Vor wenigen Minuten stellte das griechische Fernsehen ERT den Videoclip des hellenischen Eurovisionsbeitrags 2016 in einer TV-Show vor. Wie schon länger bekannt, vertritt in diesem Jahr die nach dem Helden der mythischen Argonautensage eigens für den Contest in Argo umbenannte Band Europond das Land. Der Name weist den Weg: trotz stürmischer Zeiten, unsicherer Gewässer und den von einem übermächtigen Gegner in den Weg gelegten, unüberwindbar scheinenden Gefahren will man sich nicht davon abbringen lassen, das Goldene Vlies holen. Diese trotzige Tollkühnheit prägt auch ‘Utopian Land’: die auf griechisch und pontisch vorgetragenen Strophen beschäftigen sich mit der aktuellen, aussichtslos erscheinenden Lage des Landes, das mit den massiven Folgen der Bankenkrise und dem Elend der vor den Zäunen der Festung Europa gestrandeten Flüchtlinge völlig alleine gelassen wird. Die kompromisslos ethnolastige, von einem stolpernden Beat unterlegte Musik unterstreicht die Düsterkeit des Vortrags, der im (zum restlichen, stellenweise durchaus fordernden Lied) vergleichsweise eingängigen, englischsprachigen Refrain von einer hoffnungsvollen Utopie aufgefangen wird. Keine Frage: ich finde es großartig!
Jason auf der Suche nach dem Goldenen Vlies. Wird er es finden?
Mit ‘Utopian Land’ zelebrieren die Griechen eine radikale Abkehr vom (auch von mir) heißgeliebten und erfolgreichen, gefälligen Dance-Pop mit lediglich zur Verzierung angebrachten Ethno-Elementen der letzten Jahre und präsentieren eine musikalisch stärker in der eigenen Kultur verwurzelte, kämpferische Klage gegen die schier unglaubliche Last, die dem Land derzeit von einer uneinigen und von Egoismen zerfressenen Europäischen Union aufgebürdet wird. Dennoch macht es mit der Einladung an das gemeinsame Tanzen und Feiern ein friedliches und Hoffnung stiftendes Angebot an uns alle. Es erinnert ein wenig an das ähnlich konzipierte ‘Watch my Dance’ von Loukas Giorkas und Stereo Mike (GR 2011) oder, ganz aktuell, an Jamalas nicht minder anklägerisches ‘1944’ (das übrigens gestern vonseiten der EBU korrekterweise den Freifahrtschein erhielt, da es keine unzulässigen politischen Aussagen enthalte), beides ebenso fantastische und essentielle Nummern wie ‘Utopian Land’, von denen der Wettbewerb nie zu wenige haben kann. Ob die beim Song Contest in diesem Jahrtausend erfolgsverwöhnten Griechen mit diesem Beitrag die Qualifikation schaffen, erscheint mir aufgrund der bewussten Sperrigkeit des Titels allerdings fraglich, obwohl ich ihnen dafür natürlich sämtliche zur Verfügung stehenden Daumen drücke.
Im Vergleich zu Argo etwas glamouröser: Loucas Yiorkas & Stereo Mike (2011).
Die Textübersetzung offenbart einen schönen Sinn für surrealen Humor. Die Verse lauten in etwa (sofern in der Übersetzung aus dem pontischen Dialekt über das Englische ins Deutsche nichts verloren ging): “Planet Erde, 2016 / Was auch immer sie tun / Unsere Generation hält das aus / In meiner Jugend selbst ein Flüchtling / Schaue ich zurück, aber schreite vorwärts / Ich stehe morgens auf, treffe die Jungs / Wir brennen und gehen auf die Reise nach Utopia / In diesem Teil der Welt haben wir keinen Stand / Gehen wir und machen wir auf der anderen Seite ein Fass auf”. Die Flüchtlingreferenz bezieht sich wohl auf den ethnischen Hintergrund der Bandmitglieder als Pontosgriechen, einem ehemals an der türkischen Schwarzmeerküste angesiedelten Volk mit hellenischen Wurzeln, das in den Zwanziger Jahren nach Griechenland floh oder umgesiedelt wurde. Weiter heißt es: “Hop hop, das ist unser Hip-Hop / Wir haben Tickets und fahren zum Flughafen / Wir warten volle zwei Stunden auf den Air-Bahal-Flieger / Ich hol die Gürkchen raus und Kostas die Flasche / In fröhlicher Runde trinken wir Wodka und was immer der Tag noch bringt / Oma röstet Anchovis / Wir boarden tanzend / Nun dauert es nicht mehr lange / Es ist düster hier und wir reisen in Richtung Sonnenaufgang”. Air Bahal bezieht sich auf eine fiktive Billig-Fluglinie aus einem populären TV-Spot für ein griechisches Internet-Flugportal. Zusammenfassend lässt sich frei nach Billy Wilder sagen: die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst. Und ich liebe den Song immer mehr!
Jede Ähnlichkeit zu Ryan-Air-Flügen ist zufällig und nicht beabsichtigt.
Hat Griechenland mit ‘Utopian Land’ Chancen aufs Finale?
- Sicher, und zu Recht. Der Song ist rundheraus fantastisch, inhaltlich wie musikalisch. Respekt! (62%, 50 Votes)
- Erstmalig nicht, und aus gutem Grund. Dieses schräge Gedudel ist so angenehm wie Zahnschmerz. Weg damit! (22%, 18 Votes)
- Lebten wir in einem Utopia, dann ja. Tun wir aber nicht, leider. Also nein. (16%, 13 Votes)
Total Voters: 81
Hmm. Beiträge mit einer derartigen politischen Botschaft haben prinzipiell immer meine Sympathie, auch finde ich es gut, dass man musikalisch und sprachlich eine klare Identität heraushört.
Aber der Song insgesamt reißt mich leider noch nicht so vom Hocker (auch wenn ich ihn selbstverständlich um Klassen besser finde als den grässlichen von Dir zum Vergleich herangezohgenen “George Lukas” mit seinen Bodenturnern).
Und vermutlich wird das wohl auch vielen anderen so gehen. Aber ich werde versuchen, es mir schönzuhören.
Ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll. Auf der einen Seite nicht so fröhlich wie “Alcohol is free”, geht dem Lied auf der anderen Seite aber auch die grandiose Dramatik von “Watch my Dance” ab.
Gut getextet! Gut gedacht und leider auch – gut gemeint. Mitleid kriegt man geschenkt. Neid (in diesem Fall: die ESC-Krone) muss man sich verdienen. Das wird mit diesem Jammerlappen von Song – so Recht die Jungs und Mädels von Argo auch haben – leider nicht gelingen. Das ist nichts für die Ohren von 2016 und auch nichts für einen Show-Abend, der das Event ja immer noch darstellt.