Kom­po­nis­ten­wett­be­werb

Frank­furt am Main, der 3. März 1957, so gegen 22 Uhr Orts­zeit. Scho­ckie­rend rüde Sze­nen spie­len sich ab im Sen­de­saal des Hes­si­schen Rund­funks und vor Mil­lio­nen von TV-Zuschau­er/in­nen in ganz Euro­pa: gera­de eben erst erhielt die freu­de­strah­len­de Gewin­ne­rin des zwei­ten Euro­vi­si­ons­wett­be­werbs, die Nie­der­län­de­rin Cor­ry Brok­ken, aus der Hand des hr-Inten­dan­ten ihre Sie­ges­tro­phäe in Form einer mas­si­ven Bron­ze­pla­ket­te mit dem Euro­vi­si­ons­lo­go, da ent­reißt ihr der­sel­be Mann das Prä­sent auch schon wie­der! Denn, so hat­te es Eber­hard Beck­mann der ver­dutz­ten, aber vor­bild­haft die Con­ten­an­ce wah­ren­den Cor­ry in sei­ner auf deutsch (!) gehal­te­nen Anspra­che bereits zu erklä­ren ver­sucht: die stün­de eigent­lich nicht ihr zu, son­dern ihrem Kom­po­nis­ten. Und da eben jener über­ra­schend eben­falls auf der Büh­ne auf­kreuzt, womit beim hr wohl nie­mand gerech­net hat­te, folgt ein für alle Betei­lig­ten hoch­not­pein­li­ches Durch­ein­an­der, aus dem Corin­ne Her­mès ver­mut­lich die Inspi­ra­ti­on für ihren Sie­ger­song von 1983 zog: “Cadeau don­né, cadeau repris, cadeau volé”. Oder auf deutsch: schen­ken und wie­der­ho­len ist gestohlen!

Oh, das habe ich nicht gewusst”: ab Minu­te 4:00 nimmt das Cha­os sei­nen Lauf.

Hier fand ver­mut­lich die von den Song­schrei­ber­ver­bän­den begeis­tert auf­ge­nom­me­ne und wei­ter­trans­por­tier­te Legen­de ihren Ursprung, der Grand Prix Euro­vi­si­on sei ein “Kom­po­nis­ten­wett­be­werb”. In man­chen Krei­sen hält sich die­ser hart­nä­cki­ge, selbst in den EBU-Sta­tu­ten ein­gra­vier­te Irr­glau­be sogar bis heu­te. Dazu zäh­len einer­seits ein­ge­fleisch­te Euro­vi­si­ons­fans ohne eige­nes Leben, aber mit Tabel­len­fe­tisch, die mit Vor­lie­be so vie­le Posi­tio­nen wie nur irgend mög­lich in ihren Sta­tis­ti­ken unter­zu­brin­gen suchen. Und ihr nutz­lo­ses Distink­ti­ons­wis­sen über Titel, Inter­pre­ten, Jah­re, Punk­te und Plät­ze natür­lich lie­bend ger­ne um Tex­ter und Song­schrei­ber ergän­zen. Sowie, ver­ständ­li­cher­wei­se, die Komponist/innen selbst. Allen vor­an der mitt­ler­wei­le end­gül­tig ins Grö­ßen­wahn­sin­ni­ge abdrif­ten­de Ralph Sie­gel: Nico­le hat 1982 nicht gewon­nen,” ver­kün­de­te der Ton­set­zer ein­mal völ­lig iro­nie­frei, “son­dern war nur die Inter­pre­tin des Sie­ger-Lie­des. Grand-Prix-Sie­ger waren Ralph Sie­gel und Bernd Mei­nun­ger.” Ist fort­schrei­ten­der Rea­li­täts­ver­lust nicht ein Zei­chen begin­nen­der Demenz? Denn natür­lich ist die for­ma­le Kon­struk­ti­on des Kom­po­nis­ten­wett­be­werbs in der Pra­xis völ­li­ger Quatsch.

Auch Gehör­lo­se sol­len lei­den: Sascha Korf mit der Simultanübersetzung.

Oder kön­nen Sie sich an eine Pres­se­mel­dung erin­nern, nach der bei­spiels­wei­se Iain Far­quhar­son, San­dra Bjur­man und Ste­fan Örn den Euro­vi­si­on Song Con­test 2011 gewon­nen hät­ten? Nein? Kein Wun­der, denn so stand es auch nir­gends zu lesen, obwohl es nach obi­ger The­se stimmt. Als Euro­vi­si­ons­sie­ger in die­sem Jahr nann­ten eini­ge Medi­en das Gesangs­duo Ell & Nik­ki, die Majo­ri­tät ver­kün­de­te jedoch über­ein­stim­mend: “Aser­bai­dschan gewinnt den ESC. Denn der Euro­vi­si­on Song Con­test ist de fac­to nun mal in ers­ter Linie ein Län­der­wett­streit! Natio­nen tre­ten hier im fried­li­chen Kräf­te­mes­sen gegen­ein­an­der an, zufäl­li­ger­wei­se mal nicht von Sport­lern ver­tre­ten wie sonst, son­dern von einer Hand­voll Sän­ge­rin­nen und Sän­gern. Und die­se sind es, die für alle sicht­bar auf der Büh­ne ste­hen und sich die See­le aus dem Leib sin­gen. Beglei­tet von der Dau­er­ein­blen­dung am Bild­schirm­rand, wel­ches Land sie reprä­sen­tie­ren. Es mag unge­recht gegen­über den Liedschöpfer/innen erschei­nen, ohne deren geis­ti­ge Arbeit die heiß­ge­lieb­ten Fest­spie­le natür­lich nicht statt­fin­den könn­ten, aber: kei­ne Sau inter­es­siert sich für sie! Selbst der hr-Mann Eber­hard Beck­mann erwähn­te 1957 Guus Jan­sen, den Schöp­fer von ‘Net als toen’, nicht nament­lich, son­dern sprach von ihm nur als “der Kom­po­nist”!

War­um er wohl kei­ne Schla­ger­kar­rie­re mach­te? Onkel Ralph mit ‘Schwarz auf weiß’

Umso ärger­li­cher natür­lich für den alters­tarr­sin­ni­gen Ralph Sie­gel, der an die­sem Mum­pitz ver­zwei­felt fest­hält, dass aus­ge­rech­net sein größ­ter Wider­sa­cher ihm vor­mach­te, wie es geht: in sei­ner gren­zen­lo­sen Ego­ma­nie durch die Tat­sa­che gekränkt, dass sei­ner­zeit ein jeder (zu Recht) Guil­do Horn als den Ret­ter des Grand Prix fei­er­te und nie­mand den Kom­po­nis­ten sei­nes Bei­trags ‘Guil­do hat Euch lieb’, trat Ste­fan Raab im Jah­re 2000 selbst sin­gen­der­wei­se an, damit sei­ne vier Buch­sta­ben auf ewig mit dem Musik­fes­ti­val ver­bun­den sei­en. Wes­we­gen der Name des fei­nen Herrn in mei­nem Blog auch stets in Fett­druck erscheint, wie der von sämt­li­chen ehe­ma­li­gen und aktu­el­len Euro­vi­si­ons- oder Vorentscheidungsteilnehmer/innen. Und im Gegen­satz zu dem von Herrn Sie­gel, der zwar der­ge­stalt vie­le Grand-Prix-Lie­der für alle erdenk­li­chen Natio­nen schrieb, dass Fans für ihn längst schon sei­ne eige­ne Lan­des­flag­ge for­der­ten. Der aber eben noch nie selbst dort sang. Und damit halt einer aus dem Hin­ter­grund bleibt.

The sen­sa­tio­nal Super­sack of Ger­man Tele­vi­si­on”: Ste­fan Raab stand nicht nur als Kom­po­nist (und Pseu­do-Diri­gent) auf der ESC-Büh­ne, son­dern auch als Front­mann sei­nes eige­nen Liedes.

Stand: 30.05.2019

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7 Comments

  • Ein ganz klei­nes biß­chen hane­bü­chen ist die­se ver­such­te Argu­men­ta­ti­on schon. Bei Sport­ver­an­stal­tun­gen erklä­ren mir mei­ne Eltern auch immer wie­der, daß “Öster­reich” gewon­nen hat oder zwei­ter gewor­den ist. Öster­reich war aber gar nicht dabei, son­dern nur ein ein­zel­ner Sport­ler. Mit ein biß­chen Glück ist das dann auch noch ein Kroa­te oder ein Deut­scher, der für einen öster­rei­chi­schen Ver­ein antritt. Gewon­nen hat der, der die Leis­tung erbringt, egal was in der BamS steht. Bei einem guten ESC-Song, der begeis­tert, ist das nun mal der Komponist.

  • Da der ESC aber lei­der kein Wett­be­werb von Noten­blät­tern ist, fin­de ich, dass der Sieg dem gan­zen Team des jewei­li­gen Acts zusteht, also Kom­po­nist, Tex­ter, Sän­ger, Tän­zer, Musi­ker, Arran­geur, Cho­reo­graph und wer eben sonst noch alles zur gelun­ge­nen Prä­sen­ta­ti­on bei­getra­gen hat. Es geht weder um den bes­ten Sän­ger, noch um das bes­te Lied, son­dern um eine Art von Gesamt­kunst­werk, das die Mas­sen (und die Juries) über­zeu­gen muss.

  • @ Litt­le Imp: Sagen wir so: Ein schlech­ter Sän­ger kann einen guten Song bis zur Unkennt­lich­keit Zer­stö­ren. Ein guter Sän­ger macht aus einem schlech­ten Song aber kei­nen Sie­ger­ti­tel. Die Leis­tung des Tex­ters hal­te ich für völ­lig irrele­vant (“Lal La La La”). Der Cho­reo­graph muß eine unter­halt­sa­me, stim­mi­ge Show lie­fern. Trägt er zum Sieg bei? Ich weiß es nicht. – Ganz sicher wich­tig ist der Arran­geur, stimmt, da hast Du recht. Aber unterm Strich bleibt doch: Kei­ner der Betei­lig­ten kann ohne den Kom­po­nis­ten. Mit dem steht und fällt alles, der ist die zen­tra­le Figur.

  • Na gut, man kann natür­lich die Antei­le in eine Rang­fol­ge brin­gen, wenn man mag. Das sie nicht gleich groß aus­fal­len ist klar, aber manch­mal geben eben auch Nuan­cen Aus­schlag über Sieg oder Nicht-Sieg, so dass das Opti­mum immer sein soll­te, dass eben alles passt. Den Text hal­te ich aller­dings nicht für irrele­vant. Er muss sich zumin­dest rhyth­misch und melo­disch ein­fü­gen und auch für den jewei­li­gen Sän­ger macht es sicher einen Unter­schied, ob er nur La La La singt oder von Gefüh­len, die er selbst nach­voll­zie­hen und auch auf der Büh­ne leben und aus­drü­cken kann, beson­ders wenn es die Mut­ter­spra­che ist (sie­he Molit­va). Und wenn der Text kei­ne Rol­le spielt, war­um gewin­nen dann so vie­le Lie­der auf Eng­lisch? Eben weil vie­le Leu­te den Text ver­ste­hen. Ich will jetzt garan­tiert nicht sagen, der Text wäre das Wich­tigs­te. Das ist er sicher nicht, aber er ist eben mehr als irrelevant.

  • […] Damit ver­ab­schie­de­te man sich end­gül­tig von der alber­nen Mär, der Euro­vi­si­on Song Con­test sei ein Kom­po­nis­ten­wett­be­werb und kon­zen­trier­te sich auf den Kampf der Natio­nal­staa­ten. Und da Frank­reich in die­sem Wettstreit […]

  • […] man quä­lend lan­ge Sen­de­mi­nu­ten dar­auf, dem Zuschau­er haar­klein zu erklä­ren, dass dies ein Kom­po­nis­ten­wett­be­werb sei; in wel­cher Form die Vor­auswahl der neun an die­sem Abend zu Gehör zu bringenden […]

  • Denn natür­lich ist die Legen­de vom Kom­po­nis­ten­wett­be­werb in der Pra­xis völ­li­ger Quatsch.”
    Bit­te lesen sie mal die Sta­tu­ten des ESC und der GEMA zu die­sem The­ma, bevor sie der­ar­ti­ge Unwahr­hei­ten verbreiten.
    Zitat von Focus.de :
    Die Tro­phäe muss der sieg­rei­che Künst­ler zumeist wie­der abge­ben – außer, er hat den Gewin­ner-Titel selbst geschrie­ben. Denn der ESC ist im Grun­de ein rei­ner Kom­po­nis­ten-Wett­be­werb, die auf­tre­ten­den Sän­ger und Bands gehen leer aus – von dem her­vor­ra­gen­den Wer­be-Effekt des Kult-Events mal abgesehen.

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