Zähigkeit zahlt sich aus. Seit 2012 versucht es die lettische Sängerin Samanta Poļakova, besser bekannt unter ihrem Künstlerinnennamen Samanta Tīna, praktisch durchgängig beim Vorentscheid in ihrer Heimat (und gelegentlich auch im Nachbarland Litauen). Nun hat sie es geschafft: die diesmal alleine abstimmungsberechtigten Zuschauer:innen der Supernova wählten sie gestern Abend zu ihrer Repräsentantin für Rotterdam. Vielleicht nahmen sie den subtilen Hinweis ihres Titels ‘Still breathing’ zum Anlass, der 30jährigen ihren Herzenswunsch endlich zu erfüllen. An ihrem selbstgeschriebenen und mit einem Text aus der Feder von Aminata Savadogo veredelten Song kann es kaum gelegen haben, denn der erwies sich vor allem als aggressive Attacke auf die Sinne: lautes Geschrei, aufdringlicher Dubstep und epilepsieförderliche Lichtblitze bildeten ein Gesamtpaket, dessen Nervfaktor es mit der Seitenbacher-Radiowerbung aufzunehmen vermag. Den Löwenanteil der Gesangsparts, insbesondere den Refrain, steuerten drei mit faschistoiden Gesichtsvisoren und Sprühflaschen mit aseptischem Haushaltsreiniger bewaffnete Chorsängerinnen bei, die ihre Vokal- und Reinigungsarbeiten aus unerfindlichen Gründen nur mit einem Korsett bekleidet verrichteten. Frau Tīna war unterdessen hauptsächlich damit beschäftigt, die Fransen ihres Salomé-Gedächtnisdresses durch wilde Zuckungen in permanenter Wallung zu halten und gelegentliche, unvermittelte Kiekser und Schreie auszustoßen, so als sei sie besessen.
Voll auf die Zwölf: SamTamta Tīna.
Zähigkeit zahlt sich manchmal auch nicht aus: mindestens ebenso verbissen wie Samanta Tīna versucht es bekanntlich ihr Kollege Miķelis Ļaksa alias Markus Riva, der seit 2014 jedes Jahr einen Beitrag zur Supernova einreicht. Diesmal überstand er mit dem ebenfalls von Aminata mitkomponierten, allerdings wirklich schlechten Popsong ‘Impossible’ jedoch nicht einmal die die Vorauswahl. Denn anstelle des sonst üblichen Semifinales veranstaltete der zuständige Sender LTV, der ob der chronischen Erfolglosigkeit der Supernova lange Zeit mit sich rang, ob er den Song für Rotterdam nicht einfach kostensparend intern auswählen sollte, lediglich ein öffentliches Vorsingen mit 26 Teilnehmer:innen, von denen eine 18köpfige internationale Jury neun für das im Fernsehen übertragene gestrige Finale selektierte. Vier Mitglieder nämlicher internationaler Jury begleiteten die Auftritte der (un-)glücklichen Finalist:innen in der Show mit teils brutal offenen Kommentaren, wobei auch interessante kulturelle Unterschiede zutage traten: ein “Dein Song ist ganz okay” bedeutet aus dem Munde eines finnischen Juroren nämlich ein geradezu ekstatisches Lob, auch wenn es eher verletzend klingt. Doch am Ende spielte die Meinung der Jury keine Rolle, es entschieden die lettischen Zuschauer:innen, und die wählten – jedenfalls nach einem mitten in der Anrufphase eingeblendeten Zwischenstand, das Endergebnis des Televotings teilte LTV traditionell nicht mit – mit ungefährer Eindrittelmehrheit Samanta Tīna.
Der für Sonntagnacht in großen Teilen Westeuropas angekündigte Wintersturm Sabine scheint in Lettland bereits verfrüht zugeschlagen zu haben: die etwas zerzauste Supernova-Zweite Katrīna Dimanta.
Mit deutlichem Abstand auf dem zweiten Rang landete Katrīna Dimanta, die bereits 2014 als Teil des legendären Grand-Prix-Projektes Aarzemnieki (‘Cake to Bake’) auf der ESC-Bühne stand. Ihrem ziemlich zerrupften Outfit zufolge muss sie wohl gemeinschaftlich mit einigen Musikanten ihrer Hochzeitskapelle in letzter Sekunde vor dem Altar geflüchtet sein und zur Feier ihrer wiedergewonnenen Freiheit bereits einen ausführlichen Zug durch die Gemeinde unternommen haben. Musikalisch legte ihr skurriles Ska-Folk-Pop-Jazz-Konglomerat ‘Heart Beats’ einmal mehr beredt davon Zeugnis ab, dass sich Lettland in populärkultureller Hinsicht auf einem anderen Planeten und in einer anderen Zeit befindet als der Rest der Welt. Als tragisch verpasste Chance muss der dritte Platz für die Singer-Songwriterin Anna Madara Pērkone gelten, die unter dem ärgerlich prätentiösen Künstlerinnennamen Annna der bereits im Jahre 1989 von der legendären Evelyn Hamann besungenen ‘Polyester’ ein aktualisiertes popgeschichtliches Denkmal setzte. Annas Ode an die günstige Kunststofffaser überzeugte als gelungene Satire auf das im Hinblick auf den Ressourcenverbrauch, den Umweltschutz und auf Sozialstandards hochproblematische Phänomen der Ein-Euro-Mode, wie sie von Fast-Fashion-Ketten wie Primark und deren Kund:innen unverantwortet wird.
Eine lässige Anklage gegen die aktuellen Auswüchse des Kapitalismus im Endstadium: Annna mit drei N.
Schon vor 31 Jahre lutschte die große Evelyn Hamann dasselbe gelbe Plastikpüree.
Mit dem so cleveren wie coolen ‘Polyester’ hätte Lettland erstmals seit vielen Jahren wieder einen relevanten Song zum Eurovision Song Contest beigesteuert und sich so vielleicht auch die Chance auf einen Finaleinzug gesichert, anders als mit dem nun ausgewählten, altmodischen Kreischalarm. Ein weiterer Beleg für meine These, dass man den Völkern das Stimmrecht über die Auswahl seiner eigenen Beiträge entziehen und in die Hände internationaler Fan-Jurys legen sollte. Als auf allen Ebenen im Wettbewerb chancenlos, aber dennoch auf sanfte Weise schön erwies sich schließlich noch der völlig zu Recht viertplatzierte Supernova-Song ‘I’m falling for you’ des Singer-Songwriters Miks Dukurs, ebenfalls ein ewiger Vorentscheid-Teilnehmer, der es nun schon zum achten Mal probierte. Sein sehr intimes, auf der Akustikgitarre selbst begleitetes Liebeslied eignet sich perfekt als Kuschelrock-Soundtrack für einen am besten zu Zweit im Bett vertrödelten, verregneten Sonntagnachmittag. Vom Liveauftritt bleibt vor allem Miks’ prächtige Pornobalken im Gedächtnis hängen. Sowie das Rätselraten über das Alter des Interpreten: von 25 bis 57 wäre irgendwie jede Zahl glaubhaft.
Für ihn könnte ich schon fallen, wenn er mich so liebevoll ansingt: Miks Dukurs.
Vorentscheid LV 2020
Supernova. Samstag, 8. Februar 2020, aus dem Rīgas Kinostudija, Riga, Lettland. Neun Teilnehmer:innen. Moderation: Toms Grēviņš, Ketija Šēnberga und Beta Beidz.# | Interpreten | Songtitel | Platz |
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01 | Seleste Solovjova-Vlasova | Like me | 06 |
02 | Jānis Driksna | Stay | 09 |
03 | Katrīna Bindere | I will break your Heart | 08 |
04 | Edgars Kreilis | Tridymite | 07 |
05 | Katrīna Dimanta | Heart Beats | 02 |
06 | Miks Dukurs | I’m falling for you | 04 |
07 | Annna | Polyester | 03 |
08 | Bad Habits | Sail with you | 05 |
09 | Samanta Tīna | Still breathing | 01 |
Leck mich fett, ist das geil! 🙂