Und tanzen!
Manche empfinden sie stets nur als billiges Mittel, mit optischen Mätzchen von der musikalischen Dürftigkeit eines Liedes abzulenken (was, zugegebenermaßen, in wenigen Einzelfällen schon mal zutrifft). Für viele andere, darunter den Seitenbetreiber, stellt sie jedoch das Salz in der Grand-Prix-Suppe dar, den unverzichtbaren Teil jeder Eurovisionsdarbietung, die Seele der Show: die Grand-Prix-Choreografie. Sprich: möglichst synchron durchgeführte oder in ihrem Aufbau kunstfertig aufeinander abgestimmte Hand- und Armbewegungen oder Tanzschritte, ausgeführt von den jeweiligen Interpret/innen sowie bzw. oder von gegebenenfalls sie eigens begleitenden Tänzer/innen. Und ja: der einzige Sinn und Zweck eines solchen Tuns ist es natürlich, den Zuschauer/innen etwas fürs Auge zu bieten. Was durchaus Sinn macht bei einer Fernsehunterhaltungsshow wie dem Eurovision Song Contest.
Hallo, Boy
In den noch arg steifen Anfangsjahren des Grand Prix galt die Choreografie lange Zeit als verpönt. Pionierarbeit leisteten hier – man mag es kaum glauben – die Deutschen: die für ihre aparten Synchrondarbietungen berühmten eineiigen Zwillingsschwestern Alice und Ellen Kessler waren 1959 die Ersten, die den kurzen Instrumentalteil ihres schwungvollen Beitrags ‘Heut’ Abend wollen wir tanzen gehn’ mit einer auf engstem Raum absolvierten Tanzeinlage überbrückten. Die konservativen Juroren zeigten sich vergrätzt: Rang 8 (von 11 Teilnehmerländern) für die polyglotten Zwillinge, die abseits vom Grand Prix in ganz Europa Triumphe feierten. Genau so erging es 1977 dem erfolgreichsten deutschen Disco-Act aller Zeiten: die drei Mädels von Silver Convention und ihre legendäre Saloontür-Choreographie zu ‘Telegram’ landeten ebenfalls auf Platz 8 (von 18). Nur ein Rang besser schnitten die in Deutschland produzierten spanischen Disco-Königinnen Baccara ab, die 1978 mit ‘Parlez-vous Francais?’ für Luxemburg starteten und auf turmhohen Stöckelschuhen einen sensationellen Synchrontanz hinlegten – sensationell insbesondere im Hinblick darauf, dass sie sich bei ihrer engagierten Schlussdrehung nicht im Mikrofonkabel verhedderten.
Wohin, kleines Pony, woll’n wir reiten?
Besser lief es ein Jahr später für Ralph Siegel, der sich die ruckartigen aerobesken Armbewegungen, mit denen sein Retortensextett Dschinghis Khan seinen gleichnamigen Titel visuell unterstützte, direkt bei den bereits erwähnten Silver Convention abgeschaut hatte, die diesen simplen, aber beeindruckenden Move bereits vier Jahre zuvor zu ihrem größten Hit ‘Fly Robin fly’ zelebrierten. Auch das Retortentrio Mekado, ebenfalls aus dem Stall des Münchener Maestros, landete 1994 ziemlich weit vorne, obschon ihr albernes Handgewedel tatsächlich zu den eingangs genannten, seltenen Einzelfällen zählt, in der eine Choreographie nichts zum Song hinzufügt, sondern verzweifelt von ihm ablenken soll. Wie man es nicht macht, bewiesen 2013 unterdessen Cascada: zu ihrem stumpfen Dance-Kracher ‘Glorious’ hätte zwingend ein ausgefeilter Synchrontanz gehört. Stattdessen galoppierte die Leadsängerin Nathalie Horler erst am Ende ihres Songs kurz eine wirklich schäbige Showtreppe hinunter: das Publikum und die Jurys straften diese choreografische Minderleistung zu Recht ab.
Hoch die Hände, Wochenende
Doch wir greifen der Geschichte vor. Zu den historischen Vorkämpfern der Tanzeinlage beim Song Contest zählte in den Sechzigerjahren Dänemark: Ulla Pia (‘Stop – mens Legen er god’) brachte 1966 als erste Interpretin der Eurovisionsgeschichte ein tanzendes Pärchen mit auf die Bühne, deren Aufgabe ausschließlich im Twisten bestand, nicht jedoch im Singen (die Kesslers machten 1959 noch beides selbst). Die Juroren bestraften Pia ebenso wie die fabelhafte Spanierin Conchita Bautista, die bei der Grand-Prix-Première ihres Landes 1961 eine dramatische Handography (eine hauptsächlich auf Arm- und Handbewegungen basierende Show) unter Einbeziehung ihres Schals hinlegte und damit Pepp in einen ansonsten sterbenslangweiligen Jahrgang brachte. Der sonnenverwöhnte Mittelmeerstaat – eine der führenden Tango-Nationen – bekam in seiner Grand-Prix-Geschichte ohnehin kaum einen Auftritt ohne wenigstens in Teilen tänzerische Darbietung hin: den Iberern “liegt der Rhythmus halt im Blut”, um Werner Veigel (den deutschen Kommentator beim ESC 1978) bewusst falsch zu zitieren. Erinnert sei hier beispielsweise an das rotierende Röhrchenkleid von Salomé, den feurigen Tango von 1982 oder die handgeschaukelte Babywippe der andalusischen Disco-Schwestern Azúcar Moreno, um lediglich drei besonders unvergessliche Performanzen herauszugreifen.
Stimmen im Wind
Mitte der Siebzigerjahre, als der Wettbewerb sich endlich Gruppen und zeitgenössischem Pop öffnete, feierte der Synchrontanz fröhliche Urständ: der 1976 von den Brotherhood of Men abgelieferten (und bereits im Folgejahr von den österreichischen Schmetterlingen köstlich parodierten) Blaupause folgend, kam für lange Zeit kaum ein Uptemposong mehr ohne meist alberne, dafür aber um so leichter nachzutanzende Schrittchen und Armwedeleien mehr aus. Vor allem die Briten zeichneten sich in dieser Dekade durch besondere Leistungen in den Kategorien schwules Eiertitschen (1981), Bockspringen (1982) und Besoffen-vom-Barhocker-Fallen (1983) aus. In ihrer inflationären Schwemme löschten sich die immergleichen Choreographien visuell jedoch irgendwann gegenseitig aus, und der Sieg der 1984 für Schweden antretenden US-amerikanischen blonden Herreys-Drillinge (gewissermaßen einer Kreuzung aus den Kesslers und den Jacob-Sisters) mit dem Tanz der goldenen Schuhe sorgte europaweit eher für ein Missbehagen gegenüber Tanz-Trash. Dennoch setzten gerade die Schweden hier weiterhin starke Akzente: 1991 brachte die Contest-Legende Carola Häggkvist erstmals eine Windmaschine mit zum Wettbewerb und etablierte sich so als Hohepriesterin des wehenden Haupthaares. Seither gehört das massiv die Augenflüssigkeit der im Luftstrom stehenden Künstler/innen austrocknende Requisit zum unverzichtbaren Handwerkszeug aller Regisseure, die dem Auftritt ihres Schützlings Dynamik verleihen wollen.
Schönes Haar ist Dir gegeben, lass es schweben
Mittlerweile ist es mit simplem Synchrontanz wie noch zu Alice und Ellens Zeiten natürlich längst nicht mehr getan. Denn die Fernsehtechnik hat sich in punkto Kamerafahrten, Schnitte, Beleuchtung, Bühnenhintergrund und Tricks massiv weiterentwickelt. Die hierdurch stark veränderten Sehgewohnheiten lassen statische Auftritte praktisch gar nicht mehr zu. Selbst klassische Balladen, einstmals das Mekka der starr am Mikrofon verharrenden Einzelinterpretin, kommen kaum noch ohne ausgefeilte Choreografien aus, die stellenweise arg an rhythmische Sportgymnastik erinnern und sich von der ursprünglichen Idee, Tanzbarkeit und Schwung zu visualisieren, längst emanzipiert haben. Jede einzelne der 180 Sekunden eines Eurovisionsauftritts, jede Kameraeinstellung, jede Bewegung ist heutzutage durchchoreografiert und minutiös festgelegt. Die Anforderungen sind immens, und sie werden immer widersprüchlicher: in der leider leider nur ein Jahrzehnt währenden Ära des reinen Televoting konnten eingängige Songs mit visuell einprägsamen Tanzdarbietungen meist noch aus dem Stand gewinnen, so wie 2003 der türkische Tanz der sieben Schleier, die menschliche Violine von 2005 oder die Wilden Tänze der Karpaten im Jahre 2004. Letztere dienen dabei als Musterbeispiel einer Hairography, bei der schleudertraumatisch geschüttelte lange Mähnen den Eindruck starker Energie und Verausgabung suggerieren.
Schüttel Dein Haar, wildes Mädchen
Gerade die Helleninnen sind hier Vorreiterinnen, erinnert sei nur an das spektakuläre Haarflug-Doppel von Ivi Amadou und Eleftheria Eleftheriou im Jahre 2012. Die Glitzerzypresse Eleni Foureira führte dieses Genre 2018 zur Perfektion und erwarb sich daneben herausragende Verdienste im energischen In-die-Luft-zeigen, musste sich jedoch mit der Silbermedaille zufrieden geben. Weiterer trauriger Beleg dafür, dass die seit 2009 wieder aus der Mottenkiste geholten Jurys mit aller Macht den Sieg der bei den Zuschauern nach wie vor beliebten Hochleistungsschautänze verhindern, wie nicht zuletzt das Schicksal des düpierten russischen Televoting-Gewinners Sergey Lazarev und seiner besteigbaren Projektionswand von 2016 illustriert. Kein Wunder, schließlich versammeln sich in diesen Bevormundungsgremien hauptsächlich andere Sänger/innen, und etlichen von ihnen dürfte bei der Vorstellung, selbst ein derartig forderndes Vorturnprogramm hinlegen zu müssen, angesichts ihrer mangelnden Fitness schwindelig werden. Also werten sie stark Choreografiertes zur Stärkung der eigenen Konkurrenzfähigkeit gerne vorsätzlich ab. Dadurch, vor allem aber aufgrund der technischen Weiterentwicklung steht mittlerweile ein anderer Aspekt im Vordergrund: verschmelzen die Live-Auftritte der Eurovisionskünstler/innen, auch dank visueller Gimmicks wie Holografien und Leinwandprojektionen, immer mehr mit klassischen Videoclips, so sind viele Regisseure dazu übergegangen, mit Hilfe der Tänzer/innen eine Geschichte zu erzählen.
Lykken er…
Das kann fürchterlich schief gehen, wie im Falle des Aserbaidschaners Elnur Huseynov, der sich 2015 zur ‘Hour of the Wolf’ ein Pärchen mit auf die Bühne holte, das so etwas wie modernes Ballett darbot: was vermutlich aussehen sollte wie der wilde Paarungstanz der Isegrimme, wirkte dank der fehlenden Fellverkleidung der beiden einander umkreisenden Bleichlinge beinahe wie eine Schlägerei. Und da man wegen des schlechten Englischs des Sängers den Text kaum verstand, stellte sich auch kein lyrischer Bezug her. Besser machte es da im selben Jahr der Ungar András Kállay-Saunders: der expressionistische Ausdruckstanz, der seine Bühnenshow begleitete, unterstrich nicht nur das in den Strophen skizzierte (ungewöhnliche) Liedthema der häuslichen Gewalt, es verlieh dem Songtext sogar noch zusätzliche Tiefe, weil es mit nur wenigen, dafür um so stärkeren Gesten das subtile Wechselspiel zwischen Anziehung und Missbrauch visualisierte, das solche Beziehungen prägt. Dass der Sänger selbst sich ganz am Schluss mit einer Handbewegung als Retter von Außen stilisierte, löste zudem das ansonsten fast schon unerträglich düstere Sujet in einer Art Happy End auf. Simple Synchrontänze jedenfalls, so sehr diese in lebensälteren Grand-Prix-Fans wie dem Autoren beim Zuschauen auch euphorische Glücksgefühle auszulösen vermögen, sind mittlerweile fast nur noch als ironische Zitate denkbar. Schade, aber um mit dem deutschen Popmusiker Andreas Dorau zu sprechen: ‘So ist das nun mal’.
Stand: 03.09.2019