In den Anfangsjahren des Grand Prix war sie noch eine selbstverständliche, stille Übereinkunft, ein ungeschriebenes Gesetz; und erst, nachdem im Laufe der Zeit immer mehr Länder sie übertraten, zurrte man sie schriftlich fest: die bis einschließlich 1998 geltende Regelung, nach welcher jede am Eurovision Song Contest teilnehmende Nation in einer ihrer amtlichen Landessprachen antreten musste. Doch just als die EBU auf drängenden Wunsch der skandinavischen Sender Mitte der Siebziger die als Wettbewerbshindernis empfundene Verpflichtung kurzzeitig aussetzte, führte das schwedische Quartett Abba das auf englisch gesungene ‘Waterloo’ zum Sieg: ein europaweiter Nummer-Eins-Hit, der zudem ihre knapp zehnjährige Weltkarriere und ihren unanfechtbaren Status als beste Popband aller Zeiten fundierte. Und den noch heute auch diejenigen Menschen mit dem Grand Prix in Verbindung bringen, die sich ansonst nicht die Bohne für die Show interessieren. Ein fabelhafter Reputationszuwachs also für den ESC, der ihm vorübergehend einen Status als Königsmacher des Pop bescherte.
In Schwedisch wär’s mit der Weltkarriere wohl nix geworden: Abba (SE 1974).
Jeder vernünftig denkende Mensch müsste also wie selbstverständlich davon ausgehen, dass man gerade nach diesem mehr als überzeugenden Erfolg die Sprachfreiheit beibehalten hätte. Doch beharrliche Faktenresistenz und frappierende, eigenschädigende Irrationalität sind keine exklusiven Phänomene der Jetztzeit: gerade auch auf hartnäckiges Beharren des damaligen deutschen Grand-Prix-Verantwortlichen Hans-Otto Grünefeldt vom Hessischen Rundfunk hin kehrten die hirnvernagelten Verantwortlichen der EBU bereits 1977 zur sprachlichen Nationaltümelei zurück und sorgten so für die musikalische Abspaltung des Wettbewerbs vom realen Popmarkt, was den Grand Prix für gute zwei Jahrzehnte tiefer und tiefer in die kulturelle Bedeutungslosigkeit und in logischer Folge zum massiven Wegbrechen der Zuschauer*innenschaft führte. Aus welcher er sich bezeichnenderweise erst nach dem erneuten Wegfall der Sprachenregel im Jahre 1999, ironischerweise ebenfalls auf Betreiben des seinerzeitigen deutschen Delegationsleiters, wieder ein wenig befreien konnte (dazu später mehr).
Um Längen schöner als ‘Waterloo’, aber in dieser Sprache keinesfalls international konkurrenzfähig: Abba mit ‘Ring Ring’, ihrem Beitrag zum Melodifestivalen 1973.
Sprachpurist*innen und Nostalgiker*innen beklagen gerne die durch die Streichung der Sprachregel ausgelöste Anglifizierung des Wettbewerbs, die fraglos einen herben kulturellen Verlust darstellt. Denn es hatte unbestritten seinen Reiz, wenigstens einmal im Jahr mit der ungeheuren kulturellen Vielfalt unseres Kontinents Bekanntschaft zu schließen, die sich eben auch in der Vielzahl unterschiedlicher, teils pittoresk klingender Sprachen manifestiert. Doch darf man hierüber nicht aus dem Blick verlieren, dass der viel entscheidendere Schlüsselfaktor für den Publikumserfolg des Eurovision Song Contest in seiner (wenngleich völlig absurden) Funktion als Wettbewerb liegt. Einen reinen paneuropäischen Liederabend ohne Punktevergabe und Sieger*in würden allenfalls eine Handvoll Enthusiast*innen verfolgen, niemals jedoch die Abermillionen, die über die Jahrzehnte zuschalteten, wenn es hieß: “Can I have your Votes, please?”. Ein Wettbewerb aber setzt, soll er einigermaßen fair ablaufen, eine gewisse Chancengleichheit voraus.
Seit jeher hatte Finnland unter sprachignoranten Juroren zu leiden. So auch 2010.
Denn will man bei diesem Wettsingen der Völker gut abschneiden, Staaten wie Finnland, Dänemark oder Portugal wissen ein Klagelied davon zu singen, hilft eine über die Landesgrenzen hinweg verständliche Sprache zumeist. Nicht ohne Grund wurde von den über 60 Grand-Prix-Siegerliedern fast jedes zweite auf englisch gesungen. Gerade die doch angeblich so sehr auf kulturelle Diversität achtenden Jurys beförderten diese Verengung nach Leibeskräften, als sie in den frühen Neunzigern Jahr um Jahr die Beiträge Irlands und Großbritanniens routiniert auf die ersten Ränge setzten, völlig unabhängig von jeglicher musikalischen Relevanz oder Qualität der Titel. Vor allem in den Anfangsjahren des Grand Prix bevorzugten die damaligen Juror*innen hingegen mit ebensolcher Einseitigkeit Frankophiles. Was zur Folge hatte, dass sprachlich benachteiligte Länder wie Deutschland oder Österreich gerne mal französische Text-Einsprengsel in ihre Lieder streuten, was dann beispielsweise im Falle von Udo Jürgens’ ‘Merci, Chérie’ zum Erfolg führte. Mittlerweile hingegen mischen die Gallier selbst immer mehr englisch in ihre Chansons, um beim Grand Prix überhaupt noch gehört zu werden.
Küsschen, Küsschen: Udos frankophile Finte sorgte 1966 für den Sieg (AT).
Das erstmals 1971 zum Contest gestoßene einstige britische Protektorat Malta schwenkte nach zwei spektakulär erfolglosen Auftaktversuchen mit dem aggressiv-arabisch klingenden Maltesisch und einer mehr als eine Dekade währenden Schmollphase bei seiner Rückkehr 1991 konsequent auf die zweite Amtssprache Englisch um, mit deutlich besseren Ergebnissen. Und die linguistisch dreigeteilte Schweiz erzielte ihre beiden Siege sowie fast alle der spärlichen Medaillenplätze ausschließlich auf französisch. Sprachlich weniger privilegierte Staaten verführte die starre Regelung zu kreativen Umgehungsversuchen wie z.B. dem (erlaubten) Zitieren englischer Redewendungen im Refrain. Krassester und erfolgreichster Fall: ‘Rock me’ (YU 1989) verband einige als Feigenblatt verwendete, äußerst spärliche kroatische Textbrocken mit gefühlt sechshundert Wiederholungen der englischen Titelzeile. Noch eine Nummer härter: die berüchtigten Lautmalereien wie ‘Tom Tom Tom’, ‘Tipi tii’, ‘Pump pump’, ‘La la la’, ‘Ring dinge ding’, ‘Ding a Dong’, ‘Boom Bang a Bang’ oder gar ‘Diggy loo, diggy ley’; einerseits eine Art von Notwehr gegen den Muttersprachenzwang, andererseits ein kultureller Kapitulationsakt.
Wird in jeder Sprache verstanden: La, la, la (ES 1968).
Erst die potenziell finanziell ruinöse Drohung des dauerhaften deutschen ESC-Ausstiegs seitens des NDR-Unterhaltungschefs Jürgen Meier-Beer beseitigte 1999 – nach hinhaltendem Widerstand “eines Häufleins älterer Herren” aus kleineren Nationen – die völlig antiquierte Regelung, die nicht nur die Siegeschancen nicht-anglophoner Länder stark einschränkte, sondern auch die internationale Vermarktbarkeit der Wettbewerbsbeiträge, was wiederum Gift für das Interesse der Plattenfirmen am Eurovision Song Contest war. Und ohne diese Firmen keine starken Beiträge, so die Rechnung des damaligen deutschen Delegationsleiters. Auch aus den nordischen Ländern hörte man, dass man dort ohne die Möglichkeit, auf englisch zu singen, keine Vorentscheidung mehr zustande bekäme. Wie Recht Meier-Beer hatte, zeigte sich, als in früheren Ferner-liefen-Ländern wie Dänemark, Griechenland oder der Türkei die Musikindustrie mit in die Vorauswahlen einstieg, dort englischsprachige Titel wie ‘Fly on the Wings of Love’, ‘Everyway that I can’ und ‘My Number One’ einreichte und nach deren ESC-Sieg europaweit erfolgreich vermarktete. Grand-Prix-Lieder in den internationalen Verkaufs-Hitparaden, das hatte es in den fünfzehn Jahren zuvor nicht mehr gegeben.
Ein Hit auch in Deutschland: die Olsen-Bande (DK 2000).
Erwartungsgemäß schlug das Pendel nach dem Wegfall des Zwangs zur Landessprache zunächst in die entgegengesetzte Richtung aus, was zur verständlichen Klage führte, dass die einstmals linguistisch so wunderbar vielfältige Show nun in einem englischen Einheitsbrei versinke. Doch nach einer wohl unvermeidlichen Übergangsphase ebbte die tatsächlich übermäßige Anglisierung der Ära rund um die Jahrtausendwende wieder etwas ab. Die Siege der herzergreifenden muttersprachlichen Balladen ‘Molitva’ (RS 2007) und ‘Amor pelos Dois’ (PT 2017) bewiesen, dass es nicht immer Englisch sein muss, um verstanden zu werden, und eine zunehmende Zahl von Teilnehmerländern experimentiert zumindest gelegentlich wieder mit ihrem Heimatidiom. Oder mit buntem linguistischem Mischmasch (Beispiel: das elfsprachige ‘Love Unlimited’, BG 2012), was ich persönlich im Sinne der multikulturellen Vielfalt besonders schön finde. Denn meines Erachtens trägt die Gesangssprache genau so viel zum klanglichen Gesamtpaket eines Liedes bei wie die Instrumentierung. Sie sollte daher in erster Linie zum Song passen.
Verzauberte einen ganzen Kontinent: der portugiesische Hipsterschlumpf Salvador Sobral beherrschte die Sprache des Herzens.
Dramatische Balkanballaden beispielsweise klingen nur in einem der südslawischen Dialekte authentisch und damit richtig ergreifend (merke: ohne “Ruzmarin” keine Rührung!). Die beim Contest vonseiten der Autoren noch immer gerne eingereichten blauäugigen Weltfriedenshymnen, im echten Leben eine mausetote Musikgattung, sind allenfalls sechssprachig noch akzeptabel. Tanzbare Uptemponummern aber kommen in aller Regel auf englisch am besten (vgl. ‘Euphoria’). Was die teure Heimat angeht, so würde ich mich aufrichtig freuen, wenn wir beim Eurovision Song Contest zur Abwechslung mal wieder einen deutsch gesungenen Beitrag entböten, einen guten natürlich. Der NDR bietet uns beim Vorentscheid zumindest hin und wieder einen solchen zur Auswahl an, das ist löblich. Aber es muss halt passen: ‘Satellite’, unser letzter Siegersong, hätte in Landessprache überhaupt nicht funktioniert. Für ‘Wer Liebe lebt’ hingegen war deutsch der goldene Griff: bis heute bin ich überzeugt, dass wir 2001 noch besser abgeschnitten hätten, wenn Michelle nicht im letzten Refrain “to live for Love / means you never diiiiiiiiieeeeee” getrötet hätte.
Selbes Konzept wie Massiel (ES 1968), aber auf deutsch: die Betty (Vorentscheid 2013).
Vorbildlich die Herangehensweise der norddeutschen Band Santiano beim Vorentscheid Unser Song für Dänemark im Jahre 2014: mit ihren beiden Beiträgen ‘Fiddler on the Deck’ und ‘Wir werden niemals untergehen’ illustrierten sie auf unverkrampft-überzeugende Weise, dass es für jedes Lied die jeweils stimmige Sprache gibt. Fungiert diese im Rahmen des vielschichtigen audiovisuellen Gesamtkonzepts eines Grand-Prix-Beitrags aus Stimme, Song und Show doch schlichtweg als ein fraglos essentieller, in der Gesamtheit gleichberechtigter Faktor unter etlichen anderen genau so wichtigen; eben als Teil der Instrumentierung, mit dem es geschickt zu spielen gilt, will man die Menschen in ganz Europa erreichen und nicht nur eigene nationale Befindlichkeiten bedienen. Denn es sind ja die Menschen außerhalb Deutschlands, die für unseren Beitrag anrufen müssen. Und so plädiere ich letzten Endes für einen entspannten, ideologiefreien Umgang mit der Sprache und möchte die heutige, kreative Wahlfreiheit nicht mehr missen. Daher: danke, Herr Meier-Beer, für ihr damaliges “deutsches Großmachtsgehabe”!
Ein perfektes Song-Show-Star-Paket: Laing beim Vorentscheid 2015. Auf deutsch. Davon gerne mehr!
Stand: 03.10.2019
Ich kann dem Geschriebenen nur zu 100% recht geben.
Ich persönlich finde es toll, wenn Länder sich dazu entschließen, in Landessprache zu singen. Aber aufzwingen sollte man es niemanden, da nicht jedes Land die selbe Anzahl an Landessprachen hat. Die Schweiz könnte sich an vier Sprachen bedienen, während man hier in Deutschland nur Deutsch zur Verfügung hätte. Gut, wenn Frankreich schon auf Bretonisch und Korsisch singen darf (keine Landes‑, nur Regionalsprachen), warum wir dann nicht auf Friesisch oder Sorbisch? Das wäre doch ein Kompromiss!
Haben Sie vor, ihr ESC-Lexikon noch um einen Artikel zum Orchester zu erweitern? Neben der Sprachenregel wollen viele Fans das zurück (so wie ich das in Fanforen und in YouTube-Kommentaren lese).
Vielen Dank im Voraus für die Antwort.
Ich denke, eher nicht. Ich komme in letzter Zeit kaum mit den aktuellen Sachen hinterher, und ich bin persönlich auch kein Freund des Orchesters. Ich weiß, das viele Fans und auch Sänger:innen das zurück ersehnen, und wie ich bei der unESCon in Hannover im letzten Jahr erleben durfte, kann so ein Orchester auch wirklich seinen Reiz haben. Aber es kann auch Songs ruinieren, dafür gibt es beim ESC etliche Beispiele. Vielleicht mach ich da ja mal irgendwann was drüber. 🙂