Neben dem Finale der französischen Vorentscheidung Destination Eurovision wählten gestern Abend auch die Malteser/innen ihre Repräsentantin für Tel Aviv aus. Das notorisch grand-prix-begeisterte Eiland bediente sich in diesem Jahr erstmalig des britischen Castingshow-Formates X‑Factor, das sich für den Sender TVM als Einschaltquotenerfolg herausstellte, aber auch für Kontroversen sorgte: vergangenen Oktober kritisierte die maltesische Gleichstellungsbeauftragte Helena Dalli die Show und den Sendert öffentlich, weil ein Vorrundenteilnehmer dort unwidersprochen Werbung für die ethisch verwerfliche, wissenschaftlich widerlegte und seit 2016 auf der Insel illegale Konversionstherapie machen durfte, die ihn von seiner “sündhaften” Homosexualität “geheilt” habe. “Junge Menschen, die schwul sind, brauchen weder Vergebung noch Heilung,” sagte Dalli im Parlament, “sie brauchen Verständnis”. Korrekt! Das Finale von X‑Factor jedenfalls gewann die knapp 18jährige Michaela Pace, die bereits 2017 an der maltesischen Vorentscheidung teilnahm. Ihr Lied für Tel Aviv muss nun erst gefunden werden, ihre leicht kratzige, dunkel timbrierte Stimme lässt jedoch befürchten, dass es auf eine deprimierende Ballade hinausläuft.
So ‘Shallow’ (‘Oberflächlich’) wie ihr Cover-Song wirkt auch die voll ins bisherige maltesische Interpretinnenschema passende X‑Factor-Gewinnerin Michaela Pace.
Das in einer reinen Publikumsentscheidung gefallene Ergebnis bestätigte einmal mehr, dass das im realen Popleben seit mehr als vierzig Jahren fest etablierte Genre des Hip-Hops beim Grand Prix vollkommen chancenlos ist: im finalen Zweikampf standen sich Frau Pace und der selbsterklärte Eminem-Eleve Owen Leuellen gegenüber, der eine überzeugend gerappte Neubearbeitung eines maltesischen Songklassikers aus den Siebzigerjahren präsentierte, in dem ein getrennt lebender Vater die Mutter um einen Neuanfang bittet und dabei an die Verantwortung für das gemeinsame Kind appelliert. Doch selbst der familiäre Bezug half nichts: die saccharinsüße Michaela setzte sich klar gegen den Schnauzerträger durch. Neben dem Ticket nach Tel Aviv gewann sie einen Plattenvertrag mit Sony Italia – vermutlich, wie man diese Durchlauferhitzersendungen kennt, befristet auf die erste Single. Ein Neuanfang, den der Formatwechsel bringen sollte, sieht irgendwie anders aus.
So sieht Street Credibility auf Malta aus: Owen Leuellen.
Parallel startete gestern Abend die erste Vorrunde der lettischen Supernova, diesmal ohne den Riga-Biber als Pausenclown, denn der nimmt dieses Jahr am Wettbewerb teil, wenngleich leider ohne Kostüm. Und natürlich ist keine Supernova komplett ohne einen Song aus der Feder von Aminata Savadogo, deren kompositorischer Stern allerdings langsam zu sinken scheint: ihr von einem barfüßigen Jüngelchen namens Alekss Silvers (irgendetwas sagt mir, dass es sich hierbei nicht um seinen Geburtsnamen handelt!) vorgetragener Beitrag ‘Fireworks’ vermochte es nicht, beim Hörer ein solches zu entzünden, und schied kläglich wieder aus. Immerhin griff Alekss den in diesem Jahr offensichtlich virulenten, ebenfalls vom französischen Kollegen Bilal Hassani verfolgten choreografischen Trend zur zarten Frauenhand im Gesicht auf. Eine feine Verneigung vor dem Zeitgeist, der sich auch Konkurrent Edgars Kreilis anschloss, der mit seiner uptemporären Einladung auf einen ‘Cherry Absinthe’ seinen Landsleuten die Sinne ausreichend vernebeln konnte, um ins Semifinale weitergewählt zu werden. Und zwar zu Recht, anders als bei der Mitbewerberin Samanta Tīna, die lediglich seit Jahrhunderten abgegriffene “Fire / Desire / Wire”-Reime aufwärmte.
Das hat nun wirklich extremen Seltenheitswert: ein (potentieller) Eurovisionsbeitrag mit einem Fade-Out!
Ein Haus weiter, im benachbarten Litauen, ging bereits die (voraufgezeichnete) dritte Vorrunde der Nacionalinė Eurovizijos Atranka über die Antennen und machte der Reputation des Baltenstaates als das Irrenhaus Europas erneut alle Ehre. Ein Quartett namens Laimingu Būti Lengva (sinngemäß: doof, aber glücklich) landete vollkommen punktefrei auf dem geteilten Platz, bei dem sich ein fusselbärtiger junger Hipster und ein schätzungsweise Siebzigerjähriger mit Seemannsmütze die Arbeit am Mikrofon teilten. Ihr vollkommen nutzloser Beitrag war nur einer von vielen, die unter Beweis stellten, dass der Sender LRT nun wirklich ausnahmslos jeden nimmt, der sich bewirbt und keinerlei Auslese trifft. So wie beispielsweise einen jungen Mann namens Kali Talutis, der sich für seinen Auftritt gestylt hatte, als singe er der weißrussischen Auswahljury vor, wohl wissend, dass er nach 20 Sekunden das gefürchtete “Spasiba!” erhält: in Jeansjacke, roter Hochwasserhose und weißen (!) Tennissocken (!) schaukelte er o‑beinig über die Bühne und nahm mit der Titelzeile “We don’t belong together” das zu erwartende Urteil der Zuschauer/innen bereits vorweg.
Nein, das ist keine der “Lacht über den sich selbst überschätzenden Idioten”-Runden aus den DSDS-Castings. Das ist der litauische Vorentscheid.
Wobei es fast schon ungerecht erscheint, dass Kali ausschied, ein Song mit dem Titel ‘Ctrl + Alt + Delete’ (ja, ernsthaft) jedoch eine Runde weiterkam, ebenso wie die bereits mehrfach einschlägig in Erscheinung getretene Erica Jennings und ihr nerviges Publikums-Animations-Liedchen ‘Sing’. Für leichte Befremdung sorgte die Zweitplatzierte Monika Marija, die sich das Haar zu einem riesigem Spinnennetz flocht, wohl, um darin Punkte zu fangen. Hat funktioniert. Herrlich bizarre drei Minuten bescherte uns das natürlich ebenfalls ausgeschiedene Hip-Hop-Duo 120 (sicher, dass ihr nicht 300 Ziffern mehr nennen wolltet?), das in Pluderbuxen und roten Strumpfhosen über die Bühne tollte und sich zwischendrin besprang. Und daneben unter Beweis stellte, dass Litauisch nicht zwingend die geeignetste Sprache zum Rappen ist. Besonderes Comedy-Highlight: die am Bühnenrand stehenden und vermutlich senderseits gestellten Chorsängerinnen, die ihre Gesangsparts vom Blatt ablesen mussten, um bei der Textmenge nicht durcheinander zu kommen.
Nehmen den englischen Begriff “Artist” im Wortsinne: 120.
Erwähnung verdient zudem das laut Wikipedia seit 2006 bestehende Sextett Antikvariniai Kašpirovskio Dantys (Antike Zähne aus Kaschmirow, falls der Google-Translator nicht lügt), ein sehr offensichtlicher Comedy-Act in der Tradition von Kreisiraadio. Nicht so sehr wegen der albernen Verkleidung in Trainingsanzügen, goldenem Stirnband und einem als Röckchen umgehängten Tischdeckchen oder dem noch alberneren Herumgehampel der sechs Jungs, sondern wegen ihres luftquetschen- und blechbläserlastigen Balkanbeat-Stampfers ‘Mažulė’ (‘Baby’). Der ist nämlich gar nicht mal so schlecht für einen Spassbeitrag und kam auch eine Runde weiter. Allerdings verblasst sein Unterhaltungsfaktor extrem gegen die isländische Industrial-Kapelle Hatari (die Hassenden), die sich neben Friðrik Ómar und Hera Björk auf der Teilnehmerliste des isländischen Söngvakeppnin 2019 befindet, laut meiner dortigen Gewährsfrau selbst auf der einwohnerarmen Insel zum musikalischen Underground zählt und für ihre düsteren Texte und Kostümierungen bekannt ist. ‘Hatrið mun sigra’ (‘Der Hass wird siegen’) heißt ihr Song und klingt angesichts der aktuellen Lage der Welt leider ausgesprochen prophetisch. Weitere Textproben: “Die Liebe wird sterben”, “Es gibt keine Freude mehr”, “Europa wird fallen”. Und das aus dem laut UN-Statistik viertglücklichsten Land der Welt!
Das kommt davon, wenn sich Vorentscheidungs- und Faschingssaison überkreuzen.
Freundliche Zeitgenossen: Hatari aus Island (Audio).
Wo wir es gerade von aggressiv aufspielenden Männern haben, liegt die Überleitung nach Ungarn auf der Hand, wo in der gestrigen zweiten Vorrunde von A Dal mit der Hardrockband Fatal Error der erste auch nur annähernd interessante Act des magyarischen Vorentscheids 2019 das reine Juryvoting gewann. Und zwar mit Recht. ‘Kulcs’ (‘Schlüssel’), ihr Song, besticht durch gradliniges Gebretter, zu dem sich wunderbar headbangen lässt, was die langhaarigen Bombenleger der Band auch fast so ausgiebig taten wie die aktuelle Dschungelcamp-Gewinnerin Evelyn Burdecki beim allmorgendlichen Haaretrocknungs-Ritual. Die Nummer erfindet das Genre nicht neu, rockt aber wenigstens hart und lässt damit aus dem Stand alles bislang in der A‑Dal-Saison Gezeigte alt aussehen. Und ja, damit meine ich ausdrücklich auch den einstmals so aparten András Kállay-Saunders, dessen Kopf so langsam vom immer dicker werden Hals aufgefressen zu werden scheint. Und der mit seinem neuen Duo The Middletonz genau so einen Seich ablieferte, wie der unoriginelle Bandname es befürchten ließ. Es scheint, dass Ungarn mit dem dortigen Ende der Pressefreiheit und der Demokratie auch die Kreativität abhanden gekommen ist.
Übrigens: der Drummer gehört mir!
Man fragt sich wirklich jedes Jahr aufs Neue auf welchem Planeten Litauen eigentlich liegt.
Aber es wäre in der Tat kein ESC komplett ohne ungarischen Rock.