Neben dem maltesischen Finale fanden dieses Wochenende auch die ersten bzw. die dritten Vorrunden für die nationalen Vorentscheidungen Litauens und Ungarns statt. Im Baltenstaat lautete das Motto offensichtlich “skandinavischer Samstag”, denn alle Songs stammten – den Komponistennamen nach zu urteilen – aus schwedischer oder dänischer, jedenfalls aber nicht aus litauischer Feder. Einzige Ausnahme: ‘You bet’ von Aistė Pilvelytė. Den Titel schrieb die Interpretin und vielfache litauische Vorentscheidungsteilnehmerin nämlich selbst. Das macht ihn aber auch nicht besser: es ist ein zäher Propfen pseudodramatischen Balladenschleims, den sie mit der gesanglichen Feinfühligkeit einer Dampfwalze zerknödelt. Natürlich – fast schon unnötig, es angesichts des bekanntermaßen völlig abseitigen Geschmacks der Litauer/innen zu erwähnen – gewann sie damit das gestrige Semifinale. Man fragt sich wirklich manchmal, was in der musikalischen Früherziehung in diesem Lande so fundamental schief gelaufen sein muss.
Wollen wir wetten, dass Sie diesen Schlonz keine drei Minuten aushalten? (LT)
Aistés Konkurrent/innen indes lieferten meist nicht viel Überzeugenderes ab. Da halfen auch die eingekauften Lieder wenig, die allesamt nach zweiter bis vierter Wahl klangen und zudem in der Regel miserabel interpretiert wurden. Immerhin ein Superlativ konnte die Eurovizijos dennoch bieten: die Bübchen-Boyband E.G.O. schaffte es, mit ihrem unbeholfenen, hölzernen Synchrontanz gar das Peinlichkeitslevel der deutschen Bibelkreis-Band Normal Generation (Vorentscheid 2002) zu überbieten. Und das ist nun wahrlich keine leichte Aufgabe! Einen amüsanten Ausflug in die goldene Pop-Vergangenheit unternahm die Sängerin Baiba, die auf den Pfaden Madonnas in ihrer Anfangsphase, so circa 1983, wandelte. Wobei ‘HoliMayday’ als Song und (steckensteife) Performance so wirkte, als sei Karaokeabend beim Landfrauenbund. Sie rutschte gerade noch so in die nächste Runde. Letzten Endes können aber alle gestern weiter Gekommenen dem Vorentscheidungsfavoriten Donny Montell nicht das Wasser reichen.
Dieses Outfit dürfte allerdings selbst in den Achtzigern nur in einem Paralleluniversum hip gewesen sein (LT)
Das musikalisch ergiebigere Feld bestellten währenddessen die Ungarn. Dort traten in der ersten von drei Vorrunden von A Dal die ersten zehn Konkurrent/innen gegeneinander an. Sieger im kombinierten Jury- und Televoting wurde Gábor Alfréd Fehérvári alias Freddie. Der überzeugte mit fitter Figur, geiler Gesichtsbehaarung (mal vom Bart abgesehen, der alleine mich schon zu ellenlangen Lobpreisungen animieren könnte: auch dem herrlichen Spiel seiner Augenbrauen möchte ich Stund’ um Stund’ mit Wohlgenuß zuschauen!), süßen Stehöhrchen, Augen zum tief drin Versinken und einer wunderbar angerauten Stimme. Wie bitte, was? Der Song? Da war auch ein Song? Sorry, hatte ich gar nicht wahrgenommen während seiner drei Minuten. Gut, da Sie mich jetzt schon drauf ansprechen, und um meinem Anspruch als investigativer Eurovisionsreporter gerecht zu werden, habe ich mir ‘Pioneer’ noch mal im Blindtest angehört. Joa, nett. Es braucht einen Moment, um herauszufinden, dass Freddie auf Englisch singt. Und einen Innovationspreis gewinnt das formatradiotaugliche, streckenweise stark von den Backings getragene Liedchen jetzt nicht unbedingt. Aber als audiovisuelles Gesamtpaket kann es punkten, denn da ist Freddie so etwas wie die Scruff-Variante von Måns Zelmerlöw.
Mmmh, Freddie mit Marco Mengoni (IT 2013) in einem gemeinsamen Erwachsenenunterhaltungsfilm: das wäre Perfektion! (HU)
Die beste Show bot Reni Tolvai, die auf der Bühne mit einem gigantischen Fallschirm und einer Backing-Truppe in American-Football-Kostümen visuelle Anker setzte und sich für ihren Auftritt mit einem um die Hüften geschlungenen fliegenden Teppich, Patronengürteln und einem Atom(bomben)busen bewaffnete. Schade nur, dass ihr Song ‘Fire’ so grausam klingt. Eine gute Nummer gab’s aber auch noch: ‘Uncle Tom’ von Mushu. Gut, bei dem Songtitel tritt einem natürlich im ersten Reflex blitzartig der antifaschistische Schweiß auf die Stirn, gerade noch wenn er aus dem Land der Magyaren kommt. Und in der Tat nutzt die Band die kulturelle Referenz, um auf sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse hinzuweisen, die sich seit dem bedingungslosen Sieg des Turbokapitalismus krebsartig in ganz Europa ausbreiten. Glücklicherweise jedoch ist der Leadsänger von Mushu schwarz, so dass auch das gospelhafte “Let my People go”, das im Liedtext auftaucht, durchgeht. Das beste aber: der Song rockt! Das bitte ins A Dal-Finale, liebe Ungarn, zusammen mit Freddie!
Ich hoffe nur, der Pelzkragen ist falsch, sonst wirkt der Anti-Sklaven-Appell ein wenig unglaubwürdig! (HU)
“You bet” habe ich drei Minuten lang ausgehalten. Und hey, wenn das von jemandem performt würde, der tatsächlich singen kann, dann könnte das ne richtig große und epische Nummer werden. Aber leider singt es ja nur Frau Pilvelyte.
Bei ihrem Vortrag hatte ich im Moment der seeehr langen Pastora Soler-Gedächtnis-Note irgendwie den Eindruck, als hätte jemand heimlich kurz mal das Playback angeschmissen. Oder irre ich mich da?
Ja, dass das live ist, kauf ich ihr auch nicht ab. Möglicherweise ist die Note technisch “verlängert”, also live angesungen und dann geloopt. Das könnte sogar nach den EBU-Vorschriften legal sein.
Aistė Pilvelytė und “You bet” – für mich ein Fall für die UN-Menschenrechtskommission. “Suus” seinerzeit von Rona Nishliu in Baku war zumindest “Kunstgesang”, der virtuos dargeboten wurde, aber hier – sturkturloses Gekreische und ein brettharter Dralon®-Rock – geht einfach nicht! Uuaaah. Erster Zug der Geisterbahn!
O je, Jamie-Lee Kriewitz (“Ghost”) tritt für Deutschland auch in so einem Moosgummi-Rock an!