Fünf Jahre mussten wir warten auf die Fortsetzung des osmanischen Gegenentwurfs zum Eurovision Song Contest, der Türkvizyon. Ende 2015 ging in Istanbul die dritte und bislang letzte Ausgabe über die Bühne, nach der es zunächst hieß, man sehe sich 2016 in Aserbaidschan wieder. Im April 2016 verkündeten die Macher dann, dass die bisherige Bindung der Show an die jährlich wandernde Auszeichnung “Kulturhauptstadt der türkischen Welt” ab sofort entfalle und die Türkvizyon fürderhin stets im Mutterland stattfinde. Dort jedoch wusste man bis zuletzt noch nicht einmal genau, wo: von der administrativen Hauptstadt Ankara über die Touristenhochburg Antalya bis hin zur kulturellen Metropole des Landes, Istanbul, waren diverse Optionen im Gespräch. Letztere schien die wahrscheinlichste: schon 2015 beherbergte das Yahya-Kemal-Beyatli-Kulturzentrum im asiatischen Teil der Millionenstadt die Show. Ende November 2016 behauptete die designierte lettische Teilnehmerin Oksana Bilera, die Wahl sei nun tatsächlich auf Istanbul gefallen, wo der Wettbewerb nach ihren Worten vom 14. bis zum 18. Dezember 2016 stattfinden sollte.
Die für 2016 (und 2019) designierte lettische Türkvizyons-Repräsentantin Oksana Bilera mit einem wunderbar abseitigen Duett (Repertoirebeispiel).
Doch angesichts der politisch instabilen Lage im Land am Bosporus mit einem leider gescheiterten Putschversuch gegen den immer diktatorischer agierenden Sultan Erdoğan, Terroranschlägen und einer harten Wirtschaftskrise hatte man in Türkei andere Sorgen. Und so hieß es kurze Zeit später: verschoben bis auf Weiteres, vermutlich Februar oder März 2017. So dass die Türkvizyon, einstmals das wunderbare Prequel zur ESC-Vorentscheidungssaison, nun mit den ereignisreichsten Wochen des Jahres kollidiert wäre, wo man als Grand-Prix-Fan ohnehin schon alle Ohren voll zu tun hat. Doch, diesen Satz haben Sie im Zusammenhang mit diesem Wettbewerb schon öfters gelesen, es sollte anders kommen… Deutschland hatte als eines der ersten Länder sein erneutes Interesse bekundet: es ernannte den in Baku geborenen und in Köln lebenden Seyran Ismayilkhanov zu seinem Repräsentanten. Er sollte dort starke Konkurrenz bekommen: auch die Niederlande, Litauen sowie das Eurovisions-Powerhouse Schweden wollten erstmals bei der Türkvizyon an den Start gehen. Womit ein neuer Teilnehmerrekord zu erwarten stand, denn auch die russischen Teilrepubliken durften aus ihrer unfreiwilligen Zwangspause wieder zurückkehren, nach dem sich der türkische Sultan beim russischen Zaren für den Abschuss eines Militärflugzeugs zähneknirschend entschuldigte. Allerdings sagten einige der interessierten Länder, Teilrepubliken oder Regionen mit türkischen Bevölkerungsanteilen zwischenzeitlich erbost wieder ab, nachdem es der verantwortliche Sender TMB dennoch nicht gebacken bekam, den Wettbewerb wie geplant auf die Beine zu stellen.
Where the wild Roses grow: der designierte deutsche Vertreter Seyran (Repertoirebeispiel).
Mitte Februar 2017 verlor man endgültig die Geduld: Kasachstan, eines der erfolgreichsten Teilnehmerländer bisher, verkündete, die Veranstaltung übernehmen zu wollen und im Rahmen der im Sommer 2017 in ihrer Hauptstadt Astana gastierenden Weltausstellung Expo zu organisieren. Doch auch dieses Unterfangen schlug fehl. Denn im Frühjahr 2017 entschied ein türkisches Gericht zugunsten eines obskuren Musikers, der behauptete, die geistigen Rechte an der Show und am Namen zu besitzen. Seither blockierte dieser Mann die Austragung der Türkvizyon, weil er sich nicht mit den 6.000 € zufrieden gab, die ihm die Justiz zusprach, sondern auch für jede weitere Sendung entschädigt werden wollte. Der geplante Wettbewerb in Astana musste abgesagt werden. Später kündigte das türkische Fernsehen hoffnungsfroh an, dass die vierte Ausgabe “im Oktober 2018” in Istanbul stattfinden solle, doch auch dieser Monat verstrich ohne eine erneute Show. Später war vage nur noch vom Jahr 2019 die Rede. Lange Zeit listete die offizielle Website turkvizyon.tv noch die möglichen Teilnehmer:innen auf, darunter vielfach diejenigen, die bereits 2016 zum Zuge kommen sollten, zum Teil aber auch neue Namen und darunter sogar welche mit Eurovisionsbezug, wie die ehemalige albanische Grand-Prix-Repräsentantin Enada Tarifa.
Die designierte schwedische Türkvizyonsvertreterin Arghavan mit ihrer Femmage ‘Zan’ (Repertoirebeispiel).
Nach langer Funkpause gab es nun im Oktober 2020 wieder ein Lebenszeichen: nunmehr solle der Wettbewerb als Online-Contest ausgetragen werden, wie Eurovoix World zunächst unter Bezug auf nichtoffizielle Quellen vermeldete. Auch der deutsche Vertreter Seyran bestätigte, erneut angefragt zu sein. Mittlerweile bestätigte der türkische Musiksender TMB, dass tatsächlich für “Dezember 2020” die Wiederaufnahme der Sendereihe geplant sei, in diesem Jahr coronabedingt als virtueller Contest, ab 2021 dann aber wieder vor Ort in Istanbul. Und auch die offizielle Website erwachte wieder zum Leben und postete die Regeln für den Wettbewerb, die unter anderem eine vierköpfige Jury für jedes Teilnehmerland vorsehen, die eine Bewertung anhand von Punkten und schriftlichen Urteilen vorsieht. Sogar ein Semifinale habe man für 2020 vorgesehen.
https://youtu.be/p‑S1X4jrM9k
Diesmal bleibt uns zumindest die furchtbare Anglifizierung ihres Beitrags erspart: die designierte albanische Türkvizyons-Vertreterin Eneda Tarifa (Repertoirebeispiel).
Das strich man dann zwar wieder, nachdem sich die Teilnehmerzahl (natürlich nicht ohne das übliche Drama) auf überschaubare 26 Nationen oder Volksgruppen zurechtgezuckelt hatte. Doch am Wettbewerb hält man fest: am vierten Adventssonntag, dem 20. Dezember 2020, geht er ab 14 Uhr mittags über die Bühne. Yay!
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Türkvizyon 2020
4. Song Contest des türkischen Kulturraumes. Sonntag, 20.12.2020, ab 14:00 Uhr MEZ aus Istanbul, Türkei. 26 Teilnehmer:innen. Moderation: Esra Balamir und Refik Sarıöz.# | Land / Republik | Teil von | Interpret:in | Songtitel | Jury | Platz |
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01 | Albanien | AL | Ilire Ismajli | Përsëri | 171 | 19 |
02 | Stawropol (Nogaier) | RU | Janna Musaeva | Munayma | 159 | 24 |
03 | Baschkortostan | RU | Ziliya Bahtieva | Halkyma | 174 | 17 |
04 | Bosnien | BA | Armin Muzaferiya | Džehva | 194 | 03 |
05 | Nordzypern | CY | Çağıl İşgüzar | Acitir hep Hayallerim | 171 | 21 |
06 | Nordmazedonien | MK | Cengiz Sipahi | Kal Yanimda | 171 | 20 |
07 | Tuwa | RS | Oorzhak Omak Çopanoviç | Bayla la Talgam | 176 | 15 |
08 | Aserbaidschan | AZ | Aydan Ilxaszade | Can Can Qardaş Can | 193 | 05 |
09 | Polen | PL | Mishelle | Doğma Yerlər | 172 | 18 |
10 | Tatarstan | RU | Diliya Ahmetşına | Ğafu it, awılım | 191 | 06 |
11 | Deutschland | DE | Seyran Ismayilkhanov | Odun | 190 | 08 |
12 | Irak | IQ | Sarmad Mahmood | Kelebek | 150 | 26 |
13 | Gagausien | MD | Yulia Arnaut | Kemençä | 185 | 10 |
14 | Chakassien | RU | Darya Taçeeva | Ot-çalında | 181 | 11 |
15 | Ukraine | UA | Natalya Papazoğlu | Tikenli yol | 226 | 01 |
16 | Sandžak | RS | Haris Skarep | Doživotno osuđen | 178 | 13 |
17 | Kirgisistan | KG | Ayganysh Abdieva | Jüpiter | 176 | 16 |
18 | Belarus | BY | Svetlana Agarval | Məni anla | 166 | 23 |
19 | Russland | RU | Olga Shimanskaya | Hadi gel | 186 | 09 |
20 | Rumänien | RO | Sunai Giolakai | Niye? | 167 | 22 |
21 | Kasachstan | KZ | Almaz Kopzhasar | Kim ol | 159 | 25 |
22 | Moldawien | MD | Pelageya Stefoglu | Ateş gibi | 191 | 07 |
23 | Sascha (Jakutien) | RU | Umsuura | Mokhsoğollor | 204 | 02 |
24 | Tjumen | RU | Adilya Tuşakova | Havalarda | 193 | 04 |
25 | Türkei | TR | Ertan & İsrafil | Ne Yaptıysam Olmadı | 179 | 12 |
26 | Uiguren | KZ | Sada Ensembel | Sevgiyi besle | 178 | 14 |
Stand: 20.12.2020