Beinahe schon wähnte man den osmanischen Gegenentwurf zum Eurovision Song Contest, die Türkvizyon, im dritten Jahr seines Bestehens als etabliert: eine neue Rekordzahl mitmachwilliger Turkvölker meldete sich zunächst zu dem Mitte Dezember 2015 in Istanbul stattfindenden Event an, welches die Veranstalter erstmalig – auch hier seinem europäischen Vorbild folgend – um einen Kinderwettbewerb erweiterten, die Bala Türkvizyon. Die Politik funkte jedoch dazwischen: der Austragungsort musste geändert werden, sämtliche russischen Republiken stornierten auf Geheiß Putins ihre Teilnahme, und schließlich sorgte die innere Instabilität in der Türkei und ein bizarrer Namensrechtsstreit dafür, dass die dritte Türkvizyon bis dato vorläufig die letzte bleiben sollte.
Und dann trug der Heimvertreter auch noch eine schlimme Schamhaarfrisur zur Schau (TR)!
Türkvizyon 2015: die Teilnehmerliste
3. Song Contest des türkischen Kulturraumes. Samstag, 19.12.2015, 15:30 Uhr MEZ, in Istanbul, Türkei.Land / Republik | Teil von | Interpret | Song | Übersetzung |
---|---|---|---|---|
Albanien | AL | Xhoana Bejko (Xhoi) + Visar Rexhepi | Adi Hasret | Gemeinsamer Wunsch |
Aserbaidschan | AZ | Mehman Tagiyev | Istanbul | Istanbul |
Bosnien | BA | Adis Škaljo | Pa šta | Na und? |
Bulgarien | BG | Big Star Life | Istanbuldayız | Wir sind Istanbul |
Deutschland | DE | Derya Kaptan | Sessiz Çığlık | Stiller Schrei |
Gagausien | MD | Valentin Ormanji | Sev beni sev | Liebe mich, Liebe |
Georgien | GE | Anar Askerov | Tenha yürek | Einsames Herz |
Irak | IQ | Oğuz Sırmalı | Serenat | Ständchen |
Iran | IR | Reza Esbilani | Mənim arzum | Mein Traum |
Kasachstan | KZ | Orda | Olaya Emesa | So nicht |
Kirgisien | KG | Jiidesh İdirisova | Kim bilet | Wer weiß |
Kosovo | KO (RS) | Tolga Kazaz | Sevmek Günah mıdır? | Ist Liebe eine Sünde? |
Mazedonien | MK | Kaan Mazhar | Böyle Olmamalıydı | Es hätte so nicht sein sollen |
Nordzypern | CY | İpek Amber | Sessiz Gidiş | Stiller Abschied |
Rumänien | RO | Edvin Radcif | Seviyorum, Anlasana | Ich liebe Anlasana |
Sandžak | RS | Almedin Varošanin | Trag | Spur |
Syrien | SY | Adil Şan | Geliş | Ankunft |
Türkei | TR | Görkem Durmaz | Hırcın Sular | Zähmung des Wassers |
Ukraine | UA | Anna Mitioglo | Baaşla bana | Verzeihe mir |
Usbekistan | UZ | KaaPlya + Hurdona | Azadlıq | Freiheit |
Weißrussland | BY | Aleksandra Kazimova | Azadlıq | Freiheit |
Leider nur als Teaser erhältlich: der deutsche Beitrag zur Türkvizyon 2015.
Doch der Reihe nach: Der Wettbewerb bestand diesmal nur aus dem Türkvizyons-Finale, das am Samstag, dem 19. Dezember 2015, stattfand. Und zwar am helllichten Nachmittag: los ging es um 15:30 Uhr (!) mitteleuropäischer Zeit. Drei Stunden dauerte die Show, die vor maximal halbvollen Rängen im Yahya-Kemal-Beyatlı-Kulturzentrum über die Bühne ging. Und das trotz freien Eintritts für die Zuschauer/innen. Organisatorisches Chaos beherrschte das Event: wie “Dr. Eurovision” Irving Wolther, der sich als Teil der deutschen Delegation vor Ort befand, auf eurovision.de berichtete, durften die bereits eine Woche im Voraus angereisten Künstler/innen erstmalig am Donnerstag in der Halle proben, also drei Tage vor der Livesendung. Und auch da wurde allenthalben noch “geschweißt, geschraubt, gebohrt und gehämmert”. Kein Wunder, dass der ausrichtende Musiksender TMB das ursprünglich für diesen Tag geplante Semifinale noch in der Türkvizyonswoche absagte.
Die deutsche Herzchen-Übersetzung fällt ein bisschen unglücklich aus: Adis Škaljo (BA).
TMB konnte allerdings selbst am wenigsten für das Durcheinander: der Logik der Sendereihe folgend, nach welcher die jährlich wechselnde, aktuelle Kulturhauptstadt der türkischen Welt auch die Türkvizyon beherbergt, sollte die Show ursprünglich im turkmenischen Städtchen Mary residieren. Dort ließ sich allerdings nach Angaben der örtlichen, äußerst autokratischen Regierung keine geeignete Halle finden, so dass diese den ruhmreichen Wettbewerb in die Hauptstadt Aşgabat verlegen wollte. Das durchsichtige Manöver ging nach hinten los: Ende August 2015 gaben die Veranstalter, die Kulturorganisation Türksoy, bekannt, dass die Türkvizyon nunmehr in Istanbul stattfinde. Die türkische Partnergemeinde Marys hatte man zuvor bereits zum Austragungsort der Bala Türkvizyon erkoren: diese Entscheidung sollte sich im Weiteren als goldrichtig erweisen, auch wenn das Yahya-Kemal-Beyatlı-Kulturzentrum bis kurz vor der Sendung bereits ausgebucht war, so dass die relativ kurzfristige Verlegung die erwähnten Schwierigkeiten im Probenablauf nach sich zog.
Ist es denn schön da? Das deutsche Lesbenduo Cora zog es schon früh in die türkische Metropole.
Ein noch größeres Hin und Her entfaltete sich aber um die Frage, wer denn nun dabei sei. Am 10. September 2015 veröffentlichten die Veranstalter auf Facebook eine erste, 25 Länder starke vorläufige Partizipantenliste, auf der sich wenig Veränderungen zum Vorjahr ergaben: Albanien und der ohnehin verdächtige „Stadtkreis Moskau“ fehlten (zunächst), dafür machte der türkisch besetzte Teil Zyperns, der in Kasan aus politischen Gründen nicht einreisen durfte, wieder mit: er schickte seine 2014 zurückgewiesene Vertreterin Ipek Amber. Mit ihrem damaligen Titel! Neu dabei sein sollte die russische Kaukasusrepublik Dagestan, wobei sich im weiteren zeitlichen Verlauf noch zwei in dieser Region beheimatete Turkvölker, nämlich die Kumyken und die Nogaier, einzeln anmeldeten. Anfang November vermeldete Albanien, nun doch mittun zu wollen. Oder, um genauer zu sein: die Sängerin Xhoi, die schon 2014 das Land der Skipetaren vertrat, ohne dass die dort beheimateten Sender irgendetwas davon wussten, meldete sich erneut an.
Huch, was macht denn Susan Delfino von den Desperate Housewives bei der Türkvizyon? (AL)
Zu den weiteren Rückkehrer/innen zählten der Mazedonier Kaan Mazhar, dessen Sohn praktischerweise bei der Bala Türkvizyon antrat, so dass sich die Anreise für die Familie Mazhar gleich doppelt lohnte, sowie der bulgarische Vorjahresvertreter İsmail Matew, diesmal als Teil der Bärenbrüderbande Big Star Life. Ende November meldete sich mit Almedin Varošanin auch ein Vertreter Serbiens an, oder genauer: der einstmals ottomanischen Region um Novi Pazar, dem Sandschak. Sowie, ebenfalls ein Novum: die syrischen Turkmenen, vertreten durch Adil Şan, der als Kind aus dem Bürgerkriegsland in die Türkei flüchtete. Und einen fantastischen Beitrag mit zur Türkvizyon brachte! Der ominöse “Stadtkreis Moskau”, im Vorjahr Träger des zweitplatzierten Acts der tatarischen Vorentscheidung, kehrte übrigens vorübergehend doch noch auf die Teilnehmerliste zurück: diesmal als Ersatzabsender für den Beitrag des teilnehmertechnisch völlig überlaufenen Dagestans.
Geiles Outfit, toller Ethnostampfer: der syrische Beitrag 2015 über “Börek, Börek” überzeugte auf allen Ebenen.
Doch die Scharade währte nicht lange: nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch türkisches Militär Anfang Dezember 2015 untersagte der erboste Despot Putin seinen sämtlichen Gebietskörperschaften, an der Veranstaltung im Feindesland mitzuwirken. Mehr oder minder zähneknirschend zogen daraufhin elf Republiken und Stadtkreise – ja, auch Moskau – ihre Anmeldung zurück. Was TMB dann als offizielle Ausrede nahm, das Halbfinale zu streichen. Und das, obwohl die Teilnehmerzahl 2015 kaum niedriger lag als in den beiden Vorjahren: trotz des Boykottes gingen schließlich noch 21 Nationen und Völker an den Start, nur vier weniger als 2014. Zwei Tage vor dem Finale sagte auch das von Moskau unabhängige Turkmenistan ab, wie wir uns erinnern, der ursprüngliche Gastgeber. Interessanterweise durften die Juroren der elf abgemeldeten Völker dennoch mitstimmen. Die Gunst der Stunde nutzte das Kosovo, das im Vorjahr wohl auch auf Druck Moskaus fehlte: unmittelbar nach der Absage der russischen Staaten meldete sich das völkerrechtliche umstrittene Territorium an.
“Kann den Liebe Sünde sein” frug der kosovarische Vertreter Tolga Flim Flam Balkan Kazaz.
Deutschland, das seine erneute Teilnahme bereits früh zugesagt hatte, wurde von Derya Kaptan vertreten, einer Kölner Sportstudentin, Musicalsängerin, Schauspielerin und Schwester der Comedienne Meltem Kaptan. Ihr Song ‘Sessiz Çığlık’ (‘Stummer Schrei’), eine ungewöhnlich strukturierte, so sperrige wie fragile Ballade, widmete sie den Opfern eines Terroranschlags auf eine Demo in Ankara, bei der im Oktober 2015 rund 100 Menschen starben. Sie erhielt dafür den Sonderpreis der Jury für den “anspruchsvollsten Beitrag”. Die selbe Jury wertete Deutschland im Wettbewerb allerdings auf den elften Platz. Die unzureichende Vorbereitung merkte man der Show leider an: Licht- und Tonregie waren katastrophal, ständig standen die Leadsänger/innen im Dunkeln, während man die Backings gleißend ausleuchtete. Gelegentlich übertönte das Halbplayback die Interpret/innen (sämtliche Chorstimmen kamen vom Band), manchmal war auch der Live-Gesang übersteuert, gelegentlich sogar beides in ein und demselben Lied.
Storniert: der balkarische Beitrag 2015.
Als deutlich nervtötender erwiesen sich indes die erneuten ellenlangen Funktionärsansprachen, welche die Zuschauer/innen, wie schon bei der Première 2013, über sich ergehen lassen mussten – in der Türkei augenscheinlich unverzichtbar. Ein bisschen unausgewogen auch der zeitliche Ablauf der Sendung: den ersten Song gab es nach einer halben Stunde Gesabbel, unmittelbar gefolgt von der ersten Werbepause. Nach lediglich fünf weiteren Wettbewerbsbeiträgen dann die zweite Unterbrechung, in der Halle überbrückt durch zwei Kinder von der Bala Türkvizyon, die sich wesentlich professioneller gaben als die bis dahin aufgetretenen Erwachsenen. Die restlichen fünfzehn Türkvizyons‑Titel versendete TMB anschließend am Stück, wobei man sich hier nach einer kurzen Erholungspause sehnte, denn es gab schon viel Zähes im Programm. Ob sich der Duisburger Kabelsender Avrupa TV (Europa TV) deswegen nach einer Stunde ausblendete und eine Dauerwerbesendung einschob? Immerhin konnte man hier die Show zumindest eine Zeitlang verfolgen – die Senderfamilie Türkshow / Dügün TV aus Köln, welche den deutschen Beitrag stellte, übertrug entgegen vorheriger Ankündigung doch nicht live. Dankenswerterweise stellten die türkischen Musikkanäle Kral TV und TMB Livestreams bereit.
Sie haben schon ein Händchen für Boybands, die Asiaten!
Superb die Vorjahressiegerin Zhanar Dugalova aus Kasachstan, die als Stargast zur Überbrückung der Jurystimmenauszählung gebucht war und außer Konkurrenz erneut unter Beweis stellte, warum sie 2014 zu Recht gewann. Das zentralasiatische Land verpasste den Doppelsieg nur knapp: die hervorragend durchchoreografierte Boyband Orda landete mit einem eingängigen Pop-Stampfer mit nur neun Punkten Abstand auf Rang 2. Der Sieg ging ans Nachbarland Kirgisien, deren Repräsentantin Jiidesh İdirisova mit einer fehlerfreien Ruslana-Gedächtnisdarbietung den westlicheren Türkvizyonsstaaten zeigte, wo der Hammer hängt. Die Türkei errang mit einem schwachen Discopopliedchen diesmal die Bronzemedaille, was wohl größtenteils ihrer Rolle als Gastgeberin und der Höflichkeit der Juror/innen geschuldet war. Dennoch: dass man sich beim selbst erfundenen Wettbewerb, eigentlich ersonnen, um den kulturellen Führungsanspruch Ankaras zu unterstreichen, ständig von der buckligen asiatischen Verwandtschaft schlagen lassen muss, hatte man sich so wohl nicht gedacht…
Ruslana lässt grüßen: Siegerin Jiidesh aus Kirgisien.
Türkvizyon 2015
Song Contest des türkischen Kulturraumes. Samstag, 19.12.2015, 15:30 Uhr MEZ, in Istanbul, Türkei.# | Land / Republik | Teil von | Interpret | Song | Pkt. | Platz |
---|---|---|---|---|---|---|
01 | Deutschland | DE | Derya Kaptan | Sessiz Çığlık | 153 | 11 |
02 | Albanien | AL | Xhoana Bejko (Xhoi) + Visar Rexhepi | Adı Hasret | 154 | 08 |
03 | Aserbaidschan | AZ | Mehman Tagiyev | İstanbul | 155 | 07 |
04 | Weißrussland | BY | Aleksandra Kazimova | Azadlıq | 126 | 20 |
05 | Bosnien | BA | Adis Škaljo | Pa šta | 153 | 12 |
06 | Bulgarien | BG | Big Star Life | Istanbuldayız | 162 | 06 |
07 | Georgien | GE | Anar Askerov | Tenha yürek | 138 | 16 |
08 | Irak | IQ | Oğuz Sırmalı | Serenat | 137 | 17 |
09 | Iran | IR | Reza Esbilani | Mənim Arzum | 131 | 19 |
10 | Kasachstan | KZ | Orda | Olaya emesa | 185 | 02 |
11 | Kirgisien | KG | Jiidesh İdirisova | Kim bilet | 194 | 01 |
12 | Kosovo | RS | Tolga Kazaz | Sevmek Günah mıdır? | 141 | 14 |
13 | Nordzypern | CY | İpek Amber | Sessiz Gidiş | 154 | 09 |
14 | Mazedonien | MK | Kaan Mazhar | Böyle olmamalıydı | 165 | 04 |
15 | Gagausien | MD | Valentin Ormanji | Sev beni Sev | 154 | 10 |
16 | Usbekistan | UZ | KaaPlya + Hurdona | Azadlıq | 119 | 21 |
17 | Rumänien | RO | Edvin Radcif | Seviyorum, Anlasana | 134 | 18 |
18 | Sandžak | RS | Almedin Varošanin | Trag | 140 | 15 |
19 | Syrische Turkmenen | SY | Adil Şan | Geliş | 165 | 05 |
20 | Türkei | TR | Görkem Durmaz | Hırçın Sular | 175 | 03 |
21 | Ukraine | UA | Anna Mitioglo | Baaşla bana | 148 | 13 |
Oh Grausen, hier kommen die Gagausen: der wohl behütete Valentin Ormanji machte Rang 10.
Jedenfalls verkündete die verantwortliche türkische Kulturorganisation Türksoy am Sonntag nach der Türkvizyon, dass die vierte Ausgabe der Show auch diesmal nicht in der Kulturhauptstadt der “türkischen Welt” stattfinden solle. Diese Auszeichnung fiel 2016 dem aserbaidschanischen Şəki zu – einem Ort mit knapp 65.000 Einwohnern, in dem sich schwerlich eine geeignete Halle für die Sendung würde auftreiben lassen. Stattdessen wolle man aus der Metropole Baku senden. Doch daraus wurde nichts: die schwere innenpolitische Krise mit einem missglückten Putschversuch gegen den despotisch regierenden Präsidenten Erdoğan im Sommer 2016 und der daraufhin verhängte Ausnahmezustand in der Türkei durchkreuzten alle Pläne. Und als sich die Lage wieder etwas beruhigt hatte, meldete sich ein obskurer Sänger beim türkischen Fernsehen und behauptete, die Namensrechte für die Türkvizyon zu besitzen. Ein Gericht gab ihm Recht: seither streitet man um die Entschädigung. Bis auf weiteres liegt die Veranstaltung damit auf Eis…
Will man als dicklicher Rumäne ein mehrere Ligen oberhalb spielendes Model beeindrucken, muss man sich schon für ein teures Auto bis über den nicht vorhandenen Hals verschulden. So lernen wir es zumindest aus dem Videoclip zu Edvin Eddys Türkvizyonsbeitrag.
Stand: 27.05.2019