Logistisch muss der Eurovision Song Contest für jeden ausrichtenden Sender ein Alptraum sein. Das bezieht sich nicht nur auf die rund um die Sendung zu organisierenden Dinge wie die Unterbringung der Delegationen, die Probenzeiten, den Vorverkauf und die tausenden technischen Anforderungen. Eine der Herausforderungen liegt darin, dass pro Sendung bis zu 27 Acts in kurzer Folge die Bühne entern und nach → drei Minuten wieder verlassen, während der nächste Künstler bereits parat steht. In den unvermeidlichen Umbaupausen zwischen den Auftritten gilt es, teils extrem aufwändige Bühnenaufbauten (in dieser Kategorie führend: die Ukraine) zu installieren und wieder abzubauen, Windmaschinen neu zu justieren, liegengebliebene Trickkleidteile zu entfernen und heruntergeregnetes Konfetti aufzufegen, auf dass nicht eine wild wirbelnde Tänzerin darauf ausrutscht und sich ein Bein bricht. Selbst die geschicktesten Roadies benötigen hierfür eine halbe bis volle Minute, die es zu überbrücken gilt, ohne dass der Spannungsbogen leidet. Das probate Mittel hierfür nennt sich “Postkarte” und bezeichnet einen Einspieler, der visuell auf das nächste Land und den nächsten Act einstimmt, während die Kommentator/innen der einzelnen Rundfunkstationen die Zuschauer/innen mit ergänzenden Informationen oder launigen Kommentaren unterhalten.
Immer hart an der Grenze zwischen unterhaltsamer Boshaftigkeit und schlichter Xenophobie: die britische Kommentatorenlegende Terry Wogan schafft es nie, mit seinen Anmerkungen bis zum Ende der Postkarte fertig zu werden.
Dabei handelt es sich bei den erstmals beim Wettbewerb von 1970 eingeführten Postkarten – bis dahin sagte die Moderatorin des gastgebenden Senders in aller Regel zwischen den Beiträgen jeden einzelnen Titel persönlich an – um eine Erfindung aus der schieren Not heraus. Denn seinerzeit starteten im Kongresszentrum von Amsterdam lediglich 12 Nationen, so wenige wie seit 1959 nicht mehr: aus Protest gegen die Wertungsfarce von 1969 mit vier punktgleichen Siegerinnen hatten alle skandinavischen Länder sowie Portugal abgesagt. Um die zu füllende Sendezeit auf ein halbwegs akzeptables Maß für eine Samstagabendshow zu strecken und weil die Holländer generell keine Freunde der Zwischenmoderation sind, kam der ausrichtende Sender NOS auf die grandiose Idee, die Künstler/innen bei einem kleinen Stadtbummel in ihren Herkunfts-Metropolen mit der Kamera zu begleiten und diese Aufnahmen mit vagem, ziellos mäanderndem Geklimper orchestral zu untermalen. Gegenüber der deutschen Teilnehmerin Katja Ebstein ließ man Milde walten: da es in Berlin gerade schneite, als man drehte, durfte sie nach frostigen Außenaufnahmen im Tiergarten zum Aufwärmen rasch in ein geheiztes Gasthaus einkehren.
Lago Maggiore im Schnee: die Katja stapft durchs winterweiße Berlin.
Und obgleich bereits im Folgejahr alle Protestierenden zum Wettbewerb zurückkehrten, hielt sich die Neuerung, wenngleich weniger aufwändig in Szene gesetzt: mit einigen wenigen Ausnahmen überbrückte man in den Siebzigern und Achtzigern die (zu dieser Zeit aufgrund der weniger elaborierten Bühnenshows deutlich kürzeren) Umbaupausen mit bunten Tourismuswerbefilmchen, in denen Bilder der bekanntesten Sehenswürdigkeiten wie z.B. dem Eiffelturm oder dem Big Ben auf das nächste Land hinwiesen. Manche gastgebenden Nationen nutzten die Gelegenheit stattdessen zur schamlosen Eigenreklame und zwangen die angereisten Sänger/innen, während der knapp bemessenen Probenwoche nebenher noch in lieblicher Alpenkulisse (Schweiz 1989) oder auf sattgrünen Schafweiden (Irland 1993) herumzustolpern, um die Postkarten für den Contest zu filmen. Besondere Kreativität bewies das israelische Fernsehen, das 1979 und auf ähnliche Weise noch einmal 1999 bekannte Sagen der jeweiligen Teilnehmernationen in einem Mix aus Zeichentrick und Laienspieltheater auf die Schippe nahm beziehungsweise lustige Szenen vor historischer Kulisse nachstellen ließ. Auch die vom selben Sender produzierten Tanzpostkarten von 2019 gehören mit zum Besten, was der ESC jemals hervorbrachte.
Schwarzer Tino / deine Lina / tanzt im Hafen / mit den Boys / Nur die Wellen / flüstern leise / was von Tino / jeder weiß: Mahmood (IT 2019) tanzt lieber selbst mit den Hafenjungen.
Andere Zeichentrickexperimente gingen indes auf horrible Art und Weise schief, wie beispielsweise das von den Jugoslawen 1990 ins Rennen geschickte Maskottchen Eurocat, das weniger an eine (räudige) Katze erinnerte als vielmehr an das offenbar in die Drogenabhängigkeit abgerutschte Kind des rosaroten Panthers mit der blauen Elise. Auch die schwedische Singdrossel von 1992 nervte. Gleichermaßen schamlos egozentrisch wie originell hingegen die Idee der RAI, die 1991 in Rom antretenden Partizipant/innen für die Postkarte einen bekannten italienischen Schlager eigener Wahl ansingen zu lassen, womit das Schicksal etlicher von ihnen bereits besiegelt war, noch bevor sie ihr eigenes Lied zum Besten geben konnten. 1996, als der Wettbewerb dank der hartnäckigen Fehlentscheidungen der → Jurys den absoluten Tiefpunkt seiner Popularität erreicht hatte, versuchte das norwegische Fernsehen gegenzusteuern und dem Contest wieder etwas mehr Bedeutung und Glanz zu verleihen, in dem er die Postkarten mit dem Glückwunsch eines mehr oder minder hohen politischen oder kulturellen Würdenträgers des jeweiligen Landes abschloss. Woran man sehr schön den unterschiedlichen gesellschaftlichen Stellenwert der Veranstaltung in den verschiedenen Teilen Europas ablesen konnte.
Hut ab für die Hybris von Bebi Dol (YU 1991), den Eurovisionsklassiker ‘Non ho l’eta’ zu schänden, zumal Gigliola Conquetti moderierte!
So drückte als Beleg der Wertschätzung der seinerzeitige türkische Staatspräsident (!) Demirel seiner Vertreterin Şebnem Paker öffentlich die Daumen, während sich die Fan-Favoritin Gina G. mit der britischen Staatssekretärin für den Denkmalschutz begnügen musste. Autsch! Im neuen Jahrtausend gerieten die Postkarten immer elaborierter: das schwedische Fernsehen SVT verhob sich im Jahre 2000 daran, einen kulturellen Bezug zwischen Stockholm und dem jeweils vorgestellten Teilnehmerland an den Haaren herbeizuziehen, um die eigene Weltoffenheit zu betonen. So warf beispielsweise jemand in der futuristisch gestalteten Zentralbibliothek der schwedischen Metropole das Buch eines israelischen Autoren durch den Raum, um die Gruppe Ping Pong anzukündigen. Kann man machen, muss man aber nicht. 2002, als der Wettbewerb erstmalig jenseits des früheren Eisernen Vorhangs stattfand, im estnischen Tallin nämlich, rief der dortige Sender ETV das *hüstel* originelle Motto “Märchen” aus und zeigte mehr oder minder lustige Dreißigsekünder, die sowohl eine inhaltliche Verbindung zur Balten-Metropole (wie zum Beispiel “In den Clubs von Tallin kann alles passieren”) als auch zu einer Sage herstellen sollten. Nicht ohne Risiko: die Briten reagierten angeblich not amused, als man ihnen das Märchen vom Hässlichen Entlein zuteilte…
Herrlich verschroben: die Postkarten vom ESC 2007 im wunderbaren Helsinki.
Noch weiter weg vom Konzept des Anteaserns der Teilnehmerländer entfernten sich 2007 die Finnen, welche ihre Postkarten dazu nutzen, hochgradig amüsante bis interessante Kurzgeschichten über die skurrilen Eigenheiten der Einwohner/innen der Gastgebernation zu erzählen und sich mit dieser erfrischenden Selbstironie für immer den Platz als coolstes Volk Europas in meinem Herzen zu sichern. “Echte” Postkarten in die Teilnehmerländer schrieb hingegen das serbische Fernsehen 2008, während im Hintergrund Künstler, Sportlerinnen oder andere Promis der jeweiligen Nation die Landesflagge nachstellten und sich dazu gelegentlich mit Farbe übergießen ließen. Eine Idee, die das schwedische Fernsehen 2014 aufgriff. Hier mussten die Sänger/innen in einer Art Kreativworkshop die eigene Fahne nachbasteln: Elaiza buken schwarz-rot-goldene Bonbons, Sanna Nielsen stellte in echter Geduldsarbeit mit gelben Luftmatratzen in einem mit blauen Fliesen gekachelten Schwimmbecken das Schwedenkreuz nach. Deutlich mehr Aufwand also als noch 1975, als die Teilnehmer/innen lediglich ein Wasserfarbenbild von sich selbst pinselten und dabei bewiesen, dass Talent in einem einzelnen musischen Fach wie dem Singen nicht bedeutet, dass man es in allen haben muss.
Mal eine hübsche Abwandlung von “Tanze Deinen Namen”: “Bastele Deine Flagge”.
Harte Arbeit erwartete auch die Interpret/innen des “Building Bridges”-Wettbewerbs zu Wien: der spendierfreudige ORF schickte ihnen zwar zunächst Pakete mit einem kleinen Präsent nach Hause, dafür aber mussten sie, in Österreich angekommen, an allerlei abstrusen alpenländischen Freizeitaktivitäten partizipieren, erkennbar nicht immer zur eigenen Begeisterung. Für einen unrühmlichen Rückfall sorgte das 2012 gastgebende Aserbaidschan, wo man gegen den Rat der EBU für hochglanzpolierte, vollkommen ironiefreie Tourismus-Werbefilme aus dem “Land des Feuers” optierte. Was in den Achtzigern noch funktionierte, stieß dank des nunmehr deutlich ausgeweiteten Teilnehmerfelds schnell an seine Grenzen: bei über 40 zu bebildernden Umbaupausen gehen irgendwann selbst dem Findigsten die Motive aus. Und spätestens beim dritten Herzeigen der futuristischen Flammentürme von Baku stöhnte selbst der gutwilligste Zuschauer genervt auf. Pikant: den eigenen Finalauftritt bebilderte ITV mit majestätischen Aufnahmen von Karabagh-Pferden. Ein mehr als deutlicher politischer Seitenhieb auf die zwischen Aserbaidschan und Armenien umstrittene Region Berg-Karabach, die beide Nationen als zu sich gehörig betrachten.
https://youtu.be/Fvni6iHSagk
Zählen Sie zum Spaß doch mal mit, wie oft die charakteristische Bürohochhausgruppe zu Baku in den Werbefilmchen auftaucht.
Deutlich friedvoller präsentierte sich Deutschland in seiner auf absehbare Zeit letzten Gastgeberrolle 2011 in Düsseldorf: mit der im Bewegtbildbereich seinerzeit brandneuen Shift-und-Tilt-Technik nahm die ARD verschiedene touristische Destinationen in Spielzeugeisenbahn-Optik auf, was fantastisch aussah und wohl auch die Aufgabe erfüllen sollte, das aufgrund seiner finanziellen Vormachtstellung in Europa verständlicherweise wenig beliebte Land etwas niedlicher und damit sympathischer erscheinen zu lassen. Was man dadurch unterstrich, dass man zusätzlich hierzulande lebende und / oder arbeitende Menschen mit Migrationshintergrund aus dem jeweiligen Starterland in die Clips einband, die das eher dämliche Contestmotto “Feel your Heart beat” in ihrer Heimatsprache ansagten. Womit wir uns als das präsentierten, was wir entgegen aller ideologischen Scheuklappen bei den Rechten tatsächlich sind: ein internationales, weltoffenes Einwanderungsland nämlich. So geht wahrer Patriotismus! Wer immer die Idee zu diesen Postkarten hatte, meiner Meinung nach die besten in der Contestgeschichte: aus tiefstem Herzen Dank dafür!
Danke, Märklin: meine Heimat als multikulturelles Spielzeugland. Ich ♥ es.
Stand: 29.05.2019