Nein, eine offene Vorentscheidung hätten sie nicht mitgemacht, die international umjubelten Synchrontänzerinnen und ‑ausseherinnen Alice und Ellen Kessler, also gab es keine: der damals für den deutschen Grand-Prix-Beitrag zuständige Hessische Rundfunk bestimmte sie direkt zu den germanischen Vertreterinnen in Cannes. Deutschlands bekannteste eineiige Zwillinge, die in einem NDR-Interview später entschuldigend schutzbehaupteten, zu diesem Auftritt vertraglich gezwungen worden zu sein, knüpften aber noch weitere Bedingungen an ihre Teilnahme: ‘Heute möcht’ ich bummeln’, wie das Lied zunächst heißen sollte, erschien ihnen als Titel deutlich zu brav. Um nicht zu sagen: spießig. Die phonetisch naheliegende Abwandlung ‘Heute möcht’ ich fummeln’ wäre hingegen für damalige Verhältnisse vielleicht doch etwas zu direkt gewesen, also frisierte ihre Textdichterin Astrid Voltmann den Song in ‘Heut’ Abend möcht’ ich tanzen gehn’ um. Trotz dieser von ihnen selbst angestoßenen Änderung empfanden die Beiden die Nummer aber insgesamt als “nicht gut”. Da muss ich doch entschieden widersprechen!
Da wackeln die Wände: die Kesslers rocken das Haus! (DE)
Denn auch, wenn es musikalisch wie aus einer Revue klang, wie übrigens alle Beiträge dieses Jahrganges: textlich kam ihr Beitrag einer kleinen Revolution gleich. Dass die Dame den Herrn zum Tanz aufforderte, stellte in den sittenstrengen Fünfzigern die Herrschaftsverhältnisse auf den Kopf. Zumal noch eingeleitet von einem flapsigen “Hallo Boy” (was ihnen, wie Jan Feddersen recherchierte, ob des schändlichen Anglizismus flammende Protestbriefe erzürnter Sprachpuristen eintrug) und, schlimmer noch, einem anzüglichen “Komm mit, sag nicht nein”: da ging es zwischen den Zeilen doch um ganz andere rhythmische Körperbewegungen! Auch die französische Gastgeberin Jaqueline Joubert fand das äußerst “curieux”. Zur Strafe mussten sich die vorwitzigen Schwestern ein einziges, in Nabelhöhe eingestelltes Mikrofon teilen und ihre Tanzeinlage, die erste ernsthafte Grand-Prix-Choreografie in der Geschichte, auf derartig engem Raum absolvieren, dass man es nur als Meisterleistung bezeichnen kann, dass dies unfallfrei und ohne blaue Flecken vonstatten ging. Dennoch reichte es lediglich für einen enttäuschenden achten Rang: die größtenteils älteren Herren der Jury fühlten sich wohl zu stark in ihrer Männlichkeit bedroht von den kecken Kesslerinnen.
https://www.youtube.com/watch?v=qdLm6qfyVHs
Een beetje Vreede (NL).
Keine Empörung gab es über die Gewinnerin von Cannes, Teddy (Auch, wenn sich die 2010 verstorbene Dorothea Margaretha Scholten denselben, an ein kuschliges Kinderspielzeug erinnernden Spitznamen ausgesucht hatte wie der männliche Teil des britischen Duos: sie war eindeutig eine Frau!) Scholten aus den Niederlanden, und ihr peppig-belangloses ‘Een beetje’, (‘Ein bisschen’) das allerdings trotz des alleine von der Jury verantworteten Sieges kommerziell, also beim Platten kaufenden Publikum, kaum einen Nachhall fand. Beinahe könnte man glauben, das kulturell in einen holländischen und einen frankophilen Landesteil aufgesplittete Belgien habe in den Grand-Prix-Gründerjahren das alleinige Sagen in der Jury gehabt: zwischen 1957 und 1962 gewannen im steten Wechsel Frankreich und die Niederlande, nur 1961 vertat man sich (wahrscheinlich, weil sich die Flaggen so ähnlich sehen) mit dem aus unbekanntem Grunde heuer aussetzenden, benachbarten Großherzogtum Luxemburg, unter Grand-Prix-Fans auch bekannt als “La deuxième France”, das seine siegreichen Vertreter:innen natürlich aus gallischen Gefilden importierte.
https://www.youtube.com/watch?v=R2y5JPSV7WU
Sieh und lerne, N’Evergreen: so geht Schlagerekstase! (UK)
A propos “zweites”: Als wahrer Grand-Prix-Kultschatz erwies sich der Camp-Klassiker ‘Sing, little Birdie’ aus dem Vereinigten Königreich, der – wie in den kommenden Jahrzehnten noch so viele britische Beiträge nach ihm – die Silbermedaille holen sollte. Das augenscheinlich unter dem Einfluss aufputschender Substanzen stehende singende Ehepaar Teddy (Auch, wenn sich Edward Victor Johnson denselben, an ein kuschliges Kinderspielzeug erinnernden Spitznamen ausgesucht hatte wie die niederländische Siegerin: er war eindeutig ein Mann!) Johnson und Pearl Carr brachte ein Plüschvöglein mit auf die Bühne und überzeugte sowohl mit einer drolligen Kunstpfeifeinlage als auch mit einer beängstigend faszinierenden, zu gleichen Teilen absurd übertriebenen wie authentisch wirkenden Mimik, die dem Begriff Fröhlichkeit (oder gayness, wie es wohl treffender im Englischen heißt) eine neue Bedeutung verlieh. Sowie mit einer echten Killer-Rückung. Ihr Auftritt muss als vermutlich völlig unschuldig gemeinter, dadurch aber auf das Köstlichste belustigender Comedy-Höhepunkt wenigstens dieses Eurovisionjahrzehnts gelten.
Der ist nicht aus Ecuador: Ferry Graf (AT).
Als weitere Meister im Fach der (unfreiwilligen?) Komik erwiesen sich, wie so oft, die Österreicher, die mit dem in nostalgischen Erinnerungen an vergangene imperiale Zeiten schwelgenden, königlich-kaiserlichen ‘K. u. k. Kalypso aus Wien’ ihre Kompetenz in Sachen lateinamerikanischer Rhythmen zu beweisen suchten. Verquickt mit Verweisen auf die “Polka aus Brünn” (dem heute tschechischen Brno) und auf ungarische Art gewürzt mit “etwas Paprika liegt auch mit drin” sowie abgerundet mit landestypisch folkloristischen Jodelrufen (!) wirkte die gesellschaftstanz-kulturelle Wiener Mélange wirklich sehr, sehr drollig. Und ging natürlich sehr, sehr in die Hose. Ferry Graf, der vom ORF intern bestimmte und seinen Vortrag mit allerlei lustigen Handbewegungen unterstreichende Interpret dieses fabelhaften Kleinods, wanderte in den Siebzigern nach Finnland aus, wo man Schräges bekanntlich schätzt, und wo er eine erfolgreiche Hillbilly-Band gründete. Christa Williams, die Vertreterin der benachbarten Schweiz, kam nicht, wie behauptet, ‘Irgendwoher’, sondern stammte gebürtig aus Preußen. Ihr egales Liedchen spülte die Eidgenossen irgendwohin unverdienterweise auf Rang 4.
https://www.youtube.com/watch?v=1lvHxE0r-3w
Weniger ist mehr: ein etwas weniger experimenteller Liedauftakt und ein bisschen weniger Armgefuchtel hätten sicher nicht geschadet (IT).
Erneut versuchte sich der ‘Volare’-Komponist und ‑sänger Domenico Modugno für sein Heimatland Italien. Sein mit Sinn für Dramatik intoniertes und musikalisch durchaus eingängiges ‘Piove’ schnitt nochmals schlechter ab als sein ebenfalls unterbewerteter Welthit aus dem Vorjahr. Im Anschluss aber feierte es unter dem Titel ‘Ciao, Ciao, Bambina’, gecovert unter anderem von der großen Caterina Valente, europaweite Hitparadenerfolge. Lag es am Cantautore selbst, der von der Ausstrahlung her mehr an einen gemütlichen Pizzabäcker erinnerte anstatt an einen feurigen Latin Lover? Ich denke nicht: bei einer mehrfachen Grand-Prix-Teilnahme erwartet das Publikum stets eine Steigerung gegenüber dem vorigen Mal, und die konnte Domenico nicht liefern, denn auch ein “wirklich gut” fällt nun mal gegenüber einem “grandios” ab. Das stellte auch Birthe Wilke unter Beweis, die zwei Jahre zuvor die Weltöffentlichkeit mit scheuer Zungenakrobatik geschockt hatte und nun nochmals für Dänemark antrat. Ohne Busserlpartner brachte sie es nur auf den fünften Rang.
Polly Pierrot will einen Cracker! (MC)
Neu dabei war das winzige Steuer- und Glücksspielparadies Monaco, unter Grand-Prix-Fans als “La troisième France” bekannt: fungierte das unweit des diesjährigen Veranstaltungsortes liegende, briefmarkengroße Fürstentum, ebenso wie Luxemburg, doch vor allem als zusätzliche Anlaufstelle für französische Sänger:innen und Komponist:innen, die im Mutterland nicht zum Zuge kamen. Wie bereits Österreich 1957 erntete Monaco bei seinem Debüt gleich erst einmal die Rote Laterne. Kein Wunder, wo der etwas zu breitbeinig auftretende und etwas zu sehr herumhampelnde, zu diesem Zeitpunkt bereits von gleich zwei Chansonnièren (nämlich Lucienne Boyer und Edith Piaf) geschiedene Franzose Jacques Pills (†1970) doch behauptete, sein bester Freund sei ein Papagei, er also offensichtlich einen Vogel hatte! Allerdings konnte der Stadtstaat seine Erfolgsbilanz in der Folgezeit rasch aufbessern. Profitieren sollte auch Frankreich, das fürderhin von gleich zwei kulturell eng verbundenen Jurys mit Punkten überflutet wurde. Eine Gagné-gagné-Situation!
https://www.youtube.com/watch?v=5f3WLI0IqdE
Der Tanz der Augenbrauen: Jean Philippe (FR).
Der gastgebende Sender TF1 bereicherte die Show im vierten Jahr ihres Bestehens mit einigen hübschen Neuerungen. So begann die TV-Übertragung erstmals nicht direkt im Sendesaal, sondern mit (allerdings aufgrund der abendlichen Dunkelheit kaum erkennbaren) Außenaufnahmen der französischen Riviera und der Croisette von Cannes. Da witterte man wohl die Werbemöglichkeiten, die der Grand Prix in Sachen Tourismus für das austragende Land bot. Zum Auftakt des für damalige Verhältnisse beinahe flott zu nennenden Liederabends präsentierte man alle Interpret:innen schon mal vorab auf einem Drehgestell, beklebt mit Fototapeten mit landestypischen Motiven, vor denen sie hernach auch sangen. Damit verabschiedete man sich zumindest visuell von der albernen Mär, der Eurovision Song Contest sei ein Komponistenwettbewerb und konzentrierte sich voll und ganz auf den für die Zuschauer:innen deutlich attraktiveren (friedlichen) Kampf der Nationen.
Schackeline Schubert führte 1959 durch einen vergleichsweise flotten Abend (ganze Show).
Und da Frankreich in diesem Wettstreit trotz der eingängig-heiteren Lautmalerei ‘Oui oui oui oui’, dargeboten von einer mannsgroßen Bauchrednerpuppe vom ausgesprochen fröhlich wirkenden Sänger Jean Phillipe, der als erster Grand-Prix-Teilnehmer später für ein anderes Land antreten sollte, nämlich 1962 für die Schweiz, zum eigenen Erstaunen und entgegen der festen Erwartungen aber nicht erneut siegte, sondern “nur” Dritter wurde, durften im Anschluss an die Wertung eben alle drei Erstplatzierten noch mal singen. In Sachen Nationalchauvinismus macht den Galliern halt so schnell keiner was vor!
Eurovision Song Contest 1959
Grand Prix Eurovision de la Chanson Européenne. Mittwoch, 11. März 1959, aus dem Palais des Festivals in Cannes, Frankreich. Elf Teilnehmerländer. Moderation: Jacqueline Joubert.# | Land | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|---|
01 | FR | Jean Phillipe | Oui, oui, oui, oui | 15 | 03 |
02 | DK | Birthe Wilke | Uh, jeg ville ønske jeg var dig | 12 | 05 |
03 | IT | Domenico Modugno | Piove | 09 | 06 |
04 | MC | Jacques Pills | Mon Ami Pierrot | 01 | 11 |
05 | NL | Teddy Scholten | Een beetje | 21 | 01 |
06 | DE | Alice + Ellen Kessler | Heute Abend wollen wir tanzen gehn | 05 | 08 |
07 | SE | Brita Borg | Augustin | 04 | 09 |
08 | CH | Christa Williams | Irgendwoher | 14 | 04 |
09 | AT | Ferry Graf | Der k. u. k. Kalypso aus Wien | 04 | 10 |
10 | UK | Teddy Johnson + Pearl Carr | Sing little Birdie | 16 | 02 |
11 | BE | Bob Benny | Hou toch van mij | 09 | 07 |
Letzte Überarbeitung: 27.09.2020
Doch etwas Paprika liegt ebenfalls drin! Einer der besten Contests der späten Fünfziger bzw. frühen Sechziger. Viele flotte, im Ansatz schon entfernt an Popsongs erinnernde Beiträge (Deutschland, Niederlande) und selbst die getragenen Chansons waren nicht übermäßig schnarchig. Und dann noch ‘der KuK Kalypso aus Wien’! Absoluter Oberkult! 😆
Gäbe es für den Song keinen eigenen Eintrag in der (englischen) Wikipedia, ich hätte wohl nie erfahren, wofür “k. & k.” steht.
“kaiserlich & königlich” übrigens, für diejenigen, die zu faul sind, selbst nachzuschauen. Bezieht sich auf die Monarchie Österreich-Ungarns, wo der österreichische Kaiser auch den ungarischen König stellte (wie wir alle ja noch aus den Sissi-Filmen wissen). Es gibt mittlerweile auch einen deutschen Wikipedia-Eintrag dazu: http://de.wikipedia.org/wiki/Kaiserlich_und_k%C3%B6niglich