
Frühjahr 1990: die Mauer war gefallen, Helmut Kohl arbeitete zielstrebig auf die rasche Wiedervereinigung hin (beziehungsweise auf die zügige Einverleibung der DDR als Arbeitslosengeldfinanzierter zusätzlicher Absatzmarkt für West-Produkte). Zeit für einen Aufbruch also, von dem man aber bei der deutschen Eurovisionsvorentscheidung nichts spürte. Zwar gab sich der vom damals verantwortlichen Bayerischen Rundfunk erneut als Moderator verpflichtete Hape Kerkeling alle erdenkliche Mühe, mit “witzischen” Gags und einer brillanten Parodie auf das enttäuschende Vorjahresergebnis (“Und dieses hier, dieser weiße Fleck, ist Österreich”) frischen Wind in die Show zu bringen. Doch erneut scheiterte der grundsätzlich sehr löbliche Versuch der ARD kläglich, durch das Anschreiben der zehn kommerziell erfolgreichsten deutschen Musikproduzent:innen des Vorjahres marktrelevante, aktuelle Popsongs in den Vorentscheid zu hieven.
Nicht nur Barbara Schöneberger kann wunderschöne Entschuldigungslieder auf die Vorjahreskatastrophe singen: lange vor ihr begründete der fabelhafte Hape Kerkeling diese Tradition beim deutschen Vorentscheid 1990.
Denn die so Umworbenen gaben entweder, um sich nicht die Hände schmutzig zu machen am als unrettbar altmodisch empfundenen Grand Prix, ihre Startplätze an die üblichen Verdächtigen weiter. Oder sie schickten Nachwuchshoffnungen mit halbherzigen Schlagerchen. Nicht ein bekannter Name fand sich beim Lied für Zagreb, mal abgesehen von Jürgen Drews, der sich bekanntlich ohnehin für nichts zu schade ist, sowie dem Schauspiel- und Schlagersternchen Isabel Varell, seinerzeit mit Drafi Deutscher liiert, der ihr die vor ranzigem Schmalz nur so triefende, frisch aus den Sechzigerjahren importierte ‘Melodie d’Amour’ auf den drallen Leib komponierte. Und hinterher wegen angeblicher TED-Manipulationen gegen die ARD klagte, weil sein Augenstern – zu Recht – nur Sechste wurde. Der Misserfolg färbte auch auf die Ehe ab: im Jahr darauf ließ sich Varell, deren Karriereweg sie 2004 ins RTL-Dschungelcamp führen sollte, von Drafi scheiden, der seiner Ex daraufhin öffentlich eine (von ihr freilich stets abgestrittene) lesbische Liason mit der RTL-Ansagerin Birgit Schrowange unterstellte. Die fungierte bei Ein Lied für Zagreb pikanterweise als Songpatin: ein Kniff, mit dem die ARD prominente Namen in die Sendung holte, wo schon das Gesangspersonal niemanden hinter dem Ofen hervorzulocken vermochte.
Deutschlands Antwort auf J‑Los Hinterteil: die Varell (derzeit leider nur als Audio verfügbar).
Drews, der spätere “König von Mallorca”, zersang hier fahrig einen von Hanne Haller beigesteuerten, wirklich grottenschlechten Schlager über das ‘Alpenglühn’, das in seinem Falle vermutlich eher dem Jagertee zuzuschreiben gewesen sein dürfte. Als Zuhörer:in jedenfalls zeigte man sich geneigt, sich mit Hochprozentigem die Birne zuzulöten, um den Scheiß überhaupt ertragen zu können. Auch der deutsche Schlagerkaiser, der Roland, wirkte hier nicht als Interpret, sondern als Komponist: sein moderat uptemporäres, in Zusammenarbeit mit dem Discoschlagerkönig Joachim Heider (‘Er gehört zu mir’, DVE 1975) geschriebenes ‘Wetten dass’, bei dem es natürlich, wie immer beim Kaiser, um die Anbahnung außerehelichen Geschlechtsverkehrs ging, gehörte zu den am wenigsten schmerzbringenden Beiträgen des Abends. Allerdings betrauten die Beiden damit die in den Kategorien Stimme und Ausstrahlung geringfügig überfordert wirkende Nachwuchshoffnung Mara Laurien, die Hape Kerkeling mit den Worten “es gibt ja leider das kleine Problem, dass heute Abend nicht so viele bekannte Gesichter mitmachen” ausgesprochen charmant anmoderierte. Lustig: der “Produzentenfilm” für das Team um den Werbefilm-Komponisten Mino Siciliano (‘Go for Gold’) entstand im einem Frankfurter Restaurant direkt bei mir um die Ecke. Weniger lustig: das von Siciliano verfasste, nervtötende ‘Melissa’, gesungen von Divo (wer?).
Stock / Aitken / Waterman haben angerufen und wollen ihre Beats zurück: Mara Laurien.
Ansonsten bevölkerten Bands wie Starlight oder Malibu die Auswahl, die also das Scheitern bereits im Namen trugen. Mit solchen bildungsfernen Perlen wie ‘Hollywood ist besser als Latein’ hätte man sie fraglos bei jedem Sparkassen-Nachwuchsabend achtkantig rausgeworfen. Die ARD griff, geschlagen von purer Verzweiflung, zu. Unter den Blinden ist der Einäugige bekanntlich König, und so gewann praktisch konkurrenzlos mal wieder der notorische Ralph Siegel, der zwei völlige No-Names aussuchte, sein in der Titelzeile offensichtlich auf die frische Wiedervereinigungseuphorie zielendes, nichtsdestotrotz bitteschön bloß nicht politisch misszuverstehendes Liedchen ‘Frei zu leben’ vorzutragen. Der Deutschslowene Daniel Kovac, der den Liedauftakt gleich mal gründlich versemmelte und im Übrigen kaum einen Ton richtig traf, hatte sich in den Achtzigern als Musikvideo-Ansager beim zwischenzeitlich eingestellten Münchener Privatsender musicbox, dem Vorläufer von Tele 5, durch unsubstantiiertes Coolnessgehampel bereits sehr unangenehm profiliert. Seine so debil wie devot dreinblickende Partnerin Chris Kempers war und blieb ein unbeschriebenes Blatt.
Könnten Mauern zersingen: K+K beim Tönequälen
Neben den peinlichen Anwanzern K+K gab es tatsächlich noch einen Versuch, sich mit den aktuellen politischen Ereignissen zu befassen. Die Gruppe Kennzeichen D, schon optisch leicht als Beitrittsgebietler auszumachen (gut, die hatten ja 40 Jahre lang nichts, auch keinen Frisuren- oder Modegeschmack) sang ‘Wieder zusammen’, kam jedoch nur auf den achten Platz. Manipulierte, wie manche vermuteten, hier der Bayerische Rundfunk den TED, um zu verhindern, dass ein Beitrag eines politisch unliebsamen Songschreibers weiterkommt? Schließlich gehört der Komponist und Texter des Liedes, Diether Dehm, zu den prominenten Linken und schrieb unter anderem den deutschen Text zum Agitationssong ‘Aufstehn’ der bots. Dehm produzierte seinerzeit zudem den Kabarettisten und Kohl-Stimmen-Imitatoren Stephan Wald (‘Hungergala’), der hier sowohl als Pate fungierte als auch ein paar Kanzler-Zitate beisteuerte. Das kam beim augenscheinlich ziemlich konservativen Publikum im Deutschen Theater zu München nicht so gut an: Buhrufe aus dem Saal für die halbparodistische (und, ehrlich gesagt, musikalisch arg erbärmliche) Nummer. Wenn auch nicht ganz so laut wie später bei der Bekanntgabe der Siegel-Sieger.
1990 ein Top-Hit in Deutschland: ‘No more Bolero’s’ (sic, mit Deppenapostroph) von Gerard Joling (NL 1988)
Deutsche Vorentscheidung 1990
Ein Lied für Zagreb. Samstag, 29. März 1990, aus dem Deutschen Theater in München. Zehn Teilnehmer:innen, Moderation: Hape Kerkeling.# | Interpreten | Songtitel | Anrufe | Platz | Charts |
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01 | Isabel Varell | Melodie d’Amour | 03.837 | 06 | - |
02 | Chris Kempers + Daniel Kovac | Frei zu leben | 11.955 | 01 | 51 |
03 | Jürgen Drews | Alpenglühn | 01.267 | 09 | - |
04 | Mara Laurien | Wetten, dass | 02.601 | 07 | - |
05 | Bandit | Alles, was ich haben will | 04.064 | 05 | - |
06 | Divo | Melissa | 06.004 | 04 | - |
07 | Xanadu | Paloma Blue | 08.534 | 02 | - |
08 | Kennzeichen D | Wieder zusammen | 02.454 | 08 | - |
09 | Malibu | Eine Nacht voll Zärtlichkeit | 01.180 | 10 | - |
10 | Starlight | Hollywood ist besser als Latein | 06.723 | 03 | - |