Hardcore-Grand-Prix-Fans wissen es schon längst: so großartig das Finale und die beiden Semis des Eurovision Song Contest auch sein mögen – das wahre Vergnügen liegt in den nationalen Vorentscheiden! Hier tummeln sich noch die richtig durchgedrehten Beiträge, finden die wahren Abstimmungsdramen statt, lassen sich die Juror:innen praktisch noch direkt bei der Bestechlichkeit zuschauen und manifestieren sich die Mentalitätsunterschiede der europäischen Nationen in der Präsentation ihrer möglichen Eurovisionseinreichungen und der darum gestrickten Shows. Wer einmal dem hypnotischen Sog des fünftägigen San-Remo-Festivals oder der beständig zwischen Höhenrausch und Höllenqual changierenden O Melodi pentru Europa verfiel, weiß, wovon ich rede! Nun setzt sich wohl auch bei den ersten Senderverantwortlichen die Erkenntnis über die Attraktivität dieser Formate durch: wie unter anderem Eurovoix heute berichtet, sicherte sich der spanische Privatsender Ten die iberischen Übertragungsrechte sowohl an der finnischen Vorentscheidung UMK als auch an der Eesti Laul 2022. Der seit 2016 bestehende, ansonsten auf Serien und Reality-Formate fokussierte Kanal scheiterte unterdessen mit seinen Bemühungen, auch das Melodifestivalen zeigen zu können, am schwedischen Rechteinhaber SVT.
Warum sollte man diese Pop-Perlen außerhalb Finnlands nicht sehen können? Das UMK 2021 als Playlist.
Was für mich die Frage aufwirft, warum es erst wieder einen Privatsender braucht, um den Unterhaltungswert der nationalen Vorentscheidungen über die Landesgrenzen hinweg zu erkennen! Warum zur Hölle hat die EBU nicht schon längst verfügt, dass die ihr angeschlossenen, in aller Regel öffentlich-rechtlichen Stationen ihre Vorentscheide dem gesamten Eurovisionsnetz kostenlos zur Verfügung stellen müssen? Zumal auch die staatlichen TV-Sender heute zumeist ein 24-Stunden-Programm zu füllen haben und für jedes günstige Sendematerial dankbar sein müssten? Gerade die ARD mit ihren gefühlt siebenhundert Kanälen könnte sogar die berüchtigten Supersamstage mit ihren teils bis zu acht zeitgleich laufenden Shows problemlos bewältigen und jede von ihnen auf einem anderen ihrer Programme ausstrahlen. Dass ein Festivali i Kënges oder selbst eine Supernova dort weniger Quote machen würde als die sonst gezeigten Fünfhundert schönsten Campingplätze Nordrhein-Westfalens, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Unglückseligerweise jedoch ist man aktuell bei der ARD damit ausgelastet, mit dem Abbau von Polit-Magazinen und dem tatenlosen Zusehen beim Nachrichtenkompetenz-Abfluss in Richtung RTL die letzten Reste ihrer Existenzberechtigung zu zerstören. Und so sollte es mich nicht wundern, wenn wir in Deutschland das Melodi Grand Prix eher eines Tages auf SAT.1 Gold werden verfolgen können als auf One.
https://youtu.be/E3tN-DQx0kA
Nur eines der unzähligen Semis des diesjährigen norwegischen Vorentscheids.
Doch selbst, wenn man konstatiert, dass lineares Fernsehen ohnehin immer mehr an Bedeutung verliert und sich der Medienkonsum ins Netz verlagert, böten die nationalen Vorentscheidungen eine gute Gelegenheit, die Mediatheken (und Youtube-Kanäle) der Öffentlich-Rechtlichen europaweit um diese Programmperlen aufzustocken. Zudem es angesichts des zunehmenden Auseinanderdriftens der europäischen Union eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Aufgaben wäre, gegenzusteuern. Der Eurovision Song Contest spielte schon immer eine entscheidende Rolle dabei, den Menschen dieses komplexe kulturelle Gebilde näherzubringen. Hierzu gehören auch die nationalen Vorentscheide. Zumal man es als unhaltbaren Zustand geißeln muss, dass man im Jahre 2021 teils immer noch auf halblegal-heimliche Streams von Grand-Prix-Fans angewiesen ist, weil manche Sender ihren Content geoblocken. Dass es noch immer kein europaweit frei zugängliches ESC-Archiv mit sämtlichen Shows einschließlich der Vorentscheidungen gibt, illustriert einmal mehr das eklatante Versagen der öffentlich-rechtlichen Sender im Umgang mit einem ihrer attraktivsten Programme. Dass diese nun stattdessen von der privaten Konkurrenz abgegriffen werden, ist schlichtweg beschämend für den gebührenfinanzierten Rundfunk.
https://youtu.be/XSGQiaHfh4E?t=1104
Auch das ist Europa: zwei Stunden bizarres Ballett und merkwürdige Gesänge bei eisigen Temperaturen im Freien in Tirana.
Momentan stehen alle Ampeln für den Song Contest auf Grün.
Es ist schön, dass ein spanischer Privatsender das erkannt hat.
Aber bevor der NDR das merkt weiß das schon jedes Kind in Transnistrien.
Aber egal, Gott sei Dank gibt es Internet und ich kann mir die Perlen der Vorentscheide auch so anschauen.