Als leidgeprüfter Grand-Prix-Fan kennt man das Phänomen zur Genüge; besonders verbreitet bei, aber weiß Gott nicht limitiert auf dänische oder mazedonische Eurovisionsbeiträge: die ersten Töne eines bis dato unbekannten Liedes erklingen – und ein tiefer Schmerz durchfährt den Körper. Sei es ein besonders schreckliches Instrument, eine extrem nervtötende Stimme oder einfach eine Melodie, die schon mit den ersten Tonfolgen ihre herausragende Mittelmäßigkeit annonciert: Du weißt instinktiv, Du wirst diesen Song hassen. Abgrundtief. Und Du wirst leiden. Denn anders als der gewöhnliche Popfan, der jetzt einfach den Sender wechseln, die Skip-Taste betätigen oder für die Dauer der Ausstrahlung schnell aufs Klo gehen könnte, steht einem aufrechten Eurovisionista diese Fluchtmöglichkeit nicht zur Verfügung. Er hat sich einem ganzheitlichen Erlebniskonzept verschrieben: der Preis für die höchsten Wonnen der rauschhaften Schlagerekstase, beispielsweise bei Eurobands ‘This is my Life’, besteht dabei im stillen Erdulden der ins Unendliche ausgewalzten Ideenlosigkeit von ödestem Poprockseich wie ‘New Tomorrow’, selbst wenn alle Sinne dagegen revoltieren.
Die Bestie in Liedgestalt: gegen A Friend in London (DK 2011) hilft nur Weihwasser.
So windest Du dich unter tiefsten körperlichen Qualen, während A Friend in London ihren verlogenen, abgeschmackten Sülz darbringen, Strophe um nicht enden wollende Strophe. Und, gerade als Du glaubst, es jetzt aber um keinen Preis der Welt auch nur noch eine Sekunde länger aushalten zu können, nochmals zum verhassten, das Gehirn in Schockstarre versetzenden Refrain anheben, zum gefühlt wohl fünf millionsten Mal. Da die Folter in Europa verpönt ist, ersann ein so mitleidiger wie hellsichtiger Mitarbeiter der veranstaltenden EBU daher einst die Drei-Minuten-Regel, nach welcher ein Eurovisionsbeitrag unter keinen Umständen die magische 180-Sekunden-Grenze überschreiten darf. Höchstwahrscheinlich basierend auf der essentiellen Erkenntnis “in der Kürze liegt die Würze”. Und der leidvollen Erfahrung, dass sich gerade die Apologeten der Fadheit, die weder musikalisch noch textlich oder wenigstens optisch irgendetwas auch nur annähernd Interessantes zu erzählen vermögen, eben nicht an dieses Leitbild halten. Wie das Beispiel der ‘Corde della mia Chitarra’ von Nunzio Gallo belegt, dem mit mehr als fünf Minuten längsten Grand-Prix-Lied der Geschichte. Weswegen seit 1958 – bis heute – strikt auf die Einhaltung der Liedlängenobergrenzenverordnung geachtet wird.
Das immerhin steht fest: die Italiener haben den Längsten.
Schöne Erklärung, oder? Ist natürlich völliger Quatsch: interessierten sich die Fernsehverantwortlichen auch nur im Geringsten für die Leidensbereitschaft der Zuschauer/innen, könnten sie kaum noch Programme machen. Tatsächlich dürfte eher eine gewisse Planungssicherheit hinsichtlich der für die Show zu veranschlagenden Sendezeit den Ausschlag für die Drei-Minuten-Regel gegeben haben, also ein technisches Bedürfnis des Mediums. In Teilen vielleicht auch die angesichts der Ausgestaltung des Eurovision Song Contest als Länderwettbewerb stets virulente Forderung nach Chancengleichheit für alle Teilnehmer/innen. Natürlich bringt die Regelung auch Nachteile: gerade heutzutage, wo sich die durchschnittliche Länge von Popsongs auf vier bis viereinhalb Minuten eingependelt hat, fallen oftmals filigrane Instrumentalparts der Eurovisionsschere zum Opfer. Was sich ganz gut in Ländern wie Albanien beobachten lässt, wo in der nationalen Vorentscheidung die Liedlänge noch freigegeben ist und nach dem FiK-Sieg das große Kürzen einsetzt.
Viel atmosphärischer und organischer als die etwas gedrängt wirkende ESC-Version: ‘Suus’ in der vierminütigen Originalfassung beim Festivali i Kënges.
Nun zählt gerade Albanien zu den Grand-Prix-Ländern, bei deren Beiträgen ich mir oft eine Kürzung auf null Minuten wünschen würde, insbesondere, wenn sie mal wieder lendenlahmes Softrockgesülze schicken. Andererseits beherrscht das Land der Skipetaren wie alle Balkannationen die hohe Kunst des filigran-kraftvollen Klagegesangs, und der profitiert hörbar davon, wenn er sich langsam entfalten kann. Nehmen wir nur den schönsten albanischen ESC-Beitrag ever, ‘Suus’ von Rona Nishliu: beim Festivali i Kënges gab man der Kosovarin vier Minuten Zeit und Raum, ihre Stimme immer wieder in unglaubliche Höhen zu schrauben; instrumentale Zwischenspiele sorgten für Erholungspausen sowohl für die Interpretin wie die Zuhörer/innen. Diese entfielen notgedrungen in der (noch immer exzellenten) ESC-Version, die darob etwas gepresst klang. Ein anderer unschöner Effekt sind abrupte Songenden. Beispiel hierfür: Miros ‘Angel si ti’, ein wunderschön futtiges Discodrama vom Balkan. Das einen aber unbefriedigt hinterlässt, weil das Lied kurz vor Erreichen der 180-Sekunden-Grenze kläglich ausblutet, wo eigentlich noch eine → Rückung und ein aufwallendes Finale hingehören.
Als hätte jemand den Stecker gezogen: ‘Angel si ti’ verendet, statt zu enden.
Weitere Exemplare unschön beschnittener Discoschlager finden wir beim deutschen Vorentscheid der Achtzigerjahre. Zwar hätte der heute bei der Faschingskapelle De Höhner beheimatete Hannes Schöner auch mit der 3:46 Minuten langen Originalversion seines Trennungsschlagers ‘Nun sag schon adieu’ keine Chance gegen die adrette Nicole besessen; zumal er auf Platte mit einem Fadeout arbeitet, also dem langsamen Herunterziehen des Lautstärkereglers. Das dank des unfähigen Live-Orchesters zu allem Überfluss kläglich kakophone Cold End bei Unserem Lied für Harrogate wirkte jedoch entsetzlich aufgepropft. Das gleiche Schicksal ereilte nur ein Jahr später Bernd Clüver und seinen von Dieter Bohlen komponierten Kirmesschlager ‘Mit 17’. Nicht nur, dass der spätere DSDS-Pate als Chorist mit auf der Bühne stand und seinen Schützling des öfteren übertönte. Auch hier endet der Song in der Studiofassung mit einem per Fadeout ausgeblendeten Endlosrefrain, während er live mitten in der Strophe abreißt. Und man merkt als Zuschauer/in: da fehlt was.
Seit wann trägt Otto denn Dauerwelle?
Zuletzt heizte der bereits vorab als potenzieller Siegertitel gehandelte italienische Beitrag von 2017, ‘Occidentali’s Karma’ von Francesco Gabbani, die Debatte um eine zeitgemäße Anpassung der Vorgabe erneut an. Kam das über einen besonders feinsinnigen und lyrisch ausgefeilten, mit vielerlei interessanten Zitaten arbeitenden Songtext verfügende Lied doch über den Weg des Sieges beim traditionsreichen San Remo Festival (wo eine solche Regel nicht besteht) zur Ehre der Repräsentanz beim Eurovision Song Contest. Und mussten in dem durchaus an eine brutale Amputation grenzenden ESC-Edit ausgerechnet die besten Textstellen herausgekürzt werden, um das im Original vierzig Sekunden längere Stück grand-prix-konform einzuhegen. Kennt man die gewissermaßen erleuchtete Ursprungsversion, tut der Grand-Prix-Remix fast schon körperlich weh – ein als Phantomschmerz bekanntes Phänomen.
Vor der Notoperation ein rundweg fantastisches Lied, danach kaum noch anhörbar: Francescos sensationeller Youtube-Hit.
Wie unverzichtbar und menschenfreundlich die Vorschrift dennoch ist, zeigt sich aber vor allem bei jenen Ländern, die sie nicht nur als Maximal‑, sondern auch als verbindliche Mindestvorgabe begreifen und in ihren nationalen Vorrunden eine exakte Liedlänge von drei Minuten und null Sekunden vorschreiben. Wie zum Beispiel die Schweiz. Denn, wie schon weiter oben ausgeführt, hängen gerade die Komponisten der ödesten Schnarchlieder (und das sind im dortigen Finale immer ausnahmslos alle) an ihre spätestens nach 30 Sekunden auserzählten und kaum noch auszuhaltenden Songs stets noch Strophe um Strophe, Rückung um Refrain an, wenn man sie lässt. So, als betrieben sie einen wissenschaftlichen Feldversuch darüber, wie lange es dauert, bis Langeweile tatsächlich körperlich tötet. Um so wichtiger daher, dass man ihnen wenigstens nach drei Minuten Einhalt gebietet, bevor sie ernsthaften Schaden anrichten können.
Je länger es andauert, um so mehr treten die Inhaltsleere und Ziellosigkeit der Komposition zu Tage.
Stand: 31.08.2019
Deine Schreibe finde ich sehr amüsant. Nur deinen Geschmack teile ich nicht. 😉 Dieser Balkan-Disco-Krempel ist für mich die größte Qual beim ESC. Das “Botox-Monster” aus Schweden hingegen find ich super. 🙂
Das große Kürzen in Albanien. Das ist schon sinnvoll, hat man auch dieses Jahr gesehen. Drei Minuten Suus resp. QAAAAAAAAAAAAAAAAAAAIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII haben völlig gereicht. Länger hätte es wohl kaum einer aushalten können.
Sehr schönes Beispiel! Also, dafür, wie verschieden die Geschmäcker sind: gerade ‘Suus’ finde ich in der Viereinhalb-Minuten-FiK-Fassung viel, viel besser, weil atmosphärischer und nicht so dicht gepackt. Aber ich liebe dieses Lied auch heiß und innig und könnte es auch neun Minuten lang anhören. Ich verstehe aber auch gut, welch geradezu körperliche Qual es sein muss, wenn man da nur anstrengendes Gekreische hört und nicht filigranen Hochleistungsgesang und große, echte Gefühle. Umgekehrt würde ich wiederum bei den meisten dänischen Beiträgen nach drei Minuten zur Pumpgun greifen, weil ich’s nicht mehr aushielte.
Wir wundern uns immer wieder, wie es die (meisten;)) Songwriter überhaupt schaffen, innerhalb der mickrigen 3 Minuten eine Steigerung/Spannung zu erzeugen. Um die Veranstaltungen nicht übertrieben zu verlängern, wäre meines Erachtens eine Verlängerung auf zeitgemäßere 3,5 oder 4 Minuten echt gut. (Unabhängig davon wär’s doch jederzeit möglich gewesen, von so starken Songs wie Norwegen-2019 einfach eine “Extended Version” zu produzieren – hmm???)