Im (übrigens stets sehr hörenswerten) NDR2-Postcast ESC Update sprachen Thomas Mohr und Marcel Stober gestern (aufgrund der aktuellen Seuchen-Situation im eisig pfeifenden Wind draußen vor dem Funkhaus) mit der deutschen Delegationsleiterin Alexandra Wolfslast und entlockten ihr ein Stimmungsbild zum anstehenden heimischen Vorentscheid Germany 12 Points, der bekanntlich am 4. März in Berlin stattfinden und diesmal in den Dritten Programm der ARD zu sehen sein wird. Auch, wenn die Namen der mittlerweile von einer sechsköpfigen Jury (fünf Radiomenschen plus Frau Wolfslast) ausgesuchten Teilnehmer:innen bis zu der für den 10. Februar angesetzten Pressekonferenz (mit der supertollen Alina Stiegler!) weiterhin fest unter Verschluss bleiben, gab unsere Grand-Prix-Verantwortliche zumindest ein paar Hinweise zu den Stilrichtungen und dem Staging. Und die lassen nichts all zu Gutes befürchten. So bestätigte die Head of Delegation zwar, dass unter den ursprünglich über 900 Einreichungen “von klassischem deutschen Schlager über Pop/Rock und Metal” alle Musikrichtungen vertreten gewesen seien, darunter “sehr viele Singer-Songwriter, aber auch erstaunlich viele Bands”. Sowie, und hier hörte man das Schaudern in ihrer Stimme, etliche “Spaßsongs”.
Schlechte Aussichten für den öffentlichen Bewerber Ikke Hüftgold (Repertoirebeispiel): Spaß ist in Norddeutschland verboten.
Bei der finalen Auswahl jedoch habe die Aufgabe darin bestanden, so auszusuchen, “dass alle Jurymitglieder und alle neun Sendeanstalten sich hinter den Songs versammeln können”. Denn, so das augenscheinlich fest vereinbarte Ziel der Kooperation zwischen dem Fernsehen und den neun beteiligten ARD-Popwellen: “die Radios werden die Kandidaten spielen”. Das legt im Umkehrschluss nahe, dass die Titel in allererster Linie nach Radiotauglichkeit ausgesucht wurden. Und wer die Programme der sich an eine eher ältere Hörerschaft richtenden Stationen kennt, kann sich ausrechnen, dass besonders innovative und auffällige Titel wohl eher nicht zu erwarten sind. ‘Zitti e buoni’ jedenfalls lief auf diesen Sendern meines Wissens kein einziges Mal. Im Vorgeplänkel erwähnte Frau Wolfslast auf eine entsprechende Frage von Thomas Mohr scherzhaft, dass Ed Sheeran “leider” nicht dabei sei (“der wollte nicht”), und das heraushörbar recht unironische Bedauern darüber gibt schon mal einen Vorgeschmack, wohin die Reise geht. Wobei ich an dieser Stelle einfügen möchte, dass ich hier natürlich pure Kaffeesatzleserei betreibe und mich sehr, sehr, also wirklich ausgesprochen gerne, eines Besseren belehren lasse.
Wir haben noch Ed Sheeran zuhause: Michael Schulte holte unser letztes gutes Ergebnis.
Die Hoffnungen dämpfen müssen wir wohl auch beim Thema Staging, zumindest in Berlin. Das spielte bei den Auditions, wo die Künstler:innen lediglich in einem kleinen Studio vorsangen, nämlich eine sehr untergeordnete Rolle. Man habe dort zwar die “Vision” der Bewerber:innen für die Bühnenperformance “abgefragt” und befinde sich aktuell in Gesprächen zur Vorbereitung der Auftritte beim deutschen Vorentscheid. Spektakulär ausfallen dürften diese aber nicht: “Das wird nicht vergleichbar sein mit Turin, da bin ich mir relativ sicher. Wir werden für Turin dann noch mal eine Schippe drauflegen, einfach auch, um eine Unterscheidbarkeit zu haben und auch, weil wir in einem ganz anderen Setting arbeiten,” so Frau Wolfslast. Soll heißen: richtig Zeit und Geld investieren will der NDR nur in den deutschen Eurovisionsbeitrag, für den Vorentscheid muss es das kleine Budget tun. Was allerdings auch daran liege, dass man aufgrund der zurückliegenden Umstrukturierungen im deutschen Team diesmal “spät dran” sei. “Ich hoffe, dass wir nächstes Jahr früher anfangen können”. Hoffe ich auch, denn fairerweise muss man sagen, dass die für den ESC zu erbringende Arbeit in der knappen Zeit kaum zu stemmen sein dürfte, wofür Frau Wolfslast in Person nichts kann.
In Deutschland (derzeit) völlig undenkbar: ein Vorentscheidungssong, der bereits eine eurovisionsfertige Choreografie beinhaltet.
En passant streute Thomas Mohr seine eigenen Erfahrungen mit den schwerfälligen Prozessen innerhalb der föderal organisierten ARD ein, die mit ein Grund für die spärliche Informationspolitik des Ersten in Sachen ESC sind: “wenn du neun Radiosender hast, eine Pressemitteilung abstimmen willst und jemand was dazu zu sagen hat, verzögert das jedes Mal alles um einen Tag”. Die Zusammenarbeit mit den Funkwellen betrachtet man in Hamburg aber weiterhin als “ein Pfund” und in erster Linie als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber den heimischen Künstler:innen, die vor dem Karriererisiko einer Eurovisionsteilnahme oftmals zurückschrecken (an dem der NDR mit seiner meist stiefmütterlichen Behandlung unserer Repräsentant:innen ein gerüttelt Maß Mitschuld trägt). Vermutlich soll die Aussicht, es in die Heavy Rotation der ARD-Popwellen zu schaffen, als gezieltes Lockmittel für Sänger:innen dienen, die aufgrund coronabedingt weggebrochener Auftrittsmöglichkeiten um so mehr auf die Einnahmen aus der GEMA blicken. Vor allem aber hoffe man, dass mit dem neuen, mehrmedialen Auswahlverfahren diesmal “ganz Deutschland hinter dem Song” stehe, so Alex Wolfslast. “Und das ist ja ehrlicherweise mehr, als wir in den letzten zwei Jahren hatten”. Wohl wahr!
Überzeugte letztes Jahr die Auswahljury, aber nicht die Radiowellen und auch nicht so sehr das heimische Publikum: der quirlige Jendrik.
Mit dem Thema “Deutschland beim ESC” habe ich schon vor Jahr abgeschlossen. Von der Betonkopftruppe beim NDR erwarte ich Nullkommanix, insofern wurde ich nur durch diesen Kommentar bestätigt. Ich dachte immer, es liegt an Schreiber – aber Frau Wolfslast scheint auch nicht gerade viel Élan zu besitzen.
Sehr gute Analyse, Oliver. Mag wie Du schreibst Kaffeesatzleserei sein, aber ich lese das zwischen den Zeilen ähnlich wie Du.
Können wir Rayden klauen?
@4porcelli
Ihr habt Eskimo Callboy, zumindest der (eine) gute Act sollte nicht das Problem sein.
Die Kaffeesatzleserei lässt aber für die weitere Qualität des VE nichts Gutes erahnen…
Ich bin gespannt – denke aber auch, dass alleinig eine Radio-Rotation nicht helfen wird. Der NDR muss sich klar zu den KünstlerInnen bekennen und ihnen die Unterstützung geben, die sie brauchen – man mag von Jendrik halten, was man will, aber der NDR hatte mit ihm einen Eurovision-Liebenden, begeisterten Künstler, der auf alles Lust hatte – aber den Großteil der Pressearbeit hat er, augenscheinlich, alleine machen müssen (vom Musikvideo angefangen, über den auftritt beim spanischen Fanclub und diverse andere social media sachen). Der NDR hat nur die üblichen Pressekonferenzen gegeben und sonst nicht wirklich viel gemacht – wie schon in den Jahren davor. Das ist schade und nicht wirklich motivierend für KünstlerInnen. Ganz zu schweigen, dass man nach dem ESC vom NDR fallen gelassen wird, wie eine heiße Kartoffel.
Ich denke, “lieblos” fasst alles ganz gut zusammen.
Abwarten. Etwas mehr wissen wir dann am 10. Februar und danach bald noch mehr, wenn die Titel tatsächlich bei den Sendern gespielt werden (sollten). Wobei nichts gegen KaffeEsatzleserei gesagt sein soll, denn dafür ist so ein Blog ja unter anderem da, nä? 😉
Übrigens wird mir das Thema “Deutschland beim ESC” niemals egal sein. Ohne deswegen gleich nationalistisch zu sein, interessiert mich schon was da von meinem Land geschickt wird, und wie es zustande kommt. Muss damit persönlich ja nicht einverstanden sein, was wiederum mal so mal so sein kann. Aber interessieren tut’s mich trotzdem, kalt lässt es mich nicht.
Wie jedes Jahr wirkt der NDR wie ein lethargisch-apathisches Konstrukt auf Valium.
Deine kritischen Untertöne kann ich deshalb vollends unterstützen.
Wie immer starte ich in die deutsche ESC-Saison mit dem Motto:
„Das Beste erhoffen aber das Schlimmste erwarten“
…und das wird sich wahrscheinlich auch in den nächsten Jahren nicht ändern; dafür läuft einfach weiterhin zu viel daneben.
O Mann, die haben dieses Mal NOCH später angefangen als sonst? Ist es denn organisatorisch gar nicht möglich, dass der NDR schon mal im Sommer anfängt, etwas für die nächste Vorentscheidung in die Wege zu leiten?
Ich finde man sollte jetzt wirklich mal abwarten, was der NDR/ARD den Zuschauer präsentiert. Danach kann man immer noch genug lästern. Ich erwarte nix, also kann ich auch nicht enttäuscht werden. Zuerst bin ich nur froh und unendlich dankbar, dafür das die unglaublich kompetenten ESC-Experten der ARD uns dummen Zuschauern dann doch wieder zutrauen eine gute Auswahl zu treffen.
@Manuel – das Gejammer, dass der NDR die “Künstler” nicht unterstützt, kann ich gerade bei Jendrik nicht verstehen. Das narzisstische Kind hat letztendlich allen Fans in dem berüchtigten Interview “Fuck you” gesagt. Selber schuld.
@Mareike – gut Dich hier zu sehen! Die Entschuldigung mit “zu spät” kann ich auch nicht nachvollziehen, zumal Wolfslast ja angeblich Event-Experin ist.
Ich finde wir sollten doch etwas optimistischer sein. Ich bin sehr optimistisch, das wir die 3 Punkte aus dem letzten Jahr auch in diesem Jahr ohne große Probleme wieder erreichen können. Es wäre natürlich ein riesiger Erfolg, wenn wir aus dem Televoting mindestens 1 Punkt bekommen würden. Für dieses hohe Ziel setzt sich Frau Wolflast mit feurigem Engagement total ein. Auch hat sie mit Sicherheit die größten Musikexperten des Landes beisammen, die sich ebenfalls alles tun werden um dieses hohe Ziel zu erreichen. Besonders optimistisch können wir sein, wenn wir sehen, wie vielfältig die Musik in den Mainstream Radios doch sind. Denn alle 3 Stunden kommt immer ein anderer Song. Auch das jetzt die dritten Programme die Heimat der VE stimmt mich vollkommen optimistisch. Ist doch schön das es dort noch Platz ist für Minderheitenprogramme. Ich bin mir sicher, die Aussicht vor Publikum im dritten Programm zu singen, wird viele bekannte Künstler anlocken. So das das gleiche Ergebnis wie im letzten Jahr schon mal mindestens sicher ist. Ich bleibe optimistisch, das wir auch in den nächsten Jahrzehnten genauso erfolgreich sein werden wie in den letzten Jahren.
@Mareike: Wenn ich es richtig verstanden habe, hängt die Verspätung damit zusammen, dass nach dem Weggang von Thomas Schreiber zur Degeto letztes Jahr erst mal die Führung neu besetzt werden musste. Ich arbeite ja selbst in einer Behörde, ich kenne das: solange die Leitungsposition vakant ist, arbeitet da niemand an großen Projekten, sonst ist hinterher alles für den Papierkorb. Für 2023 will man aber früher anfangen, das hat Frau Wolfslast selbst gesagt. Außer natürlich, wir machen wieder einen letzten Platz und alles wird wieder über den Haufen geschmissen. In Deutschland lautet das Leitmotiv halt “durchwursteln”, da folgen wir alle dem Vorbild der Politik.
@Jörg: Hey, Ironie! Gefällt mir!
@aufrechtgehn: Ja, das ergibt natürlich Sinn. Ich arbeite für einen kleinen “Durchwurstler” und bin oft der irrigen Auffassung, bei größeren Firmen oder Behörden müsste es doch planvoller und effektiver zugehen als bei uns.
Wenn das so weitergeht, gehen Kopf und Tischplatte irgendwann eine untrennbare Einheit ein. Ich würde ja gern sagen, dass ich auf den ganzen §”&%&/)(/ keine Lust mehr habe und dass die ihren blöden Contest ohne mich machen sollen. Aber ich bin seit 41 Jahren ESC-süchtig, das geht nicht weg. Und deshalb leide ich alljährlich vor mich hin und hoffe auf Besserung, die wohl leider auch dieses Jahr nicht eintreten wird. Alles, was man bisher liest, gibt jedenfalls keinerlei Anlass zu irgendeiner Art von Optimismus.
Gerade gelesen. Angeblich soll eine gewisse Emily Roberts eine erste Kandidatin für die VE sein. Allerdings ist dies noch mit Vorsicht zu genießen, weil dies noch absolut inoffiziell ist.