Nach dem aufwändigen und chaotischen französischen Vorentscheidungsverfahren von 1957 mit seinen zahlreichen Vorrunden und seinem Interpretinnenwechsel in letzter Minute stand in diesem Jahr der gallische Vertreter von vorneherein fest: der seinerzeit bereits 42jährige André Claveau, ein schon seit den Vierzigern im Lande sehr erfolgreicher und technisch versierter Pariser Schnulzensänger und Schlagerfilm-Mitwirkender, der sich durch seine samtene Stimme und seinen Hang zu schmalzigen Liedern besonderer Beliebtheit bei der weiblichen Zuhörerinnenschaft erfreute, wenngleich er selbst einer finnschwedischen Eurovisionsseite zufolge wohl dem eigenen Geschlecht zugeneigt gewesen sei. Was er, so der Journalist Tobson, im vergleichsweise toleranten “gay” Paris relativ offen ausleben konnte – bis zur Besatzung der französischen Hauptstadt durch die Deutschen. Um nicht im KZ zu landen, habe er dann seine Prägung notgedrungen versteckt. Dabei sei es auch geblieben, als im Nachkriegsfrankreich seine Karriere Fahrt aufnahm. So sang er beispielsweise 1950 die ziemlich behäbige Originalversion des Titels ‘Cerisier rose et Pommier blanc’, die fünf Jahre später in einer deutlich spritzigeren Instrumentalfassung des Orchesters Pérez Prado als ‘Cherry Pink and Apple Blossom White’ die Spitze der US-Charts erklomm und umgehend zum Welthit avancierte (Nummer 1 auch in Deutschland).
Wenn das Pausenprogramm länger dauert als die Präsentation der Wettbewerbstitel: der französische Vorentscheid 1958 am Stück.
1958 nun standen fünf potentielle Eurovisionsbeiträge für ihn zur Auswahl. Die durfte der Chansonnier jedoch bei dem, wie mein Leser Alkibernd es so treffend formuliert, aus der “unaufgeräumten Requisitenkammer” des französischen Fernsehens übertragenen Vorentscheid noch nicht einmal selbst zum Vortrage bringen. Wohl dem seinerzeit mit besonders religiöser Inbrunst verteidigten Irrglauben vom Grand Prix als Komponistenwettbewerb folgend, sangen stattdessen die Autor:innen der fünf Lieder diese vor. Um die hölzern inszenierte Chose für das Publikum noch unattraktiver zu machen, lautete deren einzige Vorgabe, um keinen Preis der Welt mit der Kamera zu interagieren! Eine fast ausschließlich aus Herren gesetzten Alters bestehende und dem Augenschein nach in einen abgedunkelten Verhörraum eingesperrte Jury bestimmte aus den fünf Vorschlägen das sanft einlullende Wiegenlied ‘Dors, mon Amour’ (‘Schlaf, meine Geliebte’) zum französischen Beitrag. Und machte damit den goldenen Griff: Claveau gewann – als erster Mann in der Grand-Prix-Geschichte – gegen starke Konkurrenz den Hauptwettbewerb in Hilversum. Für André markierte der Eurovisionssieg den Scheitelpunkt seiner Karriere: Ende der Sechzigerjahre zog er sich bei nachlassendem Erfolg vollständig aus der Öffentlichkeit und aufs Land zurück. Er starb 2003 im Alter von 87 Jahren.
https://youtu.be/OgE1Oe1i30o
Von seinem Texter Hubert Giraud beim Vorentscheid zunächst als angenehm trockenes Gitarrenstück vorgetragen, machte André Claveau mit Hilfe eines Streicherteppichs und seines schleimigen Vibratos daraus das Musterbeispiel einer Sülzballade.
Vorentscheid FR 1958
Et voici quelques Airs. Freitag, 7. Februar 1958, aus dem ORF-Studio in Paris. Fünf Teilnehmer:innen (Liederwahl aus den Demoversionen). Moderation: Marianne Lecene.# | Interpreten | Songtitel | Platz |
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01 | Charles Dumont | Parigi Roma | n.b. |
02 | René Denoncin | Héléna | 02 |
03 | Jocelyne Jocya | Musique magique | n.b. |
04 | Hubert Giraud | Dors, mon Amour | 01 |
05 | André Richin | Tape dans tes Mains | n.b. |
Letzte Überarbeitung: 21.07.2021
Oh nein, oh nein, die Französische VE existiert in voller Länge. Merkwürdigerweise durchgeführt offenbar in der unaufgeräumten Requisitenkammer von RTF,
Und, oh Wunder, als Pausenact tritt tatsächlich eine gewisse “Dalida” auf (20:53) (und nicht Gloria Lasso, wie im Subtext behauptet, die immerhin damals ebenfalls ein allerdings heute vergessener Superstar war)
Kuckst Du:
Wie abgefahren! Vielen lieben Dank für dieses fantastische Fundstück, das ich natürlich umgehend eingearbeitet habe. Nachdem ich die Lieder jetzt kenne, wäre ich ja für ‘Parigi Roma’ gewesen, das einzige Stück, bei dem einem nicht sofort die Füße einschlafen. Putzig finde ich ja auch, dass sich Claveau beim Publikum dafür entschuldigt, die Siegerreprise improvisieren zu müssen. Was für ein Profi!
Merci bien, lieber Bernd!