Existenziell ging es zu beim estnischen Vorentscheid 2010. Nach einer siebenprozentigen Budgetkürzung beim staatlichen Sender ERR stand zunächst die Eurovisionsteilnahme des baltischen Landes generell in Frage. Erst eine Spende der Wirtschaftsförderungsorganisation Enterprise Estonia, die sich sonst schwerpunktmäßig um die Bereitstellung von digitaler Infrastruktur und die Ansiedlung von Firmen im Land kümmert, in Höhe von knapp einhunderttausend Euro, versetzte ERR in die Lage, beim europäischen Wettsingen mitzumachen. Aus dem eigenen Budget stemmte der Sender die Kosten von knapp 20.000 € für die nationale Vorauswahl, die Eesti Laul. Unter den zehn von einer Jury ausgewählten Beiträgen befand sich ursprünglich auch die plätschernde Jazzballade ‘Made me cry’ von Nikita Bogdanov, die allerdings disqualifiziert werden musste, da sie gegen die Erster-September-Regel verstieß. Als Ersatz nominierte der Sender den Song ‘Siren’ aus der Feder des Komponisten Robin Juhkental, der unter dem bizarren Projektnamen Malcolm Lincoln antrat. Das surreale Elektro-Machwerk fügte sich perfekt ein in das hauptsächlich aus ziemlich schrägen Liedern bestehende Wettbewerbsumfeld.
Zehn Mal Bizarres und Verspieltes: die Eesti Laul 2010 als Playlist.
Zu Malcolms Mitstreiter:innen zählte unter anderem der Musicalsänger und ewige Eesti-Laul-Partizipant Rolf Roosalu (Künstlername: Rolf Junior), der in einer grotesken Phantasieuniform mit gezackten güldenen Schultertressen und mit einem discogeigengeschwängerten Elektroschlager namens ‘Maagiline Päev’ (‘Magischer Tag’) seinen dritten von mittlerweile unzähligen Vorentscheidungsauftritten absolvierte, wie immer ohne durchschlagenden Erfolg. Die ehemalige Vanilla-Ninja-Mitfrau Lenna Kuurma versuchte es solo mit einem von Vaiko Eplik (ehemals Ruffus) geschriebenen Liedchen über die Brüder-Grimm-Märchenfigur ‘Rapunzel’, das wohl mit Fug und Recht als das mainstreamigste (und langweiligste) Angebot des Abends bezeichnet werden kann. Sie führte in der ersten Abstimmungsrunde mit deutlichem Abstand im Juryvoting und einem 0,5 prozentigen Vorsprung beim Publikum. Doch das um die Refinanzierung seiner Ausgaben durchs Televoting bedachte estnische Fernsehen ließ sie in einem Goldfinale nochmals gegen den Zweitplatzierten antreten. Für ERR zahlte es sich aus: die nunmehr alleine abstimmungsberechtigten Zuschauer:innen riefen in der zweiten Runde öfters an als in der ersten. Und nun versammelten sich die vorher auf zahlreiche schräge Beiträge verteilten Stimmen auf den einzig übrig Gebliebenen.
Großartiger Künstlername, anstrengender Song.
Nämlich besagten Herrn Juhkental, dessen Sirene in seinem Kopf einen schrecklichen Lärm mache, wie uns der manisch umeinanderhüpfende Künstler wissen ließ. Seine Jahre habe er verschwendet, finde kaum noch die Kraft, weiter zu machen, und frage sich, ob dieser Warnton für einen Neubeginn oder das Ende stehe. Ich frage mich eher, ob er sich mit seinem Gehirntumor und/oder seiner schweren Depression nicht lieber ins Krankenhaus begeben sollte, anstatt ganz Europa mittels quälender Katzengesänge an seiner persönlichen existenziellen Krise teilhaben zu lassen? Wobei man dem Song mit einer ausführlichen Textexegese wohl zu viel der Ehre antut: wie Wikipedia weiß, verfasse Juhkental seine Lyrics, in dem er zunächst einfach zur Musik daherbrabbelt, das aufnimmt und dann überlegt, welche Wörter seinem Gebrabbel wohl am ähnlichsten klängen. Dabei nutzte er Englisch, weil er die Sprache als so “messy” empfinde, dass jedweder Unfug darin besser klinge als auf Estnisch. Vielleicht war er aber auch nur seiner Zeit voraus: heute, zu Zeiten der nicht mehr zu leugnenden globalen existenziellen Krise, macht seine Nummer viel mehr Sinn als damals.
Ein Horrortrip: der offizielle Videoclip.
Vorentscheid EE 2010
Eesti Laul. Samstag, 12. März 2010, aus der Nokia Concert Hall in Tallin. 10 Teilnehmer:innen. Moderation: Ott Sepp und Märt Avandi.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Jury | Superfinale | Platz |
---|---|---|---|---|---|---|
01 | 3 Pead | Poolel Teel | 348 | 43 | – | 10 |
02 | Marten Kuningas + Mahavok | Oota mind veel | 1.195 | 67 | – | 05 |
03 | Mimicry | New | 851 | 33 | – | 08 |
04 | Tiiu Kiik | The one and only Love | 636 | 44 | – | 09 |
05 | Violina + Rolf Roosalu | Maagiline Päev | 2.586 | 83 | – | 03 |
06 | Disko 4000 | Ei usu | 657 | 48 | – | 07 |
07 | Iiris Vesik | Astronaut | 1.792 | 64 | – | 04 |
08 | Lenna Kuurma | Rapunzel | 4.484 | 101 | 10.223 | 02 |
09 | Groundhog Day | Teiste seest kõigile | 1.790 | 48 | – | 06 |
10 | Malcolm Lincoln | Siren | 4.465 | 74 | 12.001 | 01 |
Zuletzt aktualisiert: 03.07.2021
angenehm anders Muss man denn immer Schwuppen-Pop zum ESC schicken? Ich jedenfalls finde diese Nummer angenehm. Die liefe bei mir auch so durch, nüchtern und ohne die zwei Liter Rotwein, die man für den ESC i. d. R. benötigt! Sicher, auf der Höhe der Zeit ist wohl auch dieser Titel eher weniger; dafür klingt’s zu sehr nach 80er …
Sagen wir es mal so, der Song gefällt mir für das was er ist, individuell und alternativ (bezogen auf das restliche Teilnehmerfeld). Meine Art der Musik ist es allerdings auch nicht. Leise gestellt als Hintergrundbeschallung aber ganz nett. Und irgendwie passt es ja zum großen russischen Bruder. Zum Glück sind sie nicht im selben Semi. Direkt aufeinanderfolgend wäre das sicher nicht gut für die Stimmung. Aber gut, manchmal will der Mensch auch mal traurig sein dürfen.
Der Song hat etwas eigenes, einen besonderen Charme. Leider gefällt er mir sogar besser als unser eigener. Mal sehen, wie er in Oslo umgesetzt wird. Als okkulte Inszenierung wäre es bestimmt super, aber das wird die EBU nicht erlauben, ist ja eine Familiensendung.
Das Musicvideo ist ja noch erträglich. Aber schade Oliver das du nicht das Video von seinem Liveauftritt hier stehen hast. Also nee das geht gar nicht, der Kerl steht da rum und wippt so als wäre er gerade auf dem schlechten Trip. Erst ist der Saal leer, weil wohl das Publikum in panischer Angst vor dem Sänger wohl schon geflüchtet ist. Meine Güte, das ist ja ein Horrorjahrgang.
re: angenehm anders [quote=Carsten]Muss man denn immer Schwuppen-Pop zum ESC schicken?[/quote] Ja!
Ich bin noch mal auf die Suche gegangen und hab das Video vom Liveauftritt gefunden. Da find ich das Musikvideo aber ehrlich gesagt noch deprimierender, düsterer und trippiger.
Das Video find ich irgendwie klasse, und das Lied an sich hat was. In der Tat das erste von allen Beiträgen dieses Jahr, das ich mir dauerhaft auf den iPod ziehen würde. Selbstverständlich ist solch überkandidelter melancholischer Indie-Pop/Rock komplett ESC-unkompatibel, aber die Esten haben meinen Respekt für diese Nummer. Die Live-Performance von dem Ding geht aber ja wohl so was von gar nicht… (‘Das hört gar nicht mehr auf… Alter Finne…’)
Um ehrlich zu sein ist diese Björk-Moby-Mischung mein eindeutiger Favorit dieses Jahr. Angesichts der nicht mal mehr unterirdischen Qualität der meisten Beiträge in diesem Jahr ist dieses Stück wirklich mal etwas erfrischendes. Ich bezweifle zwar stark, dass man damit einen Blumentopf gewinnen wird, aber persönlich finde ich es sehr gelungen. Mein größter Respekt gegenüber den Esten für diese Entscheidung.
Estland=Qualität Ich muss sagen, dass die Esten mich dieses Jahr erneut nicht enttäuscht haben. Ich gebe zu, dass ’ Siren ’ nicht an den Beitrag von 2009 herankommt und ’ Malcolm Lincoln ’ zunächst etwas schräg rüberkommt: aber das sagen einige ja auch über ’ unsere ’ Lena. Die zappelt ja ähnlich über die Bühne. Aber Malcolm ist ein unglaublich guter Sänger, es gibt fast keinen Unterschied zwischen der Studio-und Liverversion. Der Song erinnert ernstere Stücke von Depeche Mode. Besser als 80% der disjährigen ESC Beiträge.
Hm. Interessant, aber definitiv die falsche Musik, um beim ESC zu reüssieren. Und ich finde seine Stimme ziemlich unangenehm.
auch auf die Gefahr hin, hier langsam Hausverbot zu bekommen – auch als gluehender Anhaenger von Schwuppenpop mag ich das hier ganz ungemein, und wuerde es in meine diesjaehrige Top‑5 aufnehmen (lustigerweise mochte mein heterosexueller Kollege, den ich regelmaessig mit dieser Website begluecke, Estland ueberhaupt nicht – es kann also nicht nur an Orientierungsfragen liegen 🙂 Ich vermute mal, dass es ein wenig mit Losglueck zusammenhaengen koennte, aber dann sollte sich Qualitaet eigentlich durchsetzen, angesichts der ‘Staerke’ des Mitbewerber… bevor das ganze Finale nach Titanic klingt…