Bis um 1 Uhr 45 in der Nacht dauerte es mal wieder beim portugiesischen Festival da Canção 2017, bis alle gefühlt 8.000 Honoratioren gebauchpinselt, sämtlichen Beiträgen der wenig glorreichen Grand-Prix-Geschichte des Landes die Hommage erwiesen sowie alle sieben regionalen Jurys abgefragt waren und das Ergebnis endlich feststand. Doch das Wachbleiben lohnte sich, denn die Wahl der Portugiesen, sie machte mich im Gegensatz zu so vielen Vorentscheidungen der letzten Wochen unendlich glücklich. Wie von mir und vielen internationalen Fans seit seinem ersten Vorentscheidungsauftritt vor zwei Wochen herbeigesehnt, gewann der zauberhaft verspult wirkende Salvador Sobral mit der völlig aus der Zeit gefallenen, hochgradig fragilen Prä-Disney-Liebesfilm-Ballade ‘Amar pelos Dois’ das Ticket nach Kiew. Allerdings nur mit Hilfe der Jury: das Publikum zog das rundheraus schrecklich Popera-Stück ‘Nova Glória’ von Viva la Diva vor, welches die hilfreichen Juroren vorsichtshalber auf Rang 5 setzten und damit den Sieg Salvadors, der im Televoting auf dem zweiten Rang landete, zementierten. Dankenswerterweise, denn von dem geschickt auf der Geschmacksgrenze zwischen Langeweile, Kitsch und Anspruch changierenden Lied geht, nicht zuletzt dank der selbstvergessenen, verschrobenen Vortragsweise des Sängers, eine geradezu magische Verzauberung aus. Jedenfalls, wenn man sein Herz dafür öffnet.
Das bekiffte Teletubbie: Salvador Sobral (PT)
Auch im gestrigen Finale erschien Salvador, der sich bereits vor seinem Semi-Auftritt wegen eines Nabelbruchs einer Operation unterziehen musste und zwischenzeitlich aufgrund nachträglicher Komplikationen nochmals im Krankenhaus lag, wieder im selben zerknitterten Oversized-Sakko und über die Jeans hängendem Hemd. Und obschon er gleich zum Auftakt mit technischen Problemen mit seinem In-Ohr-Kopfhörer zu kämpfen hatte, was er der Regie wild gestikulierend klar zu machen suchte, fand er schnell in seine so authentisch wirkende, halb autistische Performance. Die internationalen Lobpreisungen der letzten Wochen für seinen Titel und die stehenden Ovationen des Saalpublikums verliehen ihm merkliche zusätzliche Selbstsicherheit, und auch, als die Zuschauer/innen ihm in eine besonders fragile Stelle hinein zwischenapplaudierten und er halb erschrocken, halb entsetzt die Augen aufriss, meisterte er die Situation nonchalant. Da nahm man ihm noch nicht mal das besessene Kopfschütteln übel, mit dem er zwischendrin fast schon die Grenze zur Parodie überschritt. Der schönste und bewegendste Augenblick ereignete sich jedoch nach seiner Akklamation, als er seine Schwester, die den Titel schrieb (und die ihre Klamotten im selben Laden zu kaufen scheint), mit auf die Bühne holte und sie sich die Siegerreprise geschwisterlich teilten. Mit kleinen Holpern und Fehleinsätzen, welche die Darbietung nur noch bezaubernder machten. Ich hatte an dieser Stelle Pippi in den Augen.
So viel Liebe: Salvador und seine Schwester (PT)
‘Amar pelos Dois’, keine Frage, ist ein hoch riskanter Titel für den Eurovision Song Contest, der bereits jetzt die Fans in Lager teilt. Nicht jedem erschließt sich der sperrige Charme des Sängers, für viele wirkt der Auftritt eher wie eine Publikumsverarsche und das Lied einschläfernd. Und ich kann sie gut verstehen: entweder man schließt den sanftmütigen Kobold mit den Knopfaugen spontan in sein Herz – oder es werden sehr, sehr lange drei Minuten. Ob das bei einem europaweiten, unterhaltungswilligen Samstagabendpublikum zündet, ob der scheu wirkende Salvador die Magie des Augenblicks über den anstrengenden Probenmarathon der Eurovisionswoche in Kiew retten kann und ob die Fragilität seines Auftrittes nicht in der mit tosenden Fans gefüllten Halle ertrinkt, sind Fragen, deren Antwort erst die Zeit geben wird. Um so mehr ist die Sturheit und der Mut der Portugiesen zu bewundern, etwas derart Andersartiges zum größten Musikwettbewerb der Welt zu entsenden. Schließen möchte ich die Betrachtung des mit nur acht (bis auf den Sieger nicht weiter der Rede werten) Titeln bestückten Festival da Canção mit einem heiteren Moment, nämlich dem Finalauftritt von Celina da Piedade, dieser lieblichen Kreuzung aus Vanîa Fernandez (→ PT 2008) und Flor-de-Lis (→ PT 2009), deren Haar und Oberarme mit bunten Frühlingsblumen überquollen, so als habe sie sich gestern Abend noch mit ein paar örtlichen Bauernburschen in einer Blumenwiese gewälzt. Wie hübsch!
Be sure to wear some Flowers in your Hair: die zauberhafte Celina (PT)
Spannend wie selten: schafft Portugal damit den Finaleinzug?
- Auf jeden Fall: das ist anders, berührend und wunderschön, das bewegt die Herzen. Menschen werden es lieben. (59%, 80 Votes)
- Ich wünsche es mir mit jeder Faser meines brennenden Herzens, aber ich glaube es nicht. Zu Wenige haben Ohren und Augen für Schönheit. (16%, 22 Votes)
- Nicht in hundert Jahren! Dieses Monument der Langeweile zeigt ja wohl, dass Portugal gar nicht mehr ins Finale will! (13%, 17 Votes)
- Das mag ja alles ganz hübsch sein, ist aber bei einem Pop-Wettbewerb im Jahre 2017 falsch. (12%, 16 Votes)
Total Voters: 135
Für jemanden, der auch beim “kleinen Lord” immer ein oder zwei Tränchen verdrückt ist diese Wahl eine so unglaubliche Bereicherung des Starterfeldes. Hurra, ich habe 3 Titel, für die sich das Daumen-Halten sehr lohnt. Und diese Siegerliedreprise mit “Brüderlein und Schwesterlein” – also altes Herz, was will man mehr. Ist Portugal im 2. Semi?
Beschwer dich NIE MEHR WIEDER über Juries. ;D
Einfach toll. Endlich ist der ESC wieder in den 50ern angekommen, wo er gestartet ist! Ich wünsche es mir sehr, dass das wirklich weiterkommt.
Und genieße mit Genugtuung, wie der Hausherr hier sich windet und doch tatsächlich ein kaum verstecktes Lob auf die Jury raushaut.
Bin sehr zufrieden mit dem Wochenende (P und RO).
Oh, das ist sooo schön, mein Pippi in den Augen läuft ohne Ende! Wunderbarst, allerfeinst. Mein Glaube an das Gute im Menschen ist wieder hergestellt
Das wird die Überraschung des Jahres !
Ich muss auch mal sagen: als Jury-Hasser hättest Du nun auch die Publikumswahl ertragen sollen müssen 😉 Meins ist es nicht so