“Der feuchte Traum eines jeden Gutmenschen”, so stand es in diesem Blog vor vierzehn Tagen über Bilal Hassani zu lesen, als dieser das erste Semifinale des französischen Vorentscheids Destination Eurovision 2019 gewann: “die LGBTI*-Ikone ist jung, multikulturell, genderfluid und kämpft mit selbstbewusstem Trotz und künstlerischem Können gegen alle Anfeindungen”. Vor allem aber verfügt der 19jährige Youtube-Star mit den franko-marokkanischen Wurzeln augenscheinlich über eine sehr große, anruffreudige Fan-Gemeinde: mehr als ein Drittel aller SMS- und Telefonstimmen entfielen im gestrigen Finale der Destination an seinen von ihm und den letztjährigen französischen Vertretern Madame Monsieur gemeinsam verfassten Titel ‘Roi’. Damit gelang es Bilal spielend, die Schmach aus der Wertung der zehn internationalen Juroren (darunter der deutsche Head of Delegation, Christoph Pellander) auszuwetzen, die ihn auf den fünften Platz verbannt hatten. Möglicherweise auch, weil er gestern deutlich heiserer und aufgeregter klang als noch im Semi und auch den entscheidenden langen hohen Ton im letzten Refrain ein bisschen versemmelte. Doch die Fans, die ihn zum Gesamtsieg pushten, schien das nicht zu stören: sie hielten zu ihrem Idol und seiner Message.
Ist es eine Krone? Ist es ein Heiligenschein? Ist es ein Hirschgeweih? Jedenfalls braucht jeder ESC-Fan, der auf sich hält, ab sofort ebenfalls zwei Freunde als Flankenschutz und Handkronenfalter (Clip vom Gastauftritt beim ukrainischen Vorentscheid).
Und die ist ja auch erbaulich. Zwar erzählt der androgyne Bilal im Grunde genommen die selbe Geschichte wie schon sein großes Idol Conchita Wurst, nämlich das von der Selbstermächtigung des Andersartigen, der aus der Ablehnung der Gesellschaft die Kraft für seine Einzigartigkeit schöpft. Aber die kann schließlich nicht oft genug erzählt werden und bleibt stets aktuell. Interessanterweise eröffnete der ausrichtende Sender France 2 den Abend denn auch damit, dass alle acht Finalist/innen gemeinschaftlich ‘Rise like a Phoenix’ zum Besten gaben (beziehungsweise niedermetzelten), so als habe man das Ergebnis bereits vorausgeahnt. Oder gar bewusst herbeiführen wollen? Zugleich legte der Sender mit diesem Direktvergleich die Schwachstelle des am Ende des Abends gekrönten Beitrags offen, denn ob Bilals zweisprachiger Popsong die Botschaft auch in Tel Aviv in die Herzen der Zuschauer/innen tragen kann, dahinter gilt es, ein Fragezeichen zu setzen: mit der immensen Strahlkraft der österreichischen Eurovisionskaiserin können er und seine Komposition nicht ganz mithalten.
Subtil: die vier aussichtsreichsten Favorit/innen auf den Destinations-Sieg durften die erste Strophe und der ersten Refrain alleine singen, erst dann ließ man auch die Underdogs als Choristen mit auf die Bühne.
Da hätte der Liebling der internationalen Juroren, nämlich die fragilstimmige Seemone und ihre mit tränenfeuchten Augen vorgetragene, sanfte Bitte um mehr gemeinschaftliche Zeit mit ihrem Papa, mit der sie im zweiten Semi sensationell abräumte, vermutlich bessere Chancen gehabt. Doch die landete mit lediglich etwas mehr als einem Drittel der Stimmen von Bilal auf dem dritten Rang im Televoting, ganz knapp hinter der langjährigen französischen Poplegende Chimène Badi. Diese bezauberte mit dem zur Einstimmung (wie schon in den Semis musste auch im Finale jeder der acht Interpret/innen vor dem eigenen Beitrag noch einen Klassiker covern) geschmetterten ‘Ne partez pas sans moi’ fast noch einen Tick mehr als mit dem eigenen Beitrag ‘Là-haut’, der wegen mir zwar gerne ab sofort in Heavy Rotation auf ESC Radio laufen dürfte, dem aber bei aller Qualität der Komposition und Darbietung das letzte Quäntchen Je ne sais quoi fehlte. Seemone versuchte sich hingegen etwas weniger überzeugend am letzten französischen Siegertitel ‘L’Oiseau et l’Enfant’ der kaum wiederzuerkennenden, frisch und wach wirkenden Eurovisionslegende Marie Myriam, die der Sendung ebenfalls die Aufwartung machte.
Interessanter Kontrast, aber vielleicht nicht die glücklichste Wahl: Seemones zerbrechliche Adele-Stimme wird der Dynamik des Siegersongs nicht gerecht.
Ein sehr lustiger Stimmensplit zwischen Tele- und Juryvoting ließ sich bei Silvàn Areg beobachten: der Sprechgesangskünstler, der seine Ode an die Zeichentrickfigur ‘Le petit Nicolas’ aufgrund urheberrechtlicher Streitigkeiten mit den Erben des Zeichners René Goscinny im Finale in ‘Allez leur dire’ umbenennen musste, kann als Musterbeispiel für die These dienen, dass der Prophet im eigenen Land nichts gilt. Trotz seines etwas holprigen Flows versprühte die Nummer und sein charmanter Auftritt in der wegen besagtem Rechtsstreit noch flugs ausgetauschten Comic-Kulisse ein überwältigendes, wirklich typisch französisches Flair. Fanden jedenfalls die meisten Nicht-Franzosen: bei den internationalen Juroren landete Silvàn mit einigen Höchstwertungen auf dem zweiten Rang. Von seinen Landsleuten erfuhr er weniger Wertschätzung: im Televoting erhielt er nur ein Drittel so viele Stimmen wie von den Juroren. Die im Prinzip gar nicht verkehrte Idee mit der internationalen Jury erwies sich insgesamt als ein schlechter Witz, weil diese pro Land mit jeweils nur einer einzigen Person besetzt war und diese ihre Stimmen natürlich dementsprechend völlig zufällig verteilten.
Lässt das Herz aller Frankophilen höher schlagen und hätte vermutlich international abgeräumt: Silvàn Areg. Doch solange die Franzosen mit abstimmen dürfen, werden sie so etwas niemals senden (die Live-Clips aus der Show hat das geistig komplett derangierte französische Fernsehen sperren lassen. Mourir, les bêtes!).
Zudem blähte das Verlesen aller zehn Einzelwertungen die Votingsequenz auf eine knappe Dreiviertelstunde aus, verursacht auch durch den ungehemmten Rededrang einiger Jurorinnen wie der ebenfalls kaum wiederzuerkennenden Rona Nishliu aus Albanien. Sollte sich noch immer jemand beklagen, dass beim Eurovision Song Contest nur noch die Douze Points verlesen werden und nicht mehr die komplette Wertung, möge er sich bitte diesen Clip in voller Länge anschauen, und dann reden wir nochmal drüber. Der Barbara-Dex-Award des gestrigen Abends geht an die französischen Rounder Girls mit dem Projektnamen The Divaz. Im Semi noch in ansprechend aufmerksamkeitsstarke, knallrote Lackkorsetts gequetscht, kamen sie diesmal als roséfarbene, singende Bonbonnieren daher und erinnerten stark an die ähnlich verunstalteten Moje 3, die serbischen Heulbojen von 2013. Besonders apart stachen die diamantenen Nippelverzierungen ins Auge. Für einen weiteren Fremdschämmoment sorgte der Sieger Bilal Hassani mit seinem Cover-Song, entschied er sich doch für Eleni Foureiras ‘Fuego’, über das er stimmlich wie performatorisch einen die Flamme erstickenden Schaumteppich ausbreitete. Und noch nicht mal die Haare ließ er fliegen, wie es sich für die Nummer zwingend gehört. Buh! Ansonsten aber, man möge mir meine Altersmilde nachsehen, präsentierte uns das französische Fernsehen gestern einen starken Liederabend. Für meinen Geschmack hätte tatsächlich jeder der acht Destinations‑Finalist/innen das Ticket nach Tel Aviv verdient.
Eine der wenigen (noch nicht) gesperrten Clips der Destination: La-Haut.
Nachtrag: In einem Interview einen Tag vor dem Destinations‑Finale erzählte die Teilnehmerin Chimène Badi, dass sie Todesdrohungen erhalten habe, für den Fall, dass sie zum Eurovision Song Contest nach Tel Aviv fahre. Diese stammten wohl aus dem Umfeld der anti-israelischen BDS-Bewegung, die einen Boykott des Wettbewerbs erreichen will. Beim französischen Vorentscheid stürmten sowohl im ersten Semi als auch im gestrigen Finale jeweils Demonstranten die Bühne, um eben diese Forderung vorzubringen. Badi sagte im Interview, dass sie als algerische Muslima sich freue, dass der ESC in Israel stattfinde und sich von den Drohungen keinesfalls einschüchtern lasse. Recht so!
Vorentscheid FR 2019 (Finale)
Destination Eurovision. Samstag, 26. Januar 2019, aus den Studios de France – Bât 217, Paris. 8 Teilnehmer:innen. Moderation: Garou.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Televoting | Platz |
---|---|---|---|---|---|
01 | Chimène Badi | Là-haut | 056 | 063 | 02 |
02 | Silvàn Areg | Allez leur dire | 076 | 026 | 05 |
03 | The Divaz | La Voix d’Aretha | 044 | 048 | 06 |
04 | Emmanuel Moiré | La Promesse | 064 | 051 | 04 |
05 | Doutson | Sois un bon Fils | 010 | 008 | 08 |
06 | Seemone | Tous les Deux | 094 | 062 | 03 |
07 | Bilal Hassani | Roi | 050 | 150 | 01 |
08 | Aysat | Comme une Grande | 026 | 012 | 07 |
Der Hausherr ist wirklich gnädig.
In jeder Beziehung ein mässiger Abklatsch von der Kaiserin.
Song ebenso wie Ausstrahlung wirken angestrengt und zu gewollt.
Tolle Musiker, super Schow, symphatische Juroren und Moderatoren.
Was will man mehr von einem VE?
Alles Gute für für Tel Aviv Bilal , du hast es verdient!!!
Mein Highlight des Abends war die Hommage an Michel Legrand (Nomen est omen)
der an diesem Abend im Alter von 86 Jahren verstorben ist. Eines seiner bekanntesten Lieder “Les moulins de mon coeur” wurde von Garou und Manoukian wunderbar vorgetragen:
Ich denke mittlerweile nicht mehr, dass man wirklich von einem Abklatsch sprechen kann. Die Message ist ähnlich, aber während Conchita Wurst im Grunde eine reine Kunstfigur war (wie auch Verka Serduchka eine ist), steht hier wirklich Bilal auf der Bühne. Da ist eher ein Vergleich mit Dana International angebracht.
Ich finde Bilal jedenfalls sehr sympathisch und es ist schade, dass der Song nicht stärker ist. Ich musste den ein paar Mal hören, bis er mir gefallen hat und das ist eigentlich kein gutes Zeichen. Die “französische Eleganz”, die Madame Monsieur da hinein gebracht haben, sorgt in meinen Ohren auch für eine gewisse Unauffälligkeit (die im Semi dann auch noch von den weißen Outfits unterstrichen wurde).
Kann mal bitte einer die um Aufmerksamkeit heischenden Egozentriker aus den Vorentscheidungen verbannen. Es nervt langsam.
Sie und ihre Anhänger beherrschen außerdem das Sozial Networking so gut, dass am Ende Quantität vor Qualität kommt.
Diese Entscheidung für “Roi” steht für mich gleich hinter der Wahl Trumps zum US-Präsidenten und dem Brexit-Voting.
Schade, dass der Song so langweilig klingt. Mit Conchita Wurst möchte ich Bilal Hassani ungern vergleichen, trotz Message. Oder es muss noch sehr viel am Auftritt gearbeitet werden. So wie er sich bis jetzt darstellt, tippe ich eher auf eine hintere Platzierung in Tel Aviv.
Nun ja, die Message von Conchita ist bei aller oberflächlichen Ähnlichkeit völlig anders: Bei Conchita geht’s um die Wiederauferstehung wie der legendäre Phoenix nach Schmähungen und Verletzungen – eine Erfahrung, die sicher viele gemacht haben (zB mal ganz oberflächlich, weil die Junx, die im Sportunterricht als Erste gewählt wurden fett neben ihrer dauergewellten Frau auf der Couch sitzen, während wir dank Gym heute 10x fitter sind. Bilal singt (oder versucht es zumindest) im entlarvenden Stil der social media Narzissten “Ich bin König” – völlig anders. Und Dana sang, noch mal völlig anders, nicht direkt über sich selber, sondern über legendäre Diven. Bilal ist also ein Rückschritt in Bezug auf Messaging, keine Kopie oder Fortsezung (wie Conchita es zu Dana war).
Bilal kann einen Vergleich mit Conchita schon allein deshalb nur verlieren, weil er im Vergleich noch “blutjung” ist und Tom Neuwirth sozusagen ein schon etwas gereifterer Künstler war, der als Conchita bereits einige Jahre vorher in Erscheinung getreten ist.
Mir wäre nie in den sinn gekommen, conchita wurst(oder gonschida wöörst, wie der franzose sagt) und bilal hassani zu vergleichen. Conchita ist eine diva, bilal hassani wirkt eher wie flott aufgebretzelt für die schülerdisco in petit-dernier-village.
Ich bin erstaunt, dass über den wunderbaren the divaz cover-song kein wort gefallen ist.
Liebe Olli, du bist schon sehr altersmilde. Ein bisschen versemmelt? Bilal kann einfach nicht singen. Selbst mit Halsentzündung könnte Conchita besser singen als Bilal. Mag ja sein, das er in Frankreich ein You-Tube-Star ist, aber in Europa kennt denn bisher keiner. Ich glaube bei der Juroren wird er in Tel Aviv nix reißen, beim Televoting wird es nicht viel besser. Mich hat übrigens kein einziger Song wirklich überzeugt bei der französischen VE. Comme un grande fand ich noch am besten. Gott sei dank hat diese strunzöde Papa-Ballade nicht gewonnen. Ich wünsche Bilal trotzdem viel Glück, Bilal wird es brauchen.
Nichts gegen eine gute Botschaft, wirklich nicht. Aber wenn diese vor allem anderen kommt, spricht das nicht für die Qualität des Beitrags. Musikalisch empfinde ich ihn als etwas dünn, Bilal gesanglich drittklassig. Letzteres könnte man durch Training sicher noch auf die Stufe Zweitklassig hinbekommen, reißt’s aber auch nicht raus.
Die letzten 15, 16 Jahre gab es selten Platzierungen in den Top 10 für Frankreich. Ein gutes Resultat sehe ich heuer eigentlich auch nicht.
Oh lala , das wird wohl nix.
Ich bin enttäuscht über den Ausgang der perfekt inszenierten französischen Vorentscheidung. Mein Kompliment geht an die Veranstalter. Musikalisch waren im letzten Jahr doch viele Beiträge im oberen Level und heuer leider nur 2 Wahl.
Das Problem bei mir ist sogar, dass ich diesmal keinen wirklichen Favoriten hatte.
Darum “stört” mich der Gewinner Bilal auch überhaupt nicht. Aber musikalisch ist das wirklich nicht gerade aufregend oder interessant. Der Song zündet nicht!
Ob jetzt die optische Mischung aus der jungen Barbra Streisand und einem Wraith aus Stargate Atlantis überzeugt, halte ich für zweifelhaft. Die Ausstrahlung ist blas.
Schade Frankreich!
Tragisch auch, das France diesmal schon abhake und ignorieren werde – was ich zuletzt nur mit Nayah (1999) gemacht habe. Also her mit den nordischen Ländern!!!!