The History Book on the Shelf is always repeating itself
Aufmerksamen Leser:innen meines Blogs dürfte nicht entgangen sein, dass ich eine tief sitzende Antipathie gegen die organisierte Bevormundung durch Jurys hege. Fassungslos musste ich zur Kenntnis nehmen, wie ein nicht geringer Teil der Grand-Prix-Fans während der leider viel zu kurzen Ära des reinen Televotings zwischen 1999 und 2008 Jahr für Jahr gebetsmühlenartig (und letzten Endes erfolgreich) die Rückkehr der klandestinen Klüngelklubs forderte. Ist das kollektive Kurzzeitgedächtnis denn wirklich so erschreckend schwach ausgeprägt? Sind all die spektakulären, unfasslichen Fehlurteile denn tatsächlich schon vergessen, welche die Jurys während ihrer jahrzehntelangen Alleinherrschaft bis 1997 fällten und die den Wettbewerb nahe an den Rand des Abgrunds brachten? Sind all die wütend machenden Wertungsskandale und die schändlich gekauften Siege erfolgreich verdrängt? Und welche gigantischen Scheuklappen muss man tragen, um allen Ernstes zu glauben, Jurys träfen tatsächlich objektivere, nicht von nationalistischen oder finanziellen Interessen beeinflusste Urteile?
“Liebe ist kein ungedeckter Scheck” entgegnete die Österreicherin Bettina Soriat 1997 mutig der maltesischen Jury.
Dass einzelne Juror:innen der Korruption frönten, also Punkte gegen Gefälligkeiten anboten, ist sogar von höchster Stelle überliefert. So berichtet Dr. Jürgen Meier-Beer, in den Jahren von 1996 bis 2005 der deutsche Grand-Prix-Verantwortliche und stets emsig bemüht um die dringend erforderliche Auffrischung des damals hoffnungslos verstaubten Wettbewerbs, in Jan Feddersens Buch “Ein Lied kann eine Brücke sein” von seinen Erfahrungen als Delegationsleiter beim Eurovision Song Contest 1997 in Dublin: “Eingestimmt wurde ich durch das Angebot eines Kollegen aus einem anderen Land: ‘If you give me 12 points, I give you 12 points’. Mein ‘but we have televoting’ parierte er mit: ‘I understand your problem’.” Das eingangs dieser Artikelserie erwähnte, als Argument für die Wiedereinführung der Jurys problematisierte Phänomen des Blockvotings bestand zudem schon immer, auch als die Punkteschacherer noch alleine das Zepter schwungen: die Existenz beispielsweise der (rein jurybasierten!) griechisch-zypriotischen und der skandinavischen Punkteallianz lässt sich aus den Wertungstabellen älterer Jahrgänge mühelos ablesen. Dass Jurys angeblich bessere Urteile fällen sollen als der anrufende europäische Plebs, haben sie während der ersten vierzig Jahrgänge des Wettbewerbs nun wirklich eindrucksvoll und erschöpfend widerlegt.
Extra gesetzt, damit der erschöpfte Dauergastgeber bloß nicht wieder gewinnt – doch nicht mit den Jurys! (IE 1994).
Und nein, das lässt sich auch nicht durch die Zusammensetzung der Jurys beeinflussen. Ob lediglich zwei oder gar sechzehn Mit- oder Ohneglieder, ob Laien oder “Musiksachverständige”, Juror:innen unter oder über 25 Jahren, das “junge Fräulein” – alles schon ausprobiert, stets mit dem selben Ergebnis: Juryabstimmungen sind und bleiben willkürlich. Denn Musik ist immer und ausschließlich eine Frage des persönlichen Geschmacks, und der differiert nun mal von Mensch zu Mensch. Was für den einen eine wunderbar sanfte Qualitätsballade sein mag, lässt den anderen vor Langeweile ins Koma fallen. Wo aufwändig choreografierter Eurodance mich in höchste Verzückung versetzt, wollen andere schreiend davonlaufen. Ob der Einsatz einer Rockgitarre beim Hörer einen Ohrgasmus auslöst oder ästhetischen Herpes: all dies ist einzig eine Frage der persönlichen Vorlieben und Abneigungen. Und auch, wenn jemand eine solche Präferenz oder Aversion aufgrund erworbenen Distinktionswissens in wohlgesetzte Worte zu kleiden vermag und dabei mit lateinischen Fachbegriffen um sich wirft, die nur wenige Menschen verstehen: letzten Endes destilliert sich jede scheinbar noch so objektive Kritik auf einen ganz simplen Kern herunter. Nämlich auf “mag ich” oder “mag ich nicht”. Musik lässt sich nun mal nur subjektiv beurteilen.
Verka Serduchka lieferte 2007 unbestreitbar fabelhaftesten Eurovisionstrash. Davon braucht es beim Wettbewerb wieder viel, viel mehr!
Songgurken der Handelsklasse I
Das gilt auch für die von Juryfreund:innen gebetsmühlenartig benutzte Argumentation, diese Institution solle für “mehr Qualität” sorgen. Denn nach welchen objektiven, also überprüfbaren Kriterien soll sich diese sich bemessen? In Beats per Minute? Der Anzahl oder Obskurität der verwendeten Instrumente? Der Tonhöhe, Lautstärke und Dauer der gesungenen Schlussnote? Nun geht es beim Eurovision Song Contest bekanntlich um Popmusik. Und das “Pop” in Popmusik steht für “populär”, also für kommerziell erfolgreich. Der einzige tatsächlich objektiv überprüfbare Maßstab für die Qualität von Popmusik sind somit die Umsatzzahlen. Also einstmals die Tonträgerverkäufe oder bezahlten Downloads, ablesbar an den Platzierungen in den Verkaufshitparaden; heutzutage die Anzahl der Streams oder Youtube-Abrufe. Und genau an dieser Qualität muss sich der Contest orientieren, wenn er mehrheitsfähig bleiben will. Vom deutschen Komponistenkönig Ralph Siegel ist die (ebenfalls im Buch-Interview mit Jan Feddersen geäußerte) Einschätzung überliefert: “beim Grand Prix geht es nicht um Hits”. Irrtum, Ralph, genau um die geht es: nur dann, wenn die Siegertitel anschließend europaweit die Charts stürmen (wie beispielsweise Nicoles ‘Ein bisschen Frieden’), kann der Wettbewerb das Quäntchen popkultureller Relevanz vorweisen, das er zum dauerhaften Überleben braucht.
Eric Saade hat’s erkannt: es geht um Popularität. Und über die bestimmen die Zuschauer:innen, nicht ein elitäres Häufchen von “Musikexpert:innen”.
Weswegen also hat die Meinung der letztlich auch nur nach den eigenen Geschmacksmaßstäben wertenden Juror:innen so viel mehr Gewicht (in Deutschland etwa 1 : 200.000) als das der Anrufer:innen? Eine Gruppe von fünf (oder auch fünfzehn oder fünfzig) Menschen stellt angesichts der Vielzahl möglicher kultureller Prägungen und persönlicher Vorlieben immer eine völlig willkürliche Zufallsprobe dar. Entsprechend kommen stets Zufallsergebnisse heraus: ließe man fünf andere “Musik-Expert:innen” aus dem gleichen Land abstimmen, fiele die Punktewertung komplett anders aus. Für einigermaßen aussagekräftige Umfragen, man kennt das aus der Demoskopie, braucht es nicht umsonst in aller Regel mindestens fünfhundert, eher tausend nach statistisch gewichteten Gesichtspunkten ausgewählte Menschen. Repräsentativ können die Jurys also gar nicht sein, das zeigt sich beim Vergleich der Televoting- gegenüber der Juryergebnisse: während die breite Masse der Zuschauer:innen tendenziell eher aufwändige Bühnenshows und fröhliche Uptemponummern präferiert, bevorzugen Juror:innen auffällig oft Balladeskes mit zurückgenommener Präsentation. Und so entscheidet auch die eigene Zugehörigkeit zum einen oder anderen geschmacklichen Lager meist darüber, ob man selbst den Einsatz von Jurys tendenziell befürwortet oder ablehnt.
Für Juryhasser:innen das Weihwasser, in dem sie baden: Gina Gs ‘Ooh aah’. Bespritzt man Juryfreunde damit, lösen sie sich auf.
Halb & halb = halb so gut, doppelt so schlecht
Das Televoting lässt sich indes unter keinen Umständen mehr streichen, weil es sowohl für sprudelnde Einnahmen durch die Telefongebühren als auch für stabile Quoten sorgt. Der Vergleich mit den nur noch unter dem Elektronenmikroskop messbaren Zuschauerzahlen in der dunklen Phase des Contests beweist: nur wer mitstimmen darf, schaltet auch ein. Der Demokratisierung der Abstimmung folgte in den goldenen Jahren des Contests auch eine Demokratisierung des Angebots: da im Televoting zu meinem persönlichen Wohlgefallen fröhliche Nummern mit auffälliger Bühnenshow meist sehr gut abschnitten, stieg ihr Anteil zwischen 1999 und 2008 spürbar. Was wiederum ein perpetuelles Lamento der zahlenmäßig unterlegenen Balladenfans nach sich zog, die spektakulär Trashiges wie ‘Dancing Lasha Tumbai’ oder ‘Vodka’ nicht als rettende, regenbogenfarbene Lichtstrahlen im ewiggrauen Elend der menschlichen Existenz empfinden, sondern als unablässige Sinnesfolter. Nachdem das konservative Dauerquengeln kein Ende fand, entschied sich die EBU 2009 also für den klassischen allen-Wohl-und-keinem-Wehe-Kompromiss, den Grand Prix seither zur Hälfte durch das Publikum und zur Hälfte durch Jurys bestimmen zu lassen.
Vom Publikum geliebt, von den puritanisch-humorbefreiten Jurys schnöde zurückgewiesen: die kessen polnischen Buttermägde und ihre großartige Female-Empowerment-Hymne. Schande über euch!
Sie kombiniert so ein demokratisches, dank der länderzentrierten Auszählungsarithmetik und des Diasporavotings jedoch für migrationsbedingte Verzerrungen anfälliges Verfahren mit einer vom reinen Zufall bestimmten Willkürherrschaft, die das Problem nationalistischer Vorlieben eher noch verschärfte und zudem der Korruption Tür und Tor öffnete. Ob die jeweiligen Nachteile beider Abstimmungsarten sich nun durch die Kombination beider Verfahren auf mirakulöse Art und Weise irgendwie gegenseitig ausgleichen (wie Juryfreunde gebetsmühlenartig wiederholen) oder potenzieren (wovon ich felsenfest überzeugt bin), ist wiederum reine Glaubenssache. Welcher Religion man in dieser Frage zuneigt, hängt in der Regel ebenfalls mit der Zugehörigkeit zum Lager der Balladenfreunde oder Discohäschen zusammen. Wie die Jahrgänge 2016 und 2019 schließlich zeigten, gewinnt bei diesem Abstimmungsmix schon mal nur das zweitbeste Lied, wenn die Jury dem Publikumsfavoriten sehr wenige Punkte gibt, die Zuschauer:innen hingegen den Juryfavoriten links liegen lassen. Merke: wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte. Ein Verfahren aber, bei dem nur zweite Wahl herauskommt, ist Müll. Was schlichtweg im stets faulen Wesen des Kompromisses liegt: alle verlieren, niemand bekommt, was er will, und das Optimum wird verhindert.
Muss seit ihrem ESC-Sieg 1999 wohl nichts mehr gegessen haben: Charlotte, die Mörderpuppe, beim zweiten Anlauf.
Das traurige Schicksal der im Jahre 2008 als unfreiwillige Vorbotin fungierenden Schwedin Charlotte Perrelli und ihres fabelhaft discotastischen ‘Hero’, einem wunderbar futtigen Grand-Prix-Schlager aus der Feder des einschlägig bekannten Fredrik Kempe, dem unbestreitbaren “Meister der klobigen Rückung” (Schlagerboys), hätte eigentlich Warnung genug sein sollen. Gleich zweimal ließ sich die Grand-Prix-Gewinnerin von 1999 heldinnenhaft von den Juror:innen retten: zunächst beim schwedischen Melodifestivalen, wo sie im Televoting auf dem zweiten Platz landete, aber mehr Punkte von der Jury bekam. Und anschließend in der Qualifikationsrunde zu Belgrad, wo sie zwar nur Zwölfte wurde, die erstmalig probehalber wieder installierte und nur für den zehnten Platz zuständige ESC-Jury sie aber hinterrücks an Mazedonien vorbei in die Endrunde mogelte. Mit dem Ergebnis, dass sie zu meiner großen Enttäuschung dort hart abkackte, weil sich die im Finale seinerzeit noch alleine abstimmenden Zuschauer:innen von einem an Chuckys Braut erinnernden Botoxmonster keinen fröhlichen Schwedenschlager vorsetzen lassen wollten.
Argument genug gegen die Jurys: das Kuunkuiskaajatgate.
Karma is a Bitch
Um so schlimmer also, dass die EBU mit diesem halbgaren Minimalkompromiss seinerzeit die Tür einen winzigen Spaltbreit öffnete. Denn, wie wir heute wissen, reichte das nicht aus, die beständig nörgelnden Anhänger:innen der organisierten Bevormundung ruhig zu stellen, sondern bestärkte sie nur in ihrem Irrglauben an die Jury und bot ihnen das Einfallstor, durch das sie wie eine Zombiearmee hindurchquellen konnten. So nahm dann das Unglück ab dem Folgejahr seinen Lauf. Und fand seinen Weg auch zu ausgleichender Ungerechtigkeit: schmuggelte die Jury, wie bereits erwähnt, im Jahre 2008 mit ‘Hero’ sowie 2009 mit ‘Lose Control’ der finnischen Waldos People jeweils auf Kosten Mazedoniens einen skandinavischen Beitrag ins Finale, so verhinderten die Geschmacksgeront:innen in den beiden Folgejahren das Weiterkommen jeweils eines Titels aus dem Reich der Wikingernachfahren. Und zwar bestürzenderweise gleich zwei der besten Beiträge, die jemals von der arktisnahen Halbinsel kamen, nämlich Stella Mwangis fabulös fröhliches ‘Haba haba’ (Norwegen 2011) und den finnischen Handklatsch-Quetschkommoden-Turbokracher ‘Työlki ellää’ (2010)! Seither bleibt kein Semifinale ohne Voting-Gate, bei dem sich stets aufs Neue beweist, dass das Publikum die besseren Urteile fällt.
Zugegeben, die Stimmstärkste ist Stella nicht. Aber alleine für die fabelhafte Hand-Choreografie hätte ihr der Finaleinzug gebührt!
Doch die Schlechtbehandlung Norwegens durch die Jury beschränkte sich nicht alleine auf die schöne Stella. 2019 verhinderten die Wertungsfälscher:innen durch brutalstmögliches Downvoting gar den Sieg des camptastischen Nordlichter-Trios Keiino mitsamt des charismatischen Glatzenkobolds Fred Buljo und ihres poppigen Discojodlers ‘Spirit in the Sky’. Immerhin ein lediglich auf ihrer notorischen Spaß-Aversion beruhendes Fehlurteil und kein politisch fundiertes wie noch drei Jahre zuvor, als die Jurys die eigens auf ihren Geschmack hin konzipierte und vor leistungsbetontem Vokalgewichse nur so triefende Ballade ‘Sound of Silence’ aus Tralien präferierten, während die Zuschauer:innen den Russen Sergey Lazarev und seine spektakuläre Inszenierung des durchschnittlichen Discoschlagers ‘You are the only One’ zu ihrem Liebling kürten. Was im Gesamtergebnis dazu führte, das stattdessen die nirgends favorisierte Jamala aus der (mit Russland in eine bewaffnete Auseinandersetzung verwickelten) Ukraine mit ihrem musikalisch anspruchsvollen und inhaltlich hochpolitischen Lied ‘1944’ gewann. Von dem sie anschließend allerdings kaum eine Kopie verkaufte. Ein umstrittener Siegersong, der als liedgewordene Solidaritätsadresse eines Abends den Contest wieder zurück in die überwunden geglaubte Phase der popmusikalischen Irrelevanz führte: bravo, EBU!
Verhinderter Sieger: die Jurys stießen Publikumsliebling Sergey hinterrücks vom Podest (RU 2016).
Fremdbestimmt im eigenen Land
Bei aller berechtigten Schelte mag es dennoch einen Platz für die Jurys geben. Nicht beim Eurovision Song Contest natürlich, aber in den nationalen Vorentscheidungen! Hier, wo die Sender seit jeher freie Hand bei der Ermittlung ihres Grand-Prix-Beitrags haben, wurde schon immer mit allen möglichen Formen des Abstimmungsverfahrens experimentiert. Und so erblickte auch dort eine bemerkenswerte Idee das Licht der Welt: die internationale Jury nämlich! Erstmalig eingesetzt bei der Königin aller Vorentscheide, dem schwedischen Melodifestivalen, eroberte sie in unterschiedlicher Aufstellung und mit unterschiedlich starkem Einfluss in den letzten Jahren zügig weitere Nationen. Das Grundkonzept: ein wahlweise aus Fans, Eurovisionsbloggern, den unvermeidlichen Musik-Professionellen oder ehemaligen ESC-Juror:innen anderer Länder zusammengesetztes Gremium bewertet die heimischen Vorentscheidungsbeiträge. Was im Hinblick auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit getreu des Mottos “Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler” völligen Sinn macht, denn beim Contest stimmen ja auch die anderen Europäer:innen über das eigene Lied ab und nicht die entsendende Nation selbst.
https://youtu.be/JB9eOhXytFE
2017 verhinderte das Ausland ganz knapp die ESC-Teilnahme des Rag’n’Bonelessman und schickte stattdessen den botoxierten Robin Bengtsson.
Beim Mello gelang es der mit den heimischen Zuschauer:innen gleichberechtigten internationalen Jury bereits, die für ihren notorisch schlechten Geschmack berüchtigten Schwed:innen zu überstimmen und ihren eigenen Favoriten durchzudrücken. Bei der rumänischen Selecția Națională kam es 2019 zur nationalen Aufruhr, weil die sechs Damen und Herren der Jury, darunter gleich zwei britische Wiwiblogger, über jeweils genau so viel Stimmrecht verfügten wie alle anrufenden Zuschauer:innen zusammen. Und weil sie in einer konzertierten Aktion die evangelikale, durch ihr Engagement gegen die Homo-Ehe negativ aufgefallene, haushohe Publikumssiegerin Laura Bretan wegdrückten. Beim NDR hingegen hat das ebenfalls eingesetzte Gremium eher Alibicharakter: mit nur 33% Stimmkraft verfügt es nicht über genügend Power, die üblichen Fehlentscheidungen der deutschen Televoter:innen wirksam korrigieren zu können. Regionalen heimischen Jurys hingegen verdanken wir den verträumt-verzauberten Gewinnertitel des ESC 2017. Wäre es nach dem Votum der Portugies:innen gegangen, hätten wir nämlich Salvador Sobral nie kennengelernt – und das iberische Land seinen bislang einzigen ESC-Sieg verpasst.
Selten rührte mich etwas so tief wie Salvadors Auftritt im ersten Semi des FdC. Hier gilt den Jurys mein aufrichtiger Dank, dass sie ihn gegen der Zuschauerwillen nach Kiew schickten.
Die Bevormundung der Zuschauer:innen kann also ihre Berechtigung haben, wenn sie auf die nationale Ebene beschränkt bleibt. Denn so wie bekanntlich der Prophet im eigenen Land nichts gilt, so geht dem gewöhnlichen TV-Konsumenten oftmals jedwedes Gespür dafür ab, was auf internationaler Bühne Erfolg versprechen könnte. Denn genau das können oder wollen die Zuschauer:innen nicht verstehen: es geht im nationalen Vorentscheid nicht darum, was zu Hause ankommt, sondern was beim ESC zündet. Eine Mehrheitsentscheidung läuft zudem meist auf Mittelmaß hinaus: beim härtesten Musikwettbewerb der Welt ein sicheres Rezept für die hinteren Ränge, wie gerade wir Deutschen aus leidvoller Erfahrung wissen. “Kantige” (Thomas Schreiber) Beiträge oder kontroverse Künstler:innen haben es im Vorentscheid meist schwer, weswegen viele Sender zunehmend zur internen Auswahl übergehen. Ohne eine solche hätte es beispielsweise Conchita Wurst nicht zum ESC geschafft: im öffentlichen Vorentscheid zog die Österreicherin den Kürzeren. Aber auch in Deutschland blieben kommerziell teils weit über die Landesgrenzen hinaus erfolgreiche Acts wie Scooter oder Unheilig chancenlos.
Unterlag arschknapp den Trackshittaz: Conchita Wurst bei ‘Österreich rockt den Song Contest’. Im Nachhinein eine gute Entscheidung, denn nur so konnte sie zwei Jahre später wie ein Phönix der Asche entsteigen.
Es bleibt als Fazit: bei nationalen Vorauswahlen macht eine (internationale!) Jury Sinn. Beim Eurovision Song Contest selbst muss sie weg. Und falls Ihnen nach diesem länglichen Rant die Lust am Lesen noch nicht vergangen ist: in Teil 3 der Serie geht es um das Auszählungsverfahren und wie man es justieren könnte.
Stand: 26.10.2019