Wenn man der aktuellen Eurovisionskönigin Jamala eines sicher nicht vorwerfen kann, dann, dass sie mit ihrem Beitrag ‘1944’ einen besonders schnellen Euro machen wollte. Ganze vier Monate nach ihrem Sieg in Stockholm veröffentlichte das vielschichtige ukrainische Ausnahmetalent vorgestern das offizielle Musikvideo zu ihrem Song, der sich – anders als vorangegangene Grand-Prix-Gewinnertitel – bislang eher nicht so wirklich dicke in den europäischen Hitlisten tummelte und durch den nunmehr verfügbaren Clip vermutlich auch keinen neuen Schub mehr erhalten wird. Doch bei allem naheliegenden Spott über das schräge Timing Jamalas: jahreszeitlich schmiegt sich die nebelverhangene Visualisierung ihres eindringlichen Klageliedes perfekt an den leider nicht mehr länger abstreitbaren kalendarischen Herbstbeginn. Sowohl die alptraumhafte, klaustrophobe Sequenz in einem bunkerartigen Tunnel, als auch die spärlichen, fahlen Außenaufnahmen mit verstörten, zombiehaft agierenden Menschengruppen vor entlaubten Bäumen und kriegszerstörten Gebäuden fangen die deprimierende Atmosphäre des bevorstehenden, schlimmen Halbjahres ein – und unterstreichen perfekt den traurigen Grundton des tatsächlich eher in den Herbst als in das Frühjahr passenden Songs und seiner Botschaft über die schreckliche (und universelle) Grausamkeit von Krieg, Leid und Vertreibung. Da wir laut unserer Kanzlerin ja aktuell im “postfaktischen” Zeitalter leben, wo Vernunft keine Rolle mehr spielt, sondern nur noch anhand von Gefühlen entschieden wird: vielleicht sollte man die Wähler/innen und Politiker/innen von AfD und CSU mit diesem Video zwangsbespielen, in der vagen Hoffnung, in deren versteinerten Herzen doch noch so etwas wie Empathie für Menschen zu wecken, die hiervor zu uns fliehen?
Nein, das ist kein Tunnelrave: Jamala nebst Tänzer/innen im ‘1944’-Clip.