die Russen problemlos zum Sieg hacken und damit ein mentales Trostpflaster auf die kränkenden Buhrufe und den von der ESC-Jury bewusst verhinderten Sieg gegen die feindliche Ukraine beim richtigen Wettbewerb von 2016 kleben.
Wenigstens beim JESC hat man die Russen noch lieb: die gefakte Siegerin von 2017, Polina.
Und so erfüllt der JESC eine diplomatische Mission als Placebo für die osteuropäischen Nationen, denen man hier gerne die Bühne und die Medaillenränge überlässt (in seiner sechzehnjährigen Geschichte gingen gleich drei Siege an Georgien sowie jeweils zwei an Weiß- und Russland), während die EBU beim Hauptwettbewerb mit immer komplizierteren Auszählungsarithmetiken und vor allem dem Einsatz der Jury für die nachhaltige Verteidigung der popmusikalischen Vormachtsstellung des Westens sorgt. Zudem dient der Junior-ESC mittlerweile als eigene Aufzuchtfarm für den großen Wettbewerb: eine zunehmende Anzahl an Eurovisionsbewerber:innen und ‑teilnehmer:innen sammelte die ersten Erfahrungen beim Kinderwettsingen. Was sich mit dem positiven Nebeneffekt verbindet, die Vormachtstellung diverser Castingshow-Formate, bei denen in aller Regel die (gerne auch mal dramatisierten) persönlichen Geschichten der Interpret:innen stärker im Vordergrund stehen als ihre künstlerischen Fähigkeiten, und wo es vor allem um die Herstellung von Stromlinienförmigkeit geht, als Vorbereitungsbühne für den Eurovision Song Contest wenigstens ein kleines bisschen einzudämmen.
Sie werden so schnell groß: 2010 siegte der Armenier Vladimir Arzumanyan beim JESC mit einer tadellos vorgetanzten Uptemponummer zu Ehren der ‘Mama’. Zehn Jahre später suchte er beim heimischen ESC-Vorentscheid noch immer mütterlichen Rat in Herzensdingen.
Stand: 30.11.2020

Wer den JESC schaut, verpasst eigentlich im Grund genommen nichts. Ich habe mir im letzten Dezember den JESC angesehen, der in Jerewan stattfand und es war nicht mehr und nicht weniger als ein netter Kinderkram, der allerdings nicht wirklich weltbewegend war. Da muss die ARD nicht unbedingt mitmachen. Das von einer Gruppe süßer kleiner Mädchen vorgetragene Siegerlied war zwar ganz nett, aber trotzdem fällt dieses Stück genauso wie die komplette Konkurrenz unter die Kategorie “Lieder, die die Welt nicht braucht”. Eine Veranstaltung, bei der kleine Kinder allenfalls die Möglichkeit haben, einen Abend lang Miley Cyrus oder Justin Bieber zu spielen, muss nicht sein, auch wenn diese Veranstaltung trotzdem von manchen Leuten ernst genommen wird (das armenische Siegerlied von 2010 wurde von DerHova geschrieben, der auch schon “Qélé Qélé” geschaffen hat und der Typ hat da schon ganze Arbeit geleistet. Das Lied wäre auch beim ESC weit gekommen; Diaspora-Voting hin oder her). Schlussendlich gibt man dafür nur unnötig Geld aus.
Dann lieber den Erwachsenen-ESC mit den gutaussehenden Sängerinnen (Ich sag nur: Soluna Samay <3 <3 <3).
Und wie hat es Maarja-Liis Illus 1996 geschafft, mit 15 Jahren auf die Bühne zu kommen?
Auch wenn sie einen erwachsenen Begleiter hatte – sie war doch zu jung.
Tja, leider ist es jetzt soweit. 🙁
https://esc-kompakt.de/deutschland-gibt-2020-sein-debuet-beim-junior-eurovision-song-contest-dein-song-fuer-warschau-kika-zdf-ndr/
Ja, da sind wir mal gespannt drauf, wie Deutschland denn erstmals da abschneiden wird und ob wir mit weiteren Teilnahmen in den nächsten Jahren rechnen dürfen.
Wobei ich nicht ganz ausschließen möchte, dass bei der erstmaligen Teilnahme von Deutschland sich die EBU eingebracht haben muss. In Zeiten von Corona ist auch eine Show wie der JESC eine teure Angelegenheit. Da wäre ein zahlungsstarkes Mitglied wie Deutschland der EBU doch gerade recht. Aber ich will hier keine Verschwörungstheorien aufstellen, das ist jetzt nur meine etwas hochgegriffene Vermutung.
Ist ein insgesamt schöner Eintrag im Lexikon. Ich glaube aber, dass es bei der letzten Bearbeitung die Videolinks rausgehauen hat.