Erfolg gebiert meist noch mehr Erfolg: nachdem ‘Volare’, der Vorjahressiegertitel des San-Remo-Festivals, in zahllosen Coverversionen weltweit die Hitparaden erobert hatte, wuchs die Zuschauer:innenzahl der diesjährigen, wiederum als Grand-Prix-Vorentscheid genutzten Festspiele des italienischen Canzone, die per Eurovision erneut in etlichen europäischen Ländern zur Ausstrahlung gelangte, auf geschätzte 20 Millionen. Auch in der ligurischen Kurstadt, so weiß Wikipedia zu berichten, stürmten Fans die Hotels und das städtische Kasino, in welchem der Wettbewerb damals stattfand. Der Rummel forderte mit San-Remo-Star Claudio Villa gar ein Opfer: renitente Autogrammjäger:innen belagerten ihn so hart, dass er sich eine Verrenkung der Schulter zuzog. Im Wettstreit mit alten und neuen Konkurrent:innen lief es für ihn heuer nicht so prächtig: der erfolgsverwöhnte Schnulzensänger musste sich diesmal mit den beiden hintersten Rängen zufriedengeben. Überschattet wurde die Veranstaltung durch den Unfalltod des Organisators Achille Cajafa nur 17 Tage vor dem Festivalbeginn.
Hier fliegen gleich die Löcher aus dem Formaggio: Villa mit dem flotteren seiner beiden Wettbewerbstitel.
Wie in so vielen nationalen Vorentscheidungen dieser Zeit üblich, präsentierte man alle Wettbewerbstitel in jeweils zwei verschiedenen Varianten, gesungen von unterschiedlichen Interpret:innen. Mit einem bemerkenswerten Déjà-vu-Ergebnis: der Jungstar Johnny Dorelli und der Cantautore Domenico Modugno, die im Vorjahr gemeinsam das von Letzterem selbst komponierte ‘Volare’ zum Sieg führten, konnten sich auch diesmal die Spitzenposition sichern. Und zwar mit dem wiederum von Modugno verfassten Titel ‘Piove’, international bekannter unter seiner einprägsameren Refrainzeile ‘Ciao ciao, Bambina’. Wie bereits im Vorjahr präsentierte der in den USA aufgewachsene Dorelli die etwas leichtfüßigere, swingendere Version des Evergreens. Und wie bereits im Vorjahr schickte die Rai den etwas gesetzter wirkenden, ein kleines bisschen klebriger schmachtenden Domencio zum Eurovision Song Contest, wo es diesmal nur für den sechsten Rang reichte. Dessenungeachtet stürmte auch dieser Titel in etlichen Coverversionen (unter anderem von der großen Catarina Valente) die europäischen Hitparaden. Pikant: der italienischen Wikipedia zufolge könne der vordergründig vom tränenreichen Ende einer Beziehung handelnde Songtext von ‘Piove’ (“Doch es regnet, es regnet auf unsere Liebe”) als versteckter Verweis auf das nach einer erbitterten gesellschaftlichen Debatte im Vorjahr verabschiedete Merlin-Gesetz verstanden werden, welches in dem katholischen Land bis heute Bordelle verbietet und damit die italienischen Sexarbeiterinnen in die (dort legale) Straßenprostitution treibt.
Da es in den Fünfzigern noch keine Videoclips gab, drehte man eben gleich ganze Schlagerfilme. Hier mit San-Remo-Sieger Johnny Dorelli.
Von den weiteren San-Remo-Teilnehmer:innen erzielten etliche kommerziellen Erfolg zumindest auf nationaler Ebene. Allen voran der Zweitplatzierte Arturo Testa mit der hochdramatischen Ballade ‘Io sono il Vento’ (‘Ich bin der Wind’), die er mit stimmlich präzise kontrollierter, dennoch überwältigender Leidenschaft präsentierte, wobei ihm natürlich seine Fähigkeiten und seine Begabung als ausgebildeter Opernbariton zugute kamen. Er lieferte damit ein wunderbares Beispiel für die Qualität ab, die viele Grand-Prix-Fans so sehr an italienischen Beiträge schätzen: nämlich so zu klingen, als ginge es gerade um Leben oder Tod, und dies auch mit einer entsprechenden Mimik und Gestik zu unterstützen, ohne dabei jedoch ins Tragikomische abzudriften. Anmutiges Leiden eben: eine Technik, die ansonsten nur noch die diversen jugoslawischen Völker so vorbildlich beherrschen. Wikipedia-Funfact am Rande: mehrere Dekaden später, im Jahre 2006, kandidierte Arturo Testa als Kandidat der Rentnerpartei für das Amt des Bürgermeisters in seiner Heimatstadt Mailand, musste sich aber mit nur 0,78% der Stimmen geschlagen geben. Da hatte sich der Wind wohl zwischenzeitlich zu einem lauen Lüftchen abgeschwächt.
Viel Wind um Nichts? Arturo Testa erschmetterte sich in San Remo den zweiten Rang.
Das von der Jury relativ weit hinten platzierte ‘Nessuno’ (‘Niemand’), beim Festival in einer leider etwas lendenlahmen Version vorgestellt von der Sanremo-Newcomerin Roberta Corti alias Betty Curtis, entwickelte sich im Nachgang zum San-Remo-Festival in der deutlich frecheren Interpretation der gerade erst am Anfang ihrer Jahrzehnte umspannenden Karriere stehenden Pop-Legende Mina Mazzini, die damit ihren ersten Auftritt im italienischen Fernsehen hatte, zum Hit. Im dazugehörigen Schlagerfilm von 1960, Urlatori alla Sbarra, durfte sie das tun, wovon vermutlich viele andere Frauen nur träumten: sie verpasste dem aufdringlich werdenden Adriano Celentano eine Ohrfeige! In Deutschland kennt man die großartige Mina, die bis heute in regelmäßigen Abständen neue Alben veröffentlicht, welche in Italien ebenso regelmäßig in die Top Ten gehen, hingegen fast ausschließlich für den fantastischen Millionenseller ‘Heißer Sand’ von 1962, dessen so knapper wie anspielungsreicher Text ihn zu einer beliebten Vorlage für so kluge wie ausschweifende Exegesen machte und dessen düster-geheimnisvolle Interpretation durch die Sängerin ihn zu einer für den Hörer unvergesslichen Meditation über die zerstörerische, dunkle Kraft des Verlangens geraten ließ.
Mina auf der wilden Party. Und ja, da hängt jemand kopfüber in der Fledermausstellung von der Balustrade. Fragen Sie mich nicht, warum!
A propos Verlangen: Aufsehen erregte auch die viertplatzierte, hauchzarte Liebesballade ‘Tua’, von Jula de Palma in einem hautengen Kleid und mit sehr großer Hingabe dargeboten. Das sorgte bei einigen zuschauenden vatikanischen Herren wohl für gewisse hartnäckige Verspannungen unter der Soutane und damit für einen öffentlich ausgesprochenen kirchlichen Rüffel für die “zu sinnliche” Präsentation. Was man durchaus als unbeabsichtigtes Kompliment für die Ausstrahlung der Sängerin begreifen kann, was allerdings für Frau de Palma die unangenehme Folge hatte, dass wildfremde, von diesen Worten aufgestachelte Katholiken sie in Protestbriefen beleidigten und bedrohten (sehr christlich!) und die vatikanhörige Rai ihr Lied für einige Zeit mit einem eisernen Sendeverbot belegte. Dem kommerziellen Erfolg ihrer Single tat dies jedoch keinen Abbruch (ätsch!). Die deutlich züchtigere (und dementsprechend langweilige) Interpretation von Tonina Torrielli blieb hingegen so beanstandungsfrei wie umsatzschwach.
Die sinnliche Jula de Palma bei einem TV-Auftritt.
Neben Dramatik, Sex und Skandälchen lieferte dieser Jahrgang des San-Remo-Festivals aber auch albern-leichtfüßigen Pop-Fluff: zum einen in der Gestalt der Polonäse ‘Una Marcia in fa’, die weniger typisch italienische Eleganz versprühte als vielmehr karnevalesken deutschen Gleichschrittwillen; und zum zweiten in Form des heiteren, la-la-la-lastigen Cha-Cha-Chas ‘Lì per lì’, angemessen fröhlich vorgesungen und ‑gepfiffen vom Neapolitaner Aurelio Fierro, den auch seine dezent im Scheinwerferlicht glänzende Glatze nicht davon abhielt, den weiblichen Teilen der Zuschauerschaft keck zuzuzwinkern. Der offensichtlich den leiblichen Genüssen wenig abgeneigte Fierro eröffnete später in seiner Heimatstadt ein Restaurant, in welchem er die Gäste gerne mit Gesangseinlagen unterhielt. Zu seinen Hits zählte unter anderem der Siegersong der San-Remo-Konkurrenzveranstaltung Festival di Napoli von 1956, ‘Guaglione’, zu Weltruhm gelangt durch die unwiderstehliche Mambo-Version von Pérez “Prez” Prado (‘Mambo No. 5’), die im Jahre 1995 durch die Verwendung als Werbejingle erneut die Charts stürmte. Was lustigerweise bedeutet, dass zwei der drei bekanntesten Erfolge des kubanischen Bandleaders über Eurovisionsverbindungen verfügen: auch ‘Cherry Pink and Apple Blossom White’ wurde zuerst von einem Grand-Prix-Teilnehmer gesungen, nämlich vom Vorjahressieger André Claveau. Die Pop-Welt, sie ist ein Dorf.
Augenscheinlich mussten alle männlichen Sanremo-Teilnehmer 1959 den gleichen Frack tragen. Aurelio Fierro schien dennoch vergnügt.
Vorentscheid IT 1959
Festival della Canzone italiana di Sanremo. Samstag, 31. Januar 1959, aus dem Casinò Municipale in San Remo. 14 Teilnehmer:innen. Moderation: Enzo Tortora und Adriana Serra.Interpreten | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
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Domenico Modugno | Johnny Dorelli | Piove | 57 | 01 |
Arturo Testa | Gino Latilla | Io sono il Vento | 48 | 02 |
Teddy Reno | Achille Togliani | Conoscerti | 27 | 03 |
Jula de Palma | Tonina Torrielli | Tua | 18 | 04 |
Teddy Reno | Aurelio Fierro | Lì per lì | 14 | 05 |
Fausto Cigliano | Nilla Pizzi | Sempre con te | 13 | 06 |
Natalino Otto | Aurelio Fierro | Avevamo la stessa età | 12 | 07 |
Betty Curtis | Wilma de Angelis | Nessuno | 10 | 08 |
Johnny Dorelli + Betty Curtis | Gino Latilla + Claudio Villa | Una Marcia di Fa | 09 | 09 |
Claudio Villa | Betty Curtis | Un Bacio sulla Bocca | 03 | 10 |
Letzte Überarbeitung: 23.09.2020