Mit hohen Erwartungen ging es in den gestrigen Abend, ins erste Semifinale der Destination Eurovision, denn der verantwortliche Sender France 2 hatte im vergangenen Jahr gut vorgelegt und die unbestreitbar beste nationale Vorentscheidung der Saison abgeliefert. Und wir wurden nicht enttäuscht! Neun Acts präsentierten jeweils zunächst eine Coverversion zur Einstimmung und dann ihren Wettbewerbsbeitrag, und selbst die fünf nach der Abstimmung von diversen Länderjurys aus Israel, Armenien, Großbritannien, Portugal und Serbien sowie dem Ergebnis des Televotings ausgeschiedenen Songs konnten durch die Bank musikalisch überzeugen. So wie beispielsweise die mit viel Leidenschaft und starker Stimme vorgetragene Klavierballade ‘Le Brasier’, die ein wenig unter der ausgesprochen statischen Darbietung des etwas mindercharismatischen Interpreten Naestro litt und die Rote Laterne mit nach Hause nehmen musste. Völlig ungerechtfertigter Weise übrigens, selbst wenn man in Rechnung stellt, dass der durch seine Mittäterschaft an der französischen Version des Sommerhit-Phänomens ‘Bella Ciao’ bekannte Barde es mit der Wahl eines Ed-Sheeran-Titels als Cover-Song geradezu herausforderte.
https://youtu.be/kvcnwz6HpKI
Ist der Künstlername ein Portemanteu aus “No” und “Maestro”?
Naestro musste sich mit einem Punkt weniger knapp der Sängerin Florina geschlagen geben, bei der die stimmliche Begabung mit der Körpergröße harmonierte: die zwergenhaft-zierliche Interpretin brachte in ihrem (in der Studioversion ganz okayen) Stangenwaren-Popsong ‘In the Shadow’ (französische Strophen, englischer Refrain) dermaßen viele dermaßen grauenhaft schiefe Töne unter, dass es einem beim Zuhören die Schuhe auszog. Wohl, damit ihr selbst nicht das Gleiche passiert, hatte man die ihren vorsichtshalber mit Sekundenkleber auf dem Bühnenboden fixiert: Florina bewegte sich während ihrer knapp drei Minuten keinen Millimeter. Sie ging bei den Jurys zu Recht komplett leer aus, kassierte aber 21 Punkte vom Publikum. Ähnlich verhielt es sich bei der absoluten Trash-Perle der aktuellen Saison, dem Titel ‘Passio’ der korsischen Künstlerin Battista Acquaviva (klingt wie der Markenname eines völlig überteuerten Import-Sprudels aus Lateinamerika), die ganze zwei Mitleidszähler von den Jurys erhielt, aber den dritten Platz im Televoting belegte. Völlig zu Recht übrigens, wenn auch weniger aufgrund ihrer vokalen Leistungen oder wegen des eher zähen Popera-Riemens.
https://youtu.be/B8NbF-43VbM
Ja, sie wirkt ein wenig wie von bösen Geistern besessen, und offensichtlich haben diese ihr die Stimme geklaut: Battista Acquaviva.
Laut dem KorsikaMusikKulturOnlineMagazin gehört die mit allen Mineralwassern gewaschene Interpretin “zu den wenigen Sängerinnen, die mit der Vox Sifflet, also im Pfeifregister singen. Es ist das höchste Register der menschlichen Stimme. Diese Töne erlauben abgesehen von Vibrato keine Artikulation und Vokaldifferenzierung mehr, da das menschliche Gehör anhand der wenigen noch hörbaren Formanten zu keiner spektralen Differenzierung mehr fähig ist”. Und nein, ich kapiere auch kein einziges Wort, aber das Fachchinesisch soll uns wohl erklären, warum man außer einem leisen Fiepsen von der im Brautkleid auftretenden Chanteuse so gut wie nichts vernahm. Zum optischen Ausgleich für das akustische Desaster schickte Battista mit gleich vier obenrum erfreulich unbekleideten, aufgepumpten Formfleischschnitzeln, die sich in bandscheibengefährdenden Positionen auf der Showtreppe verrenkten, unsere Sehnerven in den Overkill. Und ließ sich dann noch in Erinnerung an die goldene Liedzeile “We’re giving the World a Show / It begins to Snow” aus dem 2016er Eurovisions-Pausenact-Klassiker ‘Love Love Peace Peace’ von fitzeligem Kunstschnee umwehen. Komplett sinnlos, over the Top und im Ergebnis ein völliger Car-Crash: genau für solche Darbietungen liebe ich den Grand Prix!
Für die Beiden nähme man sich doch gerne Zeit: die Lautners.
Etwas zu dick trugen auch Lautner auf, das aparteste Bromance-Duo sei den britischen Kollegen Joe & Jake, das mit ‘J’ai pas le Temps’ wunderbar fluffigen Pop darbot und sich dabei dermaßen platonisch verliebt in die Augen schaute, dass man in einschlägigen Metropolen wie Köln das Klingeln der Zuschauer-Gaydare bis auf die Straße hören konnte. Die hinter ihnen auf einer riesigen Skater-Rampe maximal mittelspannende Stunts vollführenden Rollbrett-Artisten waren da eine so überflüssige wie unwillkommene Ablenkung: viel lieber hätte man seine Augen durchgängig an den beiden Jungs und ihrem nur auf sich selbst bezogenen Balztanz geweidet. Die französischen Zuschauerinnen schmollten darob kollektiv und straften das Duo mit Punkteentzug. So scheiterten Lautner leider knapp am Finaleinzug. Ebenfalls nicht in die Endrunde schaffte es die nur unter ihrem Nachnamen antretende Künstlerin Julie Mazy, deren selbst verfasstes Midtempo-Stück ‘Oulala’ trotz des Simplizität versprechenden und einhaltenden Titels unter einer eklatanten Refrainschwäche litt. Da half auch der Peter-Kent-Gedächtnis-Haarhelm mit der eingefärbten Strähne nichts.
https://youtu.be/eni7vaHF6do
Der ‘Oulala’-Effekt stellt sich nur ein, wenn man das Video mit anderthalbfacher Geschwindigkeit abspielt.
Die größte Divergenz zwischen Jurys und Publikum zeigte sich bei der RnB-Sängerin Aysat, der diesjährigen Trägerin der Stella-Mwangi-Gedächtnismedaille. Schon bei ihrem Vorstellungs-Oldie ‘Dancing Queen’ (ich werde niemals müde, es zu wiederholen: wer Abba nachmacht oder verfälscht oder nachgemachtes oder verfälschtes Abba sich beschafft und in Umlauf bringt, soll mit Coldplay nicht unter drei Alben bestraft werden) verhob sie sich stimmlich gewaltig, und ihren musikalisch erfrischend süffigen und überzeugend choreografierten Song ‘Comme une Grande’ setzte sie anschließend komplett in den Sand: man war froh, wenn die Chorstimmen vom Band ihr heiseres Gekrächze gnädig überdeckten. Verkehrte Welt: beim angeblich so anspruchslosen Publikum fiel diese korrekterweise mit dem letzten Platz quittierte Minderleistung gnadenlos durch, während die doch eigentlich für die Qualität zuständigen Jurys sie mit großzügigen Punktegaben ins Finale manipulierten. Wann wird man je versteh’n?
Ist schon eine Große: Aysat. Ihre Stimmbänder haben das aber noch nicht mitbekommen.
Die volle Dosis Frankreich servierte der auf den bürgerlichen Namen Sylvain Hagopian hörende Silvàn Areg mit ‘Le petit Nicolas’, einer Verbeugung vor der vom Asterix-Erfinder René Goscinny geschaffenen Comicserie Der kleine Nick, die von den Alltags-Abenteuern eines gewitzten Schuljungen handelt und zum kulturellen Grundkanon des Landes gehört. Sie spiegelte sich konsequenterweise in den Zeichnungen der Papp-Kulissen wieder, in welcher der im Anzug auftretende Rapper (früherer Künstlername Caz B) mit dem miserabelsten Flow seit Menschengedenken vom Fernweh seines Kindes im Manne erzählte, der die große weite Welt sehen möchte und sich von keinen Widrigkeiten abhalten lässt. Trotz oder vielleicht gerade wegen des etwas ungelenken Sprechgesangs sprühte Silvàns flotte Pop-Reggae-Hip-Hop-Chanson-Mélange geradezu vor Charme. Zudem entschädigte die ohrwurmverdächtige (und verdächtig bekannt klingende) Melodie des Refrains nachhaltig für die etwas chaotischen Verse.
https://youtu.be/R6ToZ-CwJV8
Der französische Jan Delay: Silvàn Areg.
Dem heimischen Publikum, das ihr doppelt so viele Punkte zuschanzte wie die internationalen Jurys, verdankt die seit 15 Jahren erfolgreiche Pop-Legende Chimène Badi den Finaleinzug. Die stimmstarke Chanteuse präsentierte zur Vorstellung den Piaf-Klassiker ‘Je ne regrette rien’: eine bedauerliche Wahl, denn bislang ist noch jeder einzelne Versuch eines Künstlers, die Formidabilität der einzigartigen Interpretation der Piaf auch nur ansatzweise zu erreichen, krachend gescheitert. So auch, trotz technisch guter Form, bei Madame Badi. Es gibt einfach eine Handvoll von sakrosankten Songs, an denen sich niemand anders versuchen sollte, und dieser gehört zwingend dazu. Ihren Wettbewerbsbeitrag ‘Là Haut’ lieferte die Chansonette mit den algerischen Wurzeln dann aber überzeugend ab. Unnützes Eurovisionswissen 400: einen gleichnamigen Titel gab es bereits letztes Jahr im zweiten Semifinale der Destination Eurovision, damals vorgestellt vom Singer-Songwriter Sweem. Und wie schon damals war auch heuer an dem Song überhaupt nichts auszusetzen; dennoch wollte der Funke irgendwie nicht überspringen.
Die Box ist beim Grand Prix ein gerne genommenes und gerne gesehenes Bühnenelement. Doch irgendwas fehlte. War es vielleicht ein Farid?
Mit 58 von möglichen 60 Punkten von den Jurys und der Maximalzahl im Televoting fiel die Krönung des ‘Roi’ (‘König’s) Bilal Hassani unerwartet fulminant aus. Der androgyne 19jährige mit franko-marokkanischen Wurzeln, laut der französischen Wikipedia bereits in der Schule ein Opfer von Mobbing und seit seinem öffentlichen Coming-Out im Jahre 2017 das Ziel von Todesdrohungen und Cyberstalking, erlangte erstmals als Fünfzehnjähriger durch die Castingshow The Voice Kids Bekanntheit, wo er, damals noch im Holzfällerhemd, mit einer fantastischen Rendition von Conchita Wursts ‘Rise like a Phoenix’ die Jurys überzeugte. Kein Wunder, dass der schmächtige, aber selbstbewusste Bilal die österreichische Eurovisionsdiva bei der Destination Eurovision im Einspieler als sein Vorbild benannte, zumal der Text seines von ihm selbst gemeinsam mit den Vorjahresvertretern Madame Monsieur komponierten, locker im Wechsel zwischen französisch und englisch springenden Beitrags praktisch die gleiche Geschichte von der Selbstermächtigung eines Andersartigen erzählt. Um so erfreulicher, dass er sich optisch wie musikalisch auf völlig eigenständige Weise zeigte. Bilal geht nun als heißer Favorit um das Ticket nach Israel ins Rennen. Wie fabelhaft!
Der feuchte Traum eines jeden Gutmenschen (und ich meine diesen Begriff im Wortsinne positiv): die LGBTI*-Ikone Bilal Hassani ist jung, multikulturell, genderfluid und kämpft mit selbstbewusstem Trotz und künstlerischem Können gegen alle Anfeindungen. Bravo!
Vorentscheid FR 2019 (1. Semifinale)
Destination Eurovision. Samstag, 12. Januar 2019, aus den Studios de France – Bât 217, Paris. 9 Teilnehmer/innen. Moderation: Garou.# | Interpret | Titel | Jury | TV | Platz |
---|---|---|---|---|---|
01 | Naestro | Le Brasier | 12 | 08 | 09 |
02 | Florina | In the Shadow | 00 | 21 | 08 |
03 | Chimène Badi | Là-haut | 22 | 44 | 02 |
04 | Battista Acquaviva | Passio | 02 | 29 | 07 |
05 | Silvàn Areg | Le petit Nicolas | 38 | 21 | 03 |
06 | Bilal Hassani | Roi | 58 | 57 | 01 |
07 | Aysat | Comme une Grande | 34 | 06 | 04 |
08 | Lautner | J’ai pas le Temps | 26 | 09 | 05 |
09 | Mazy | Oulala | 18 | 15 | 06 |
Da ist aber jemand sehr nachsichtig mit den etwas verunglückten Gesangsleistungen des gestrigen Abends. Muss wohl die Einschätzung etwas beduselt worden sein von der Freude über den Beginn der diesjährigen Season… dafür habe ich natürlich vollstes Verständnis!
Aus schwuler Sicht in vielfacher Hinsicht ein interessant„, anzusehender VE! Musikalisch dafür eher lau aber bravo an die Franzosen, dass sie sich – mit unterschiedlichem Gelingen – Mühe mit der Inszenierung gegeben haben. Das gilt als erstes natürlich für Apassionata oder wie das Ding mit den Strippern hiess. Wesentlich sexier war da Lautner mit dem wie Du richttig sagtest Balztanz – für mich optisch in der Klasse von Faris Mamadov’s Hold me. Können leider wie das ähnlich inszenierte Rise up von Freaky Fortune live nicht singen; Studioversion war zwar nicht wie wohl erhofft Robin Schulz Level aber ganz nett.
Silvan ist optisch meine Nr.2 und musikalisch klar meine Nr.1; Genre und verspielte französische Inszenierung würden das natürlich beim ESC eher abstürzen lassen aber Frankreich würde sich nicht blamieren. Das würde eher mit dem favorisierten Social Media Phämomen Bilal passieren. Hier sind wohl viele vom Hype über Conchita 2.0 angesteckt; Talent oberhalb des YouTube-Kanal-Levels sollte man schon haben also z.B singen können. Als Selbstverwirklichungs-/-bestätigungsprojekt sicher gut für ihn aber hat mich nicht überzeugt und wirkt halt thematisch wie ein Conchita-Abklatsch. Das einzig gute, wenn er nach Tel Aviv gehen sollte, wäre, dass die Russen mal wieder durchdrehen würden.
Ui, da ist einer aber nachsichtig heute.
Ich fand die show auch ganz unterhaltsam aber ausser chimene und sylvan waren sie stimmlich alle ganz schwach. Mich erinnert bilal an eine tv-ansagerin aus den 80zigern
Fand den Abend auch ganz gut, allerdings sind meine liebsten Songs mit den untersten beiden Plätzen abgestraft worden. So richtig überzeugen konnte mich aber niemand, bei Bilal stört mich weniger die mittelmäßig-solide Stimme sondern viel eher der Song mit abgeschmacktem Selbstbekräftigungs-Text. Das gab es so schon sehr oft und wird durch diese Youtuber-Ästhetik auch nicht innovativ.
Stimmt, der Hausherr ist gnädig.
Bilal fand ich absolut überbewertet.… Hab gedacht Conchita und Lady Gaga hätten ein Kind bekommen. Und das Madame Monsieur an der Komposition beteiligt waren, ist kaum zu glauben, so weit wie das nieveaumässig von Mercy weg ist.
Enttäuschend schlechte Stimmen dabei und Kameraführung steigerungsfähig.
Die Idee für Silvàn´s war so schön aber die Illusion ist mit dem Laufband im Bild leider total versaut worden.
Tausche Bilal und Aysat gegen Lautner, Stimmen ok, aber das Auge freut sich so viel mehr.
Kann mit Bilal auch nur sehr bedingt etwas anfangen, “Roi” ist mir schlichtweg zu langweilig und der Sprachenmix stößt mir sehr negativ auf. Hab mich sehr auf Chimène Badi gefreut und wurde nicht enttäuscht und sie hätte normalerweise die besten Chancen, DE zu gewinnen. Aber gegen den Bilal-Hype ist leider nix zu machen.… Silvan Areg vollkommen zurecht weiter, sehr origineller und professioneller Vortrag. Aysats Stimmfärbung ist sicherlich nicht jedermanns Geschmack, aber musikalisch finde ich das ähnlich mutig wie anno1990 Joelle Ursull.
Dieses Castingsternchen Florina fand ich schon vorher ziemlich bescheiden – beim Auftritt haben mir die Ohren geschmerzt und leider waren die 0 Punkte der Jury in diesem Fall absolut verdient. Ganz schlimm auch Frau Acquaviva – sie sah aus wie die biedere Gouvernante, die im Folkloreverein auftritt und auch stimmlich nichts hinbekommt.
Im zweiten Semifinale ist übrigens Seemone mit ihrer Ballade für Papa meine Favoritin. Emmanuel Moiré ist zwar optisch ein geiler Typ und eine “Rampensau”, in “La Promesse” singt er über seine Homosexualität, mir leider nur etwas zu schmalzig.
Ugo gefällt mir auch recht gut.
Gabriella bitte entsorgen – ist schon in der Audioversion eine Zumutung.
Bisher nichts, was ich beim Wettbewerb in Israel auf vorderen Platzierungen sehen würde. Gut, vielleicht könnte man bei zwei, drei Liedern/Interpreten noch was verbessern, aber mal sehen, was das zweite Halbfinale bringt.