Nach monatelangem, hartnäckigen Stillschweigen und einer “Ende Januar” unelegant gerissenen Deadline bestätigte der NDR am heutigen Morgen in einer offiziellen Presseerklärung lediglich, was wir im Prinzip ohnehin schon wussten: es gibt 2020 keinen deutschen Vorentscheid, die oder der Repräsentant:in des Landes beim Eurovision Song Contest in Rotterdam wurde samt Beitrag bereits Mitte Dezember 2019 intern ausgewählt. Wer es nun ist, hält der Sender aber weiterhin geheim. Was dafür spricht, dass wir uns alle (ohnehin absurden) Hoffnungen auf eine echte Sensation in der Helene-Fischer-Preisklasse endgültig abschminken können, denn sonst wäre das bereits längst durchgesickert. Die Verkündung erfolgt – auch das war bereits bekannt – am 27.02.2020 ab 21:30 Uhr im Rahmen einer 45minütigen, von der ARD-Allzweckwaffe Barbara Schöneberger moderierten Show auf dem Digitalkanal One. Zwei verschiedene Jurys suchten laut NDR den Beitrag aus: 20 internationale “Musik-Expert:innen”, jede:r von ihnen bereits einmal Teil einer nationalen ESC-Jury, sowie 100 vom Sender handverlesene Zuschauer:innen. Diese mussten ihre Eignung für den Job dadurch unter Beweis stellen, dass sie die Ergebnisse des ESC 2019 bereits im März vergangenen Jahres möglichst präzise vorhersagten.
Moderiert Babsi am Ende nicht nur ‘Unser Song für Rotterdam’, sondern singt ihn auch? Zuzutrauen wäre es ihr, schließlich kann die Frau einfach alles.
In einem Interview mit dem Mediendienst DWDL begründete der NDR-Unterhaltungschef Thomas Schreiber, warum man sich eine teure TV-Show im Ersten in diesem Jahr sparte: “Der Vorentscheid war mit einem großen Aufwand verbunden, aber nicht mit einer so großen Reichweite, wie wir sie uns gewünscht hätten. Für das Publikum war die Show schlicht nicht so relevant wie der eigentliche ESC. Dazu kommt die Frage, wer sich den Vorentscheid überhaupt ansieht”. Durch den Abgleich der Anrufe beim Televoting von Unser Song für Tel Aviv und dem Finale des Eurovision Song Contest 2019 habe man festgestellt, dass nur rund 17% der Votenden vom Vorentscheid auch beim ESC abgestimmt hätten. Schreiber weiter: “Außerdem lässt sich durch das Verhältnis von verschickten SMS zu Anrufen erkennen, dass das Publikum beim Vorentscheid eher älter ist, während es beim ESC genau umgekehrt ist”. Oder, etwas pointierter gesagt: die Greis:innen, die typischerweise die Sendungen der Öffentlich-Rechtlichen einschalten, weil sie auf ihrer Fernbedienung die Zahlen oberhalb der 3 nicht finden, bzw. weil sie zunehmend die Einzigen sind, die überhaupt noch lineares Fernsehen schauen, versauen unsere Chancen, im Zuge eines Vorentscheids einen wettbewerbsfähigen Beitrag zu finden, weil ihr Musikgeschmack nun mal altersbedingt dem Konservativen zuneigt und “kantige”, polarisierende Titel, die wir für eine gute internationale Platzierung bräuchten, bei ihnen keine Chance besitzen.
Dürfte aufgrund ihres Alters bei einem deutschen Vorentscheid weder mitmachen noch mitstimmen: die große Marianne Rosenberg mit ihrer aktuellen Single.
Diese Einschätzung trifft natürlich voll und ganz zu, erstaunt allerdings aus dem Munde eines Eurovisionsverantwortlichen, der im Rahmen seiner bisherigen Regentschaft so ziemlich alles tat, den heimischen Vorentscheid mit möglichst kantenlosen, sandgestrahlten, nichtssagenden Liedern zu füllen beziehungsweise diesen den Weg zum Sieg zu ebnen. Und zwar gerade auch mit Hilfe der internationalen Jury, wenn wir uns an das letztjährige Debakel mit den Sisters erinnern, die nicht nur bei den gerontischen deutschen Zuschauer:innen vorne lagen, sondern auch bei jenem “Experten”-Gremium. Weil es die ARD – auch mangels entsprechender Bemühungen – nicht schafft, den Altersdurchschnitt seiner Zuschauerschaft zu senken, müssen die Deutschen nun also auf den Vorentscheid verzichten und die Auswahl des Eurovisionsbeitrags zwei anonymen Gremien überlassen. Es ist wie beim Klimawandel: Kinder haften für ihre Großeltern. Das kann man natürlich blöde finden, andererseits machte zumindest die hundertköpfige Zuschauerjury im vergangenen Jahr einen guten Job. Und die überwiegend positiven Erfahrungen unserer deutschsprachigen Nachbar:innen in Österreich und der Schweiz in den letzten Jahren mit internen Auswahlen ermutigen, diesen Weg wenigstens zu versuchen.
Trennten sich mittlerweile zu wohl niemandes Überraschung: die deutschen Eurovisions-Retorten-Schwestern.
Zumal er dem Sender, wie Schreiber im Interview ebenfalls betonte, mehr Zeit verschaffte für das dritte “S” im eurovisionären Erfolgsdreiklang Song – Stimme – Show: “Durch die frühe Entscheidung waren wir auch deutlich frühzeitiger als sonst in der Lage, international renommierte Leute anzusprechen, die Erfahrung mit der Inszenierung eines Music-Acts auf einer Fernsehbühne haben”. Völlig korrekt erkennt Schreiber den visuellen Part als “extrem wichtig” an und nennt Måns Zelmerlöws ‘Heroes’ als Beispiel: “Der Song war wohl nicht der abwechslungsreichste aller Zeiten, aber es war ein genialer Auftritt. Entscheidend ist, dass Lied, Protagonist und Inszenierung stimmig sind. Bei Michael Schulte ist uns das hervorragend gelungen”. Da hat er Recht. Andererseits handelt es sich hierbei um keine bahnbrechend neue Erkenntnis, und gerade letztes Jahr konnte man nicht unbedingt den Eindruck gewinnen, dass man diese beim deutschen Sender nachhaltig verinnerlicht hätte. Womöglich verläuft die Lernkurve dort einfach etwas flacher. Entsprechend niedrig bis non-existent gestalten sich weiterhin meine Erwartungen für 2020, was zumindest den Vorteil bietet, dass der NDR sie nicht enttäuschen kann. Um einen Buzz für den deutschen Eurovisionsbeitrag zu erzeugen, muss man sich in Hamburg heuer allerdings extrem stark ins Zeug leugen. Lassen wir uns überraschen.
Schön, dass man beim NDR den Wert der Inszenierung erkennt. Nun braucht es noch einen Künstler vom Format des Mönzchens. Ob Deutschland so jemanden hat?
Das wäre ja noch mein heimlicher Traum. Das Marianne für Deutschland beim ESC singt. Aber sie wird keinen Bock mehr haben nach all den vergeblichen Versuchen in den Siebziger und Achtziger.
Das blinde Huhn NDR, das die Künstler-Suche letztes Jahr wie ein Thema für einen Schüleraufsatz ausgeschrieben hat, mit dem nächsten Konzept auf der Suche nach dem goldenen Korn…
Dafür das du die Juries sonst immer als “Wichser” beschimpfst, finde ich es doch erstaunlich das du nicht kritisierst, das der NDR die Zuschauer für zu blöd hält, um einen Song auszusuchen. Außerdem finde ich deine Einstellung gegenüber älteren Menschen für zutiefst problematisch, wenn du die Zuschauer als “geriatrisch” beschimpfst. Ich darf ja mal daran erinnern, das das selbe Publikum immerhin eine Lena, ein Roman Lob, ein Michael Schulte und ein Max Mutzke ausgesucht hat. Außerdem wenn man einen Vorentscheid mit einer Top-Quote haben will, dann sollte man Acts aussuchen, die sowohl ein älteres, wie auch ein jüngeres Publikum ansprechen. Und nur weil man vielleicht Älter ist, ist man nicht gleich schon Scheintot und steht automatisch nicht auf moderne Musik. Und gerade der letztjährige Vorentscheid war doch nur auf die jüngeren Zuschauer gerichtet. Die Vorauswahl trafen übrigens jetzt die 2 Juries, die jetzt alleine den Beitrag auswählen. Und wenn ein Act gewinnt, den der Schreiber noch nachträglich nominiert hat, zeigt doch, wie schlecht die anderen Acts waren. Und auch die International Jury hatte die Sisters vorne. Wenn man wie du, immer das Televoting bevorzugt, aber nur dann, wenn der Zuschauer so wählt, wie es dir passt, dann sollte man sich mal fragen, wie sonst so die Einstellung zu demokratisch zusammengekommenden Ergebnissen steht.
Hallo Jörg,
meine Skizzierung der älteren Zuschauer:innen bitte ich dich, als satirisch gemeinte Überspitzung zu verstehen. Ich gehöre ja mittlerweile selbst zur Generation 50+ und stelle für mich fest, dass mich 98% der aktuellen Popmusik nicht mehr anspricht. Natürlich würde ich mir trotzdem attestieren, mehr Ahnung von einem wettbewerbsfähigen ESC-Song zu haben als der NDR, aber das ist ja nicht schwer. 😉
Du hast Recht, ich bin ein eiserner Verfechter des hundertprozentigen Televotings. Beim ESC selbst. Bei den Vorentscheidungen finde ich auch andere Lösungen zumindest denkbar, zumal man anerkennen muss, dass etliche Sender mit internen Vorauswahlen in den letzten Jahren gute Erfahrungen gemacht haben. Ich kritisiere ja auch schon länger den Geschmack der Zuschauer:innen (nicht nur der deutschen) in den nationalen Vorentscheidungen und habe schon öfters thematisiert, ob man dort nicht vielleicht besser per internationaler Jury entscheidet. Denn der deutsche ESC-Beitrag muss ja, wenn er Punkte kriegen soll, nicht den Deutschen gefallen, sondern den Menschen in den anderen Nationen. Aber das kann man natürlich auch anders sehen, klar.
Wo du auch Recht hast: wenn ich einen Vorentscheid mit hoher Einschaltquote haben will, der möglichst viele Zuschauer:innen anspricht, muss ich dort für jede Altersgruppe was bieten. Das fände ich persönlich auch gar nicht schlecht, ich wäre ja durchaus dafür zu haben, z.B. mal wieder einen deutschen Schlager zu schicken. Wir müssten dann halt nur klaglos hinnehmen, wenn das im Ausland evtl. nicht gut ankommt und es nur zu einem hinteren Platz reicht, ohne gleich wieder kollektiv rumzuflennen. Das klappt aber in Deutschland nicht, daher ist die Strategie des NDR *vielleicht* grundsätzlich gar nicht so verkehrt.
Ich halte das alles nur für sehr, sehr kreativlos. Auch wie der NDR mit den Zuschauern umgeht, finde ich einfach nur fies. Da wird für 31.01.2020 Infos angekündigt, nur um dann am 01.02. zu sagen, Ups ist denn schon Ende Januar, Infos gibts am 10.02.2020. Nur um dann Infos mitzuteilen, die schon lange vorher von anderen Medien kolportiert worden sind. Dann diese Art wie die Infos verbreitet worden sind, gehts nicht peinlicher oder gar Infantiler? Der ESC ist das wichtigste Musikfestival der Welt, mit 41 Nationen. Und dann ist dieser ESC dem NDR nicht mehr wert als 45 Minuten auf dem Sender One? Wenn der NDR kein Bock mehr darauf hat, dann sollen sie es sagen, und den ESC an einen anderen Sender weitergeben. Ich wäre sowieso dafür, das jedes Jahr ein anderer Sender der ARD für den ESC verantwortlich ist, oder im Wechsel mit dem ZDF. Ich habe fast jeden deutschen Beitrag vor zur harscher Kritik verteidigt. Auch die Sisters im letzten Jahr, weil sie auch von den Zuschauer gewählt worden sind. Das mag einem gefallen oder nicht, aber so war es halt. Dieses Jahr ist mir der Deutsche Beitrag egal, weil mich die Art und Weise wie der NDR mit dem Zuschauer und dem Gebührenzahler umgeht, total ankotzt. Sorry, aber das muss mal gesagt werden. Soviel Arroganz gegenüber den Zuschauern ist mir noch nie untergekommen. Egal welcher arme Tropf sich das in diesem Jahr antut, er tut mir jetzt schon leid. Daumen drücken, werde ich einem Beitrag, bei dem ich noch nicht mal gefragt worden bin, ob ich als Zuschauer den überhaupt will, jedenfalls nicht.
Jaja, “not all old people”… was soll die Argumentation bringen? Dass das ältere Publikum im Schnitt einen konservativeren Musikgeschmack hat lässt sich ja nun nicht durch den Verweis auf die Ausnahmen aufheben.
Und behauptest du wirklich, dass das Publikum der letzten Vorentscheide das gleiche wie bei “Unser Star für Oslo” ist? Das war damals ein völlig anderes Ereignis und wurde viel breiter wahrgenommen.
Tja, nicht gerade einfache Zeiten als deutscher ESC-Fan. Hab zwar prinzipiell nichts gegen eine interne Nominierung, aber so wie der NDR mit den Fans umgeht finde ich es eine Frechheit. Und das ganze dann schön weit von der Öffentlichkeit auf ONE senden, schüttele da nur mit dem Kopf.
Aber sehen wir es mal so: Die Erwartungshaltung ist so niedrig wie schon lange nicht mehr, also kann es im Prinzip nur bergauf gehen.
Ich glaube ja, dass das deutsche Publikum vor allem nach Sympathie abstimmt. Wobei der “Das ist eine/r von uns”-Faktor entscheidend ist – bloß keine Starallüren an den Tag legen, sonst ist man ganz schnell unten durch. Manchmal hat man Glück und der Kandidat, der am sympathischsten gefunden wird, hat auch noch ein brauchbares Lied dabei (2018); das ist in der jüngeren Vergangenheit aber offensichtlich nicht sehr oft der Fall gewesen.
Ich selber schaue mir den deutschen Vorentscheid nur in Ausnahmefällen an, finde es aber trotzdem schade, dass es diesmal keinen geben wird, denn so eine interne Auswahl wirkt doch ein bisschen sparsam.
@aufrechtgehn.de: Seit der WDR alte Menschen als Umwelt bzw. Nazisäue beschimpft hat, bin ich was das angeht, etwas empfindlich. Und ich mag es gar nicht wenn man generell eine gewisse Gruppe, hier die älteren, über einen Kamm schert. Ich gehöre ja auch schon fast zu den älteren, und für mich gehts nicht nach modern oder nicht modern, schlager oder nicht schlager, sondern ganz einfach, gefällt mir das Lied, was ich gerade höre oder gefällt mir es nicht. Und da habe ich keinerlei Probleme damit, wenn das Lied zu einem gewissen Genre gehört, was ich sonst gar nicht gerne hören. Ich bin kein Schlagerfan, mag aber Atemlos, ich bin kein Rapfan: Mag aber die Lieder von Seeed und Fantastische Vier und ich bin kein fanatischer Rockfan: habe Lordi mit Hard Rock Hallelujah geliebt. Deswegen wäre ich ja für einen deutschen Vorentscheid, der sämtliche Genre von Schlager bis Hip Hop abbildet. Aber das ist bei den kreativlosen vom NDR nicht möglich.
Oh toll… eine interne Auswahl ohne Vorentscheid…juhu…
Das Positive ist, wie im Artikel beschrieben, dass man keine Erwartungen mehr hat, dementsprechend ist man bei einer schlechten Auswahl oder einem schlechten Platz im Finale auch nicht enttäuscht. Das Negative ist, dass es umgekehrt auch allen egal ist, wenn der Song gut ist und gut abschneidet, denn die meisten Zuschauer dürften Namen und Song das erste Mal hören, wenn sie das ESC-Finale ansehen (man hat ja mit einem gut versteckten Sendeplatz um halb zehn abends in ONE und dem Minimum an Info/PR alles dafür getan, dass wirklich niemand davon weiß oder sich dafür interessiert). Dementsprechend kann sich vermutlich auch niemand mit dem deutschen Beitrag identifizieren.
Vielleicht ist das “gezielte Verstecken” auch so gewollt und man hat schon früh nach der internen Auswahl erkannt, dass man mit dem ausgewählten Act dieses Jahr keine Chance haben wird, und hat deswegen die obligatorische TV-Präsentation in einem Spartensender untergebracht und weitestgehend Werbung dafür vermieden. Das ist zumindest derzeit für mich die logischste Erklärung.
Gut, das kann man ein Jahr mal machen, zu sagen “dieses Jahr ist es echt scheiße, wir haben nur Dreck gefunden, also verstecken wir den bis Mai, so gut es geht”. Dann sollte man aber auch so klug sein, sich einzugestehen, dass im Folgejahr der Auswahlprozess eine starke Veränderung braucht, will man dasselbe Desaster und öffentliches Desinteresse nicht nochmal erleben. Ich hoffe, der NDR tut das, sonst wird es in Zukunft schwer, die deutsche Teilnahme beim ESC insgesamt (und die damit verbundenen hohen Gebühren) zu rechtfertigen.
@Disneyfan: volle Zustimmung, was die Genres angeht. Allerdings fühle ich mich verpflichtet, anzumerken, dass “der WDR” keineswegs alte Menschen beschimpft hat, schon gar nicht als Nazis. Es gab eine in meinen Augen völlig harmlose Satire, basierend auf einem alten, lustigen Kinderlied, die von Seiten der Rechten maßlos skandalisiert wurde. Für jeden, der diesen Kinderchor gesehen hat, war das Augenzwinkern hörbar. Nur, wer wirklich bösen Herzens ist, konnte daraus eine absichtliche Beleidigung ableiten. Es ist sehr schade, dass der WDR vor dem AfD-Shitstorm eingeknickt ist. Aber als “Nazisau” wurde vonseiten des Senders nun wirklich niemand bezeichnet.