ESC-Fina­le 1975: Nicht jeder kommt ans Ziel

Logo des Eurovision Song Contest 1975
Das Jahr des dösen­den Orchesters

Nach jah­re­lan­gen Dis­kus­sio­nen und etli­chen Fehl­ver­su­chen setz­te die EBU 1975, bei sei­ner zwan­zigs­ten Aus­ga­be, ein kom­plett neu­es Wer­tungs­ver­fah­ren für den belieb­tes­ten Musik­wett­be­werb der Welt in Kraft. Ein so erfolg­rei­ches, dass es sich bis heu­te hält: dass näm­lich aus jedem Land die zehn belieb­tes­ten Titel in auf­stei­gen­der Rei­hen­fol­ge Punk­te erhal­ten; die bei­den Lieb­lings­lie­der sogar noch einen Bonus, um einen mög­lichst ein­deu­ti­gen Sie­ger zu ermit­teln. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 10, 12, so lau­tet seit­her die magi­sche For­mel. Die sprich­wört­li­chen “Dou­ze Points” fan­den seit­her auch jen­seits des Grand Prix Ein­gang in den Sprach­ge­brauch. Für Deutsch­land, das ent­schei­den­den Ein­fluss auf die Initi­ie­rung die­ses neu­en Stan­dards nahm, führ­te er bei sei­ner Pre­miè­re zu einem höchst ver­drieß­li­chen Ergebnis.

12 Points für das neue Wer­tungs­ver­fah­ren beim ESC 1975

Mit ‘Ein Lied kann eine Brü­cke sein’ schenk­ten wir Euro­pa das unan­fecht­bar schöns­te Lied der gesam­ten Con­test­ge­schich­te. Eines, das wie kein zwei­tes den heh­ren Grund­ge­dan­ken der Ver­an­stal­tung beschreibt, näm­lich die Her­bei­füh­rung und Fes­ti­gung von Einig­keit und Fried­fer­tig­keit durch die ver­bin­den­de Kraft der edlen Küns­te. Mit pope­li­gen 15 von 204 maxi­mal mög­li­chen Punk­ten wie­sen die Juro­ren die­ses Prä­sent jedoch schroff zurück. Eine Wun­de, die bis heu­te tief sitzt und hef­tig schmerzt. Doch um der Wahr­heit die Ehre zu geben: wir waren selbst schuld. Mit dem fabel­haf­ten Auf­tritt der groß­ar­ti­gen Joy Fle­ming beim deut­schen Vor­ent­scheid hat­te die beim inter­na­tio­na­len Wett­be­werb prä­sen­tier­te Dar­bie­tung nicht das Gerings­te zu tun. Gera­de­zu mus­ter­gül­tig lässt sich an die­sem Bei­spiel stu­die­ren, wie man sich selbst ein Bein stellt und eine Pre­zio­se von Song wir­kungs­voll zer­mör­sert. Denn ver­lo­ren waren wir schon, als in Stock­holm – wo die stu­den­ten­be­weg­te Lin­ke ernst­haft Demons­tra­tio­nen gegen das kom­mer­zi­el­le Tal­mi-Tra­la­la orga­ni­sier­te, weil näm­lich auch die schein­ba­re Harm­lo­sig­keit des Schla­ger in Wirk­lich­keit höchst poli­tisch ist – der Kom­po­nist des Jahr­hun­dert­songs, Rai­ner Pietsch, vor das Diri­gen­ten­pult trat.

Läs­sig, spie­le­risch, kom­pe­tent: Joys Auf­tritt beim Vor­ent­scheid in Frank­furt am Main war ein Fest für die Sin­ne (DE). 

In dem so ver­zwei­fel­ten wie wir­kungs­lo­sen Ver­such, dem ver­greis­ten, auf getra­ge­ne Hoch­kul­tur abon­nier­ten SVT-Orches­ter eben jenen essen­zi­el­len Soul zu ent­lo­cken, der dem Song in der Stu­dio­fas­sung inne­wohnt, stampf­te er ein­lei­tend mehr­fach laut mit dem Fuß auf, auf die­se Wei­se den erhoff­ten Rhyth­mus der Insze­nie­rung vor­ge­bend. Die Musi­ker grins­ten ver­ächt­lich – und pro­du­zier­ten den­sel­ben brä­si­gen Sound­quark wie bei allen ande­ren Teilnehmer:innen auch. Im Gegen­zug ver­lieh die schwe­di­sche Pres­se der armen Joy den wenig schmei­chel­haf­ten Kose­na­men “stamp­fen­de Brun­hil­de”, was sich auch auf ihr Büh­nen­out­fit bezog. Gegen ihren Wil­len press­ten sie die ARD-Ver­ant­wort­li­chen in ein schreck­li­ches, kotz­grü­nes, wurst­pel­len­ar­tig anlie­gen­des Kleid und behäng­ten sie pfund­wei­se mit bau­meln­den Sil­ber­ket­ten. Natür­lich beweg­te sich die stimm­lich wie figür­lich schwer­ge­wich­ti­ge Erna Stru­be auch dar­in in wil­den rhyth­mi­schen Zuckun­gen, was aus­sah, “als ob zwei Wild­schwei­ne unter der Bett­de­cke mit­ein­an­der kun­geln”, um aus einem mei­ner Lieb­lings­fil­me, Magno­li­en aus Stahl, zu zitie­ren. Erschos­sen gehör­ten außer­dem die Stylist:innen: mit eng anlie­gen­den “Schneg­ge­log­ge” (Joy) und anschei­nend mit dem Stück Stein­koh­le auf­ge­tra­ge­nem Augen-Make-up sah sie aus wie die Urgroß­mutter der Addams Fami­ly.

Drei Tage wach, jetzt wirst du lang­sam schwach: die lei­der etwas über­per­for­ma­ti­ve Joy Fle­ming mit den Augen­rin­gen des Todes und im Hor­ror­kleid in Stockholm.

Die schlimms­te Sün­de jedoch ver­üb­te Joy Fle­ming selbst, als sie den Schluss­vers ihres Bei­trags auf Eng­lisch sang, was auf­ge­setzt und ange­strengt wirk­te. Wir und ande­re Län­der bege­hen die­sen Kar­di­nal­feh­ler beim Grand Prix immer wie­der aufs Neue, obwohl er nach­weis­lich noch nie zum Erfolg führ­te. Er ist dem Ziel­kon­flikt geschul­det, den Bei­trag einer­seits in der Lan­des­spra­che zu prä­sen­tie­ren, um sei­ne Authen­ti­zi­tät zu erhö­hen, ande­rer­seits auch den­je­ni­gen Zuschauer:innen (bzw. Juror:innen) ent­ge­gen zu kom­men, die des Deut­schen (Däni­schen, Hebräi­schen, Kroa­ti­schen, etc…) nicht mäch­tig sind. Und wie bei jedem Kom­pro­miss ver­liert man damit auf bei­den Ebe­nen. Bekannt­lich ent­schei­den bereits die ers­ten zehn bis fünf­zehn Sekun­den eines Auf­tritts über des­sen Erfolg oder Miss­erfolg: wer die Ohren auf Durch­zug stellt, weil er oder sie die Spra­che nicht auf Anhieb ver­steht, hört auch beim letz­ten Refrain nicht mehr hin. Dafür jedoch raubt ein (auf­ge­setz­ter) Sprach­wech­sel mit­ten im Lied der Prä­sen­ta­ti­on jeg­li­chen lan­des­ty­pi­schen Charme, zer­stört den natür­li­chen Fluss und stiehlt dem Song die See­le. Kom­pro­mis­se mögen in der Poli­tik gele­gent­lich erfor­der­lich sein: in der Kunst kön­nen sie aus­schließ­lich Scha­den anrichten.

Auch wenn Dein Liebs­ter ging, sing Dong Dong Ding: Teach-in (NL).

Im Jahr Eins nach der schwe­di­schen Pop-Vier­fal­tig­keit sieg­te ein schwa­cher Abba-Auf­guss aus den Nie­der­lan­den. Die vier bär­ti­gen Musi­kan­ten von Teach-In und ihre aus Öster­reich stam­men­de Front­frau Get­ty Kas­pers tru­gen eine den ‘Water­loo’-Epi­go­nen nach­emp­fun­de­ne (wenn auch weni­ger spek­ta­ku­lä­re) Büh­nen­gar­de­ro­be und stimm­ten eine schwung­vol­le, opti­mis­ti­sche Pop­num­mer mit dem gehalt­vol­len Titel ‘Ding A Dong’ an, deren Aus­sa­ge in der Quint­essenz gip­fel­te: “Even when your Lover has gone, sing Ding Ding Dong”! Damit gelang ihnen, wie im rest­li­chen Euro­pa, auch in Deutsch­land ein Top-Ten-Hit, anders als Frau Fle­ming (#36 DE). Mit dem letz­ten Ton ihres Songs (übri­gens weder ein Ding noch ein Dong, son­dern ein “Ping!”) zer­schlug ihr Drum­mer als visu­el­len Gim­mick eine unschul­di­ge Christ­baum­ku­gel: so blie­ben sie im Gedächt­nis der Juro­ren hän­gen. Zumal es den Hol­län­dern als Eröff­nungs­act des Abends zukam, nach der gefühlt drei­stün­di­gen, vali­um­um­flort-ver­stock­ten Eröff­nungs­mo­de­ra­ti­on durch die gast­ge­ben­de Nebel­krä­he Karin Falck das koma­tö­se Publi­kum wie­der auf­zu­we­cken. Frau Falck soll­te erst spä­ter bei der Stimm­aus­zäh­lung für einen unfrei­wil­lig unter­halt­sa­men Moment sor­gen, als sie, sich im Sprach­ge­wirr der Punk­te­ver­ga­be ver­hed­dernd, den EBU-Schieds­rich­ter ver­zwei­felt frug: “How much is Seven in French”?

Sahen aus wie eine mor­mo­ni­sche Sied­ler­fa­mi­lie: die fin­ni­schen Folk­bar­den (FI).

Womit wir bei schon bei Frank­reich sind. Deren Sän­ge­rin Nico­le Rieu ent­bot mit weit auf­ge­ris­se­nen, kreis­run­den Kuh­au­gen den süß­li­chen Gruß ‘Et Bon­jour à toi, l’Ar­tis­te’ – wohl wis­send, dass sich in den Län­der­ju­rys ger­ne ver­hin­der­te Künstler:innen ansam­meln, die sich von sol­cher­art selbst­re­fe­ren­ti­el­lem Murks natür­lich gebauch­pin­selt füh­len und nur zu ger­ne Punk­te dafür raus­hau­en. Die Spra­che des Abends aber war Eng­lisch. Nicht nur die sieg­rei­chen Nie­der­län­der bedien­ten sich ihrer, son­dern gleich sämt­li­che Skandinavier:innen. Die Nor­we­ge­rin Ellen Niko­lay­sen, die bereits 1973 als Teil der Ben­dik Sin­gers am ESC teil­nahm, blieb trotz eines Lied­chens über den Som­mer musi­ka­lisch aus­ge­spro­chen blass. Die Gastgeber:innen schick­ten einen opti­schen Howard-Car­penda­le-Ver­schnitt namens Lars Berg­ha­gen mit einem sehr unab­baes­ken, sehr durch­schnitt­li­chen Pop­schla­ger über eine ‘Jen­nie, Jen­nie’ – lei­der ohne den Zusatz ‘Dreams are ten a Pen­ny’. Die Fin­nen ent­sand­ten eine Grup­pe mit dem unaus­sprech­li­chen Namen Piha­soit­tajat und die sehr pos­sier­li­che Folk-Num­mer ‘Old Man Fidd­le’, zu der ein – den Song­ti­tel Lügen stra­fend blut­jun­ger – Gei­ger im Sti­le Alex­an­der Rybaks enga­giert fie­del­te. Völ­lig zu Recht erhiel­ten sie zwei Höchst­wer­tun­gen aus Deutsch­land und der Schweiz und lan­de­ten auf einem für fin­ni­sche Ver­hält­nis­se her­vor­ra­gen­den sieb­ten Rang. Wie sag­te schon Måns Zel­mer­löw so tref­fend: “Trust us, bring a Vio­lin”!

Die sin­gen­de Häkel­gar­di­ne: Rena­to (MT).

Auch die nach zwei Jah­ren Pau­se zum Wett­be­werb zurück­keh­ren­den Mal­te­ser erin­ner­ten sich – nach den letz­ten Plät­zen für ihre mal­te­ki­schen Folk­lo­re­stü­cke – ihrer zwei­ten Lan­des­spra­che Eng­lisch. ‘Sin­ging this Song’, ein the­ma­tisch eng mit dem Sie­ger­ti­tel die­ses Jah­res ver­wand­ter, fröh­li­cher Opti­mis­mus­schla­ger, lan­de­te im Mit­tel­feld. Dabei hat­te sich Rena­to Mical­lef extra noch unter Mühen einen avant­gar­dis­ti­schen, sil­ber­blau­en Pul­li mit vie­len lan­gen Fran­sen gehä­kelt, den er auf der Büh­ne stolz prä­sen­tier­te – natür­lich die Ärm­chen immer schön oben in der Luft! Die­se ver­rä­te­ri­sche Ges­te kos­te­te ihn wohl die Punk­te der homo­pho­ben Tei­le der Jurys. Die belei­dig­ten Insu­la­ner zogen sich dar­auf­hin für geschla­ge­ne 15 Jah­re (!) vom Euro­vi­si­on Song Con­test zurück. Als ähn­lich selbst­zer­stö­re­risch erwies sich die Show der bel­gi­schen Teil­neh­me­rin Ann Chris­ty, die einen arg ange­spann­ten Ein­druck mach­te. Zur sug­ges­ti­ven Text­zei­le “Could it be Hap­pi­ness / the Fee­ling I get from you” fal­te­te sie die Hän­de zu einem Scham­drei­eck und mar­kier­te damit auf ihrem Kör­per die Stel­le, an der sie das besun­ge­ne Glücks­ge­fühl emp­fin­den woll­te. Zu viel für die sit­ten­stren­gen Juro­ren, die den ursprüng­lich für eine Jeans­wer­bung geschrie­be­nen, sanf­ten Schla­ger, der eben­falls mit einem Sprach­wech­sel arbei­te­te, auf den elf­ten Platz ver­bann­ten. Trau­rig: die als Chris­tia­ne Lee­n­aerts gebo­re­ne Sän­ge­rin ver­starb 1984 im Alter von nur 38 Jah­ren an Gebär­mut­ter­hals­krebs. Womög­lich war es doch kei­ne “Hap­pi­ness”, die sie dort fühlte!

Bei 3:28 Min: Hier geht’s rein! Ann Chris­ty (BE).

Logi­scher­wei­se eben­falls auf Eng­lisch san­gen außer­dem die iri­schen Swar­briggs‘That’s what Friends are for’ hat­te mit dem gleich­na­mi­gen, wun­der­schö­nen Kitsch­stück von Dion­ne War­wick jedoch lei­der nur Titel und The­ma­tik gemein. Den­noch schrieb der Song Geschich­te: wie heut­zu­ta­ge bestand für alle teil­neh­men­den Län­der die Ver­pflich­tung, Vide­os ihrer Bei­trä­ge zu pro­du­zie­ren (ein Live­mit­schnitt von der Vor­ent­schei­dung tat es auch), wel­che die EBU sämt­li­chen Sen­dern für die soge­nann­ten Pre­views zur Ver­fü­gung stell­te: die Clips muss­ten (!) sei­ner­zeit in den Wochen vor dem Con­test als Wer­be­maß­nah­me von allen (!) betei­lig­ten TV-Sta­tio­nen in ihrem Haupt­pro­gramm (!) aus­ge­strahlt wer­den. Das machen eini­ge Anstal­ten auch heu­te noch – die ARD ver­steckt sie dum­mer­wei­se zwi­schen den Semis (!) auf Eins­fes­ti­val One. Das vom iri­schen Sen­der RTÉ 1975 pro­du­zier­te, fremd­schäm­pein­li­che Vor­schau­vi­deo, in dem die bei­den eher stei­fen Brü­der erfolg­los und sehr unpas­send zum Lied­in­halt einen auf Jet­set mach­ten, dien­te spä­ter als Vor­la­ge für die Par­odie ‘My love­ly Hor­se’, die unter Euro­vi­si­ons­fans von der Insel bis heu­te abso­lu­ten Kult­sta­tus genießt.

We are the Jet-Set Socie­ty: die Swar­briggs machen auf Luxus­le­ben (IE).

Bes­ser als die Vor­la­ge: die brit­sche Par­odie ‘My love­ly Horse’.

Die 1996 erst­mals aus­ge­strahl­te Euro­vi­si­ons­fol­ge der Come­dy­rei­he ‘Father Ted’ über die Aben­teu­er zwei­er fik­ti­ver Pries­ter kennt wohl jeder ein­zel­ne Bri­te und Ire in- und aus­wen­dig. 2015 star­te­ten Fans sogar eine Peti­ti­on an die iri­sche Regie­rung, ‘My love­ly Hor­se’ als offi­zi­el­len Bei­trag der Insel nach Wien zu ent­sen­den (was natür­lich nicht ging, da der Song schon vor dem 1. Sep­tem­ber 2014 ver­öf­fent­licht wur­de). Die Bri­ten selbst schaff­ten mit den Shadows in Stock­holm mal wie­der den zwei­ten Platz. Die vor allem in den Sech­zi­ger­jah­ren sehr erfolg­rei­che, zeit­wei­li­ge Begleit­band von Cliff Richard (ESC 1968 und 1973, hier stand Shadows-Gitar­rist John Farr­ar als Back­ing mit auf der Büh­ne) bot musi­ka­lisch eine gefäl­li­ge Kreu­zung aus den Beat­les und den Bee Gees. Nicht zuletzt dank der Fal­sett­stim­me des Gitar­ris­ten Hank Mar­vin – lei­der einer der häss­lichs­ten Men­schen, die jemals auf einer Euro­vi­si­ons­büh­ne stan­den, wes­we­gen ihn die Licht­re­gie des schwe­di­schen Sen­ders auch wäh­rend sei­ner Gesangs­parts gnä­dig im Halb­dun­kel ließ. ‘Let me be the One’ bescher­te ihnen einen letz­ten Top-Twen­ty-Hit (#12) in Großbritannien.

Erhielt das Accent aigu nur für die­sen Auf­tritt: Géral­di­ne (LU)

Aus Irland stamm­te auch die luxem­bur­gi­sche Ver­tre­te­rin, Géral­di­ne Bra­na­gan. Die hat­te es, wie Wiki­pe­dia weiß, 1973 ver­geb­lich beim hei­mi­schen Vor­ent­scheid ver­sucht. Dies­mal durf­te sie für das Groß­her­zog­tum ran – ver­mut­lich, weil der mit ihr zart ver­ban­del­te Kom­po­nist Phil Coul­ter ihren Bei­trag ‘Toi’ ver­fasst hat­te. Bill Mar­tin, der mit ihm zusam­men die erfolg­rei­chen bri­ti­schen Grand-Prix-Lie­der ‘Pup­pet on a String’ (1967) und ‘Con­gra­tu­la­ti­ons’ (1968) schrieb und auch bei dem arg lah­men ‘Toi’ als Mit­au­tor fir­mier­te, erin­nert sich gegen­über Gor­don Rox­burgh: “Wir haben viel Geld dafür aus­ge­ge­ben, und sie konn­te nicht sin­gen. Ich half noch nicht mal bei der Pro­mo­ti­on, mir bedeu­te­te es nichts”. Den­noch reis­te auch Mar­tin als Teil der luxem­bur­gi­schen Dele­ga­ti­on nach Stock­holm an, denn “ich war mit den Shadows befreun­det und ich lieb­te die Atmo­sphä­re”. Géral­di­ne ver­such­te mit ihrem wei­ßen Fle­der­maus­är­mel­kleid ver­geb­lich, von der Dürf­tig­keit ihrer Stim­me und ihrer grau­en­haf­ten fran­zö­si­schen Aus­spra­che abzu­len­ken, erreich­te aber den­noch einen fünf­ten Platz.

Extra vor­her noch in eine Zitro­ne gebis­sen: die Frau Dre­xel (CH)

Immer­hin zur Chart­po­si­ti­on #2 in ihrem Hei­mat­land, der Schweiz (wenn auch lei­der nir­gends sonst) reich­te es für die in der Wer­tung einen Rang nied­ri­ger abschnei­den­de Simo­ne Dre­xel, die mit einer selbst geschrie­be­nen, phi­lo­so­phi­schen Betrach­tung des Geschick­lich­keits­spiels ‘Mika­do’ (jawohl, das mit dem Hölz­chen anfas­sen) ein schö­nes Exem­plar der hier­zu­lan­de von Julia­ne Wer­ding und Kat­ja Ebstein (DE 1970, 1971, 1980, DVE 1975) abge­deck­ten Musik­rich­tung des ange­täuscht sozi­al­kri­ti­schen Chan­sons mit Rumms-Bumms-Ham­mer­re­frain ablie­fer­te. Die besun­ge­ne Ernst­haf­tig­keit (“zeig nie­mals ein Gefühl”) trans­por­tie­re Frau Dre­xel geschickt, indem sie dabei ein Gesicht zog wie bei einer Wur­zel­be­hand­lung. Einen deut­lich zeit­ge­mä­ße­ren Sound bot der Israe­li Shlo­mo Art­zi, Sohn von Über­le­ben­den des Holo­caust, des­sen ‘At ve’ ani’ als ers­tes Dis­co­s­tück der Con­test­ge­schich­te gel­ten kann – und eines der bes­se­ren noch dazu.

Als Model hät­te ich mich gegen so einen gräß­li­chen Folk­lo­re-Fum­mel aber mit Hän­den und Füßen gewehrt! (TR)

In die­sem Jahr debü­tier­te die Tür­kei beim Song Con­test, was zur Fol­ge hat­te, dass Grie­chen­land fern­blieb. Man stritt sich um die Vor­herr­schaft auf der noch immer zwei­ge­teil­ten Mit­tel­meer­in­sel Zypern, von der nur der grie­chi­sche Süden beim Grand Prix mit­macht (was die stets zwi­schen Athen und Niko­sia hin und her gescho­be­nen Dou­ze Points erklärt), wäh­rend die Nord­hälf­te mitt­ler­wei­le an der Türk­vi­zyon teil­nimmt. Die Tür­kei jeden­falls teil­te das deut­sche Schick­sal: ihr wun­der­schö­ner, ver­spiel­ter Eth­no­song ‘Sen­in­le bir daki­ka’ von Semi­ha Yan­kı, einer der bes­ten Euro­vi­si­ons­bei­trä­ge des Lan­des, wur­de vom Orches­ter hin­ge­met­zelt und blieb unver­stan­den. Ledig­lich drei Gna­den­punk­te aus Mon­te Car­lo gab es. Und selbst die woll­te die elek­tro­ni­sche Punk­te­ta­fel zunächst ums Ver­re­cken nicht anzei­gen! Frau Yan­kı ver­dank­te es übri­gens dem Los­glück, dass sie nach Stock­holm durf­te: beim hei­mi­schen Vor­ent­scheid gab es einen Punk­te­gleich­stand zwi­schen ihr und einem popu­lä­ren Kin­der­trio mit dem für deut­sche Ohren sehr pikan­ten Namen Cici Kız­lar (Deli­sin).

Woll­te anschei­nend direkt nach dem Auf­tritt zu Bett: Estí­ba­liz (ES). Ser­gio ent­schlief 2015

Für Por­tu­gal trat mit Duar­te Men­des ein ehe­ma­li­ger Mari­ne­of­fi­zier und ech­ter opti­scher Hin­gu­cker an. Sein Bei­trag ‘Madrugada’, musi­ka­lisch lei­der von aus­ge­such­ter (und für die Por­tu­gie­sen so typi­scher) Ödnis, han­del­te von der Nel­ken­re­vo­lu­ti­on, mit der sich das Land im Vor­jahr ver­hält­nis­mä­ßig unblu­tig aus der Dik­ta­tur befrei­en konn­te und an wel­cher der Künst­ler selbst mit­ge­wirkt hat­te. Men­des trug ein Jackett mit weiß leuch­ten­dem Innen­fut­ter: kei­ne gute Idee bei einem zur gro­ßen Ges­te nei­gen­den Sän­ger! Zwei unter­schied­li­che Pär­chen­kon­zep­te prä­sen­tier­ten uns die süd­eu­ro­päi­schen Län­der: wäh­rend die Spa­ni­er mit dem Ehe­paar Ser­gio & Estí­ba­liz (bei­de Grün­dungs­mit­glie­der der Moce­da­des [ES 1973]) einen sin­gen­den Schlaf­wa­gen­schaff­ner und sei­ne hei­di­be­zopf­te, gewand­tech­nisch bereits bett­fer­ti­ge jun­ge Gat­tin schick­ten, um uns mit har­mo­nie­sat­ter Fahr­stuhl­mu­sik (‘Tú vol­ver­ás’) in eine wat­te­wei­che Trance zu lul­len, setz­te das gemischt­ras­si­ge ame­ri­ka­nisch-ita­lie­ni­sche Duo Wess (†2009) und Dori Ghez­zi mit dem anre­gen­den ‘Era’ einen optisch wie musi­ka­lisch erquick­li­chen Schluss­punkt. Ihr Lohn: Rang 3 bei den Juro­ren und ein Top-Ten-Hit in der Schweiz und Norwegen.

Nichts ist span­nen­der als Kon­tras­te: Wess & Dori Ghez­zi (IT)

In der deut­schen Pres­se­nach­schau fand das kata­stro­pha­le Abschnei­den Joy Fle­mings und der Sieg eines anspruchs­lo­sen Ding-Dong-Lied­chens zor­ni­gen Nach­hall. Lei­der zog man genau die fal­schen Schlüs­se: man dür­fe die deut­sche Vor­ent­schei­dung nicht, wie gesche­hen, den Plat­ten­fir­men über­las­sen (was ja erst zu einem beacht­li­chen Auf­ge­bot bekann­ter Schla­ger­stars und kre­di­bler Songs führ­te), son­dern sol­le Jazz-Kom­po­nis­ten wie Peter Herb­holz­hei­mer beauf­tra­gen. Der habe schließ­lich schon Wett­be­wer­be gewon­nen! Wenn natür­lich auch wel­che, für die sich allen­falls eine Hand­voll Men­schen inter­es­sie­ren. Doch selbst das schwe­di­sche Fern­se­hen, Gast­ge­ber die­ses Jah­res, gab kur­ze Zeit nach der Ver­an­stal­tung bekannt, aus dem Grand Prix aus­zu­stei­gen: die hier gezeig­te Musik sei “min­der­wer­tig”. Es blieb aller­dings bei einer nur ein­jäh­ri­gen Pause.

Euro­vi­si­on Song Con­test 1975

Euro­vi­si­on Song Con­test. Sams­tag, der 22. März 1975, aus der St. Eriks Mäs­san Äls­jö in Stock­holm, Schwe­den. 19 Teil­neh­mer­län­der. Mode­ra­ti­on: Karin Falck.
#LandInter­pretTitelPunk­tePlatz
01NLTeach-InDing A Dong15201
02IESwar­briggsThat’s what Friends are for06809
03FRNico­le RieuEt Bon­jour à toi, l’Artiste09104
04DEJoy Fle­mingEin Lied kann eine Brü­cke sein01517
05LUGéral­di­ne BranaganToi08405
06NOEllen Niko­lay­senTouch my Life with Summer01118
08YUPepel i KriDan Lju­bez­ni02213
09UKShadowsLet me be the One13802
07CHSimo­ne DrexelMika­do07706
10MTRena­to MicallefSin­ging this Song03212
11BEAnn Chris­tyGeluk­kig zijn01715
12ILShlo­mo ArtziAt ve ‘ani04011
13TRSemi­ha YankiSen­in­le bir dakika00319
14MCSophie Hec­quetUn Chan­son, c’est une Lettre02213
15FIPiha­soit­tajatOld Man Fiddle07407
16PTDuar­te MendesMadrugada01616
17ESSer­gio & EstebalizTú vol­ver­ás05310
18SELars Berg­ha­genJen­nie, Jennie07208
19ITWess & Dori GhezziEra11503

2 Comments

  • Käse aus Hol­land – oder nicht? Inter­es­san­ter­wei­se hat ‘Ding-a-dong’ ein ähn­li­ches ‘Schick­sal’ erlit­ten wie ‘Après toi’. Wer sich mal den nie­der­län­di­schen Text ansieht, merkt sehr schnell, dass das The­ma um 180° gedreht wur­de. Wirk­lich fas­zi­nie­rend. ich wüss­te zu gern, was zuerst da war.

  • Ein Lied kann (muss aber nicht) eine Brü­cke sein! Aus wel­chem Grund über­all behaup­tet wird, daß Joy Fle­mings Lied das bes­te aller Zei­ten ist, kann ich nicht nach­voll­zie­hen. Ich habe 1975 die Vor­ent­schei­dung und auch das Fina­le gese­hen, und das Lied war für mich über­haupt kein Ohr­wurm oder sowas in der Rich­tung. Bei der VE war das Lied über­haupt nicht posi­tiv auf­ge­fal­len-links rein, rechts raus. Und vor dem Fina­le in Stock­holm gab es eine ganz star­ke Stim­mung gegen Joy Fle­ming in Deutsch­land. Und dann hat Sie sich Ihren Auf­tritt sel­ber ver­sem­melt. Für den Diri­gen­ten, die Beleuch­tung und das Orches­ter konn­te sie nichts; aber das Kleid, das Make-Up, und das Rum­ge­hop­se , und das Geschrei gehen ja wohl auf Ihre Rech­nung, und sie mach­te auch einen etwas pri­mi­ti­ven Ein­druck. Die­ser Auf­tritt in Stock­holm ist für mich der schlech­tes­te der Euro­vi­si­on­ge­schich­te mit einem durch­schnitt­li­chen Lied. Jür­gen Mar­cus und Ein Lied zieht hin­aus in die Welt wäre defi­ni­tiv der bes­se­re Ver­tre­ter für Deutsch­land gewesen.

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