Es ist eine Gewissensentscheidung, die man als leidenschaftlicher Eurovisionsfan während der Vorentscheidungssaison treffen muss: schaut man Sonntagsabends um 20:15 Uhr weiterhin den Tatort, wie es sich für einen ordentlichen Deutschen verpflichtend gehört? Oder lässt man den kollektiven TV-Gottesdienst sausen, um sich leichtfertig den Verlockungen des rumänischen Vorentscheidungsmarathons, der Selecția Națională (SN) hinzugeben, die seit vorvergangenem Sonntag für eineinhalb Monate zeitgleich läuft? Nun, als echter Connaisseur des Abartigen fällt die Antwort natürlich leicht! Erst recht in diesem Jahr, in dem der Sender des Karpatenstaates aus Anlass des hundertjährigen Geburtstags Rumäniens in seiner heutigen Ausdehnung das Format auf fünf Semifinale mit insgesamt 60 Liedern ausgedehnt hat. Und, wie um den Entzug leichter zu gestalten, wartete das gestrige zweite SN-Semi mit einer Morddichte auf, mit der noch nicht mal der legendäre Murot-Tatort ‘Im Schmerz geboren’ mithalten kann. Nur, dass man im Nationaltheater von Timişoara (Temeswar), wo die Show gastierte, keine Schauspieler reihenweise dahinmetzelte, sondern Töne.
Ein Verbrechen gegen die Musik: Alessandro Dănescu stranguliert seinen Beitrag.
Alleine schon der in einem peinlichen Glitzerblouson auftretende Alessandro Dănescu, der sich an einer fahlen Modern-Talking-Hommage versuchte, richtete eine kaum überschaubare Anzahl an Gehörnerven zugrunde, weil er die wichtigste Regel des in Rumänien scheinbar unausrottbaren Falsettgesangs missachtete, die da lautet: wenn schon fisteln, dann aber auch alle Noten treffen, sonst wird es für den Zuhörer schmerzhaft. Allessandro, dessen drogenverhangener Blick bereits das Schlimmste befürchten ließ, schoss stets meilenweit vorbei. Da boten auch die subtil homoerotischen Momente seiner Choreografie nur wenig Trost, als er nach frisch vollzogener Trennung (‘Breaking up’) von seiner erleichtert am Bistrotisch zurückbleibenden Sandprinzessin hin zu seinen anmutigen Backgroundtänzern flüchtete. Überhaupt entzückte der gestrige Abend mit einer vorbildlich hohen Anzahl durchtrainierter Tänzer, die ein klein wenig für die sich ob der gesanglichen Leistungen wie von selbst aufrollenden Zehennägel entschädigten.
In Rumänien scheint eine akute Oberhemdenknappheit zu herrschen. Wie wunderbar!
So wie beispielsweise beim Duo Endless, dessen gar nicht mal so unattraktiven Sänger man beinahe übersah, weil direkt hinter ihm und seiner blonden Ische drei hemdenlose Herren in offenen Sportsakkos den Sakis (→ GR 2009) gaben und konvulsiv mit ihren tadellosen Sixpacks zuckten. Sehr unterhaltsam! Schade nur, dass Maria Grosu, die blonde Ische, stellenweise mit ihrem Text deutlich der Musik (und der Chorsängerin) hinterher hing. Kein Wunder, dass die Beiden bei der fünfköpfigen Jury durchfielen, so wie auch ihre direkt nachfolgende Konkurrentin Meriem, die nicht nur mit schrägen Lyrics verblüffte (“Dont make Decisions / when in your Grave”), sondern auch mit durchgehend schrägen und teils harsch gebellten Tönen. Die aufgrund des musikalischen Aufbaus ihres mediterranen Discoschlagers eminent wichtige Zusammenarbeit mit ihren beiden Backings gestaltete sich in etwa so harmonisch wie die Stimmung auf der legendären Trennungs-Pressekonferenz von Tic Tac Toe. Da konnten auch die zwei Breakdancer nichts mehr herausreißen, zumal diese ihre Shirts anbehielten. Konsequenterweise ging Meriem punktefrei aus.
Die Schlacht dürfte auf dem Weg zurück in den Green Room erst so richtig ausgebrochen sein zwischen Meriem und ihren Chormädels. Fürs Protokoll: die Frontfrau sang schief, nicht die Backings.
Dennoch sorgten die Entscheidungen der alleine stimmberechtigten Jury für Kopfschütteln. Drei Songs durfte sie durchlassen ins SN-Finale. Oder, präziser gesagt: mussten sie durchlassen, denn keinen einzigen der zwölf Wettbewerbsbeiträge aus Timişoara mochte man ernsthaft noch einmal hören. Weder das uninspirierte, winselnd intonierte Midtempo-Gewimmer ‘Heaven’ des erschreckend krank ausschauenden Mihai Trăistariu (→ RO 2006), der offensichtlich nur aufgrund seines Namens weiterkam; oder weil die Juroren sich vor der Rache der schnell beleidigten Diva fürchteten, wer weiß. Noch die verstaubte Rockballade ‘We are one’ des ziegentimbrig-krächzenden Rafael (wer?), optisch eine das Auge beleidigende Kreuzung aus acht Teilen Dado Topić (→ HR 2007) und zwei Teilen Rona Nishliu (→ AL 2012), die textlich ausschließlich auf die abgehangensten und altmodischsten Klischees aus dem großen Bernd-Meinunger-Baukasten für abgegriffenen Weltfriedenskitsch zurückgriff. Und die in ihrem übertrieben pathoshaften Vortrag wie eine besonders perfide Parodie auf die dunklen Jahrzehnte des Grand Prix wirkte. Nur, dass sie wohl völlig ernst gemeint war.
Was klebt da bitte an Rafaels Hinterkopf? Sind das Fliegenfänger? Oder sollen das ernsthaft Miniatur-Dreadlock-Strähnchen sein? WTF?
Unter all diesen Lied- und Gesangskatastrophen ragte der letzte Wettbewerbstitel um so mehr hervor: das als einziger Beitrag ohne jeglichen schiefen Ton auskommende ‘Auzi Cum Bate’, ein schlichtes Poprockstück wie aus einem San-Remo-Festival der Achtzigerjahre, beruhigte das gefolterte, blutende Ohr durch seine absolute Unauffälligkeit und wohltuende Durchhörbarkeit. Unter normalen Umständen hätte man den Song nach drei Minuten wieder vergessen, hier erschien er als Rettungsanker und versammelte dementsprechend die Höchstwertungen. Etwas merkwürdig lediglich die Namensgebung der Interpreten Jukebox + Bella Santiago: was klingt wie die Kollaboration zweier Eurodance-Crews, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als barfüßig performendes Heteropärchen. Die Entdeckung des Abends war jedoch die im Rahmenprogramm der Show auftretende und mir bislang völlig unbekannte Balkan-Schlager-Königin Neda Ukraden, eine 67jährige, in Belgrad lebende Legende, die seit den Siebzigern im Geschäft ist. Und offensichtlich ähnlich viel Geld in Schönheitschirurgie investiert wie Cher. Die glänzend aufgelegte Neda (könnt Ihr nicht die schicken?) präsentierte im Vollplaybackverfahren eine schmale Auswahl ihrer Hits, die noch in der Sonntagnacht allesamt in meine Sammlung wanderten. Und alleine dafür hat sich der Tatort-Verzicht schon gelohnt!
Moderation, Präsentation, Produktion, Songauswahl, Auszählung: TVR vergeigte wirklich alles, was ging. Und genau das macht die Show so sehenswert!
Vorentscheid RO 2018 (2. Semifinale)
Selecția Națională 2018. Sonntag, 28. Januar 2018, aus dem Teatrul Național Mihai Eminescu in Timişoara (Temeswar), Rumänien. 12 Teilnehmer/innen. Moderation: Cezar Ouatu und Diana Dumistrescu.# | Interpret | Titel | Jury | Platz |
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01 | Pragu de Sus | Te voi chema | 19 | 07 |
02 | Miruna Diaconescu | Run for you | 22 | 05 |
03 | Mihai Trăistariu | Heaven | 39 | 03 |
04 | Othello | Noi suntem pădure | 17 | 08 |
05 | Alessandro Dănescu | Breaking up | 15 | 11 |
06 | Jessie Baneş | Lightning strikes | 26 | 04 |
07 | Romeo Zaharia | Maybe this Time | 16 | 10 |
08 | Rafael & Friends | We are One | 40 | 02 |
09 | Serena | Safari | 17 | 09 |
10 | Endless + Maria Grosu | Thinking about you | 21 | 06 |
11 | Meriem | End the Battle | 00 | 12 |
12 | Jukebox + Bella Santiago | Azui cum bate | 58 | 01 |