Das französische Fernsehen neigt in Sachen Eurovision Song Contest seit jeher zur internen Auswahl seiner Repräsentant:innen. So verhielt es sich bereits im Jahre 1959, wo der damalige Sender TF1 (heute: France 1) den Wettbewerb selbst in Cannes organisierte, für das allerdings sämtliche Informationen zum Vorentscheid fehlen. Für 1960 liegt hingegen eine 38 Liedvorschläge umfassende Liste vor, aus welcher TF1 den Beitrag für London auswählte. Darunter befanden sich so hübsche Titel wie ‚Mademoiselle Tour Eiffel‘ oder das beschwingt-lautmalerische ‚Tique taque‘ der von der Presse gerne als “die nächste Edith Piaf” apostrophierten Pia Colombo (†1986). Generell lesen sich die Namen der angedachten Interpret:innen wie das Who is Who der damaligen frankophilen Grand-Prix-Welt. Wobei das nicht zwingend etwas zu sagen hat: wie in auch Deutschland reichten zwar bei unseren gallischen Nachbarn die Komponist:innen ihre Liedvorschläge unter Angabe der Wunsch-Chanteus:innen ein. Diese wurden jedoch vom Sender nicht zwingend berücksichtigt. Oder sie wollten teils selber gar nicht!
“Zu intellektuell für den Massengeschmack” (Wikipedia): Pia Colombo interpretierte vor allem Werke ihres Ehemanns Maurice Fanon, sowie Lieder von Serge Gainsbourg, Jacques Brel und Kurt Weill.
So wie beispielsweise Marcel Jean-Pierre Balthazar Miramon, der ursprünglich vorgesehene Interpret des von der In-House-Jury letztlich ausgewählten Schlagers ‚Tom Pillibi‘. Marcel Amont, wie sich der in Bordeaux Geborene als Künstler nannte, überlegte es sich jedoch anders und sagte seine Grand-Prix-Teilnahme ab. Auf Wunsch des Senders übernahm die junge Jacqueline Boyer, wodurch sich für das poppige Chanson ein interessanter inhaltlicher Perspektivwechsel ergab, wie das Songlexikon der Uni Freiburg in einer akademischen Betrachtung der Liedzeilen feststellte. Berichtet der Text in Amonts Fassung nämlich noch von der schulterklopfend-neidvollen Bewunderung seines bei der Damenwelt deutlich erfolgreicheren Kumpels und Aufreißers, so begibt sich Jacqueline als Erzählerin in die unmittelbar beteiligte Rolle der von nämlichem ‘Tom Pillibi’ Eroberten und von dem maßlosen Aufschneider, dessen zu Werbezwecken behaupteter Grundbesitz sich schnell als Ansammlung von Luftschlössern herausstellt, offensichtlich Gefoppten.
Etwas weniger stringent arrangiert als beim ESC, dafür deutlich charmanter: ‘Tom Pillibi’.
Was Schackeline aber nicht im Geringsten zu stören scheint: so unwiderstehlich charmant schwindelt der Frauenheld, dass ihm die Protagonistin selbst das Fremdgehen mit der Königstochter verklärt lächelnd nachsieht. Sacré Tom Pillibi! Der Interpretenaustausch erwies sich als goldrichtige Strategie: Mademoiselle Boyer gewann den Contest in London, generierte mit dem ersten Uptempo-Siegersong beim Grand Prix einen europaweiten Topseller und legte damit den Grundstein für eine gut zehnjährige, internationale Gesangskarriere. Marcel Amont traf es nicht ganz so super: zwar landete er 1962 mit dem Südamerika-Schlager ‚Le Mexicain‘ zuhause seinen größten Hit, konnte danach aber keine kommerziellen Erfolge mehr erzielen, auch wenn er noch bis heute über die Bühnen tingelt. 1980 stand er nochmals auf der Auswahlliste für den gallischen Grand-Prix-Beitrag, kam aber wiederum nicht zum Zuge.
Aus heutiger Sicht tritt einem beim Anschauen ob des latenten Rassismus schnell der Schweiß auf die Stirn, aber in den Sechzigern galten noch andere Maßstäbe: Grimassenkönig Marcel mit dem französischen ‚Hossa‘ (Repertoirebeispiel).
Vorentscheid FR 1960
Interne Auswahl aus 38 Liedvorschlägen: Jacqueline Boyer – Tom Pillibi
Letzte Überarbeitung: 27.09.2020