
Frühjahr 1990: die Mauer war gefallen, der damalige Kanzler Helmut Kohl (“Blühende Landschaften”) arbeitete zielstrebig auf die Wiedervereinigung hin, beziehungsweise auf die zügige Einverleibung der ehemaligen DDR als arbeitslosengeldfinanzierter zusätzlicher Absatzmarkt für West-Produkte. Zeit für einen Aufbruch also, von dem man aber bei der deutschen Eurovisionsvorentscheidung so gut wie nichts spürte. Zwar gab sich der vom verantwortlichen Bayerischen Rundfunk (BR) erneut als Moderator verpflichtete Hape Kerkeling alle erdenkliche Mühe, mit “witzischen” Gags und stichelnden Kommentaren über das enttäuschende Vorjahresergebnis (“Und dieses hier, dieser weiße Fleck, ist Österreich”) frischen Wind in die Show zu bringen. Doch erneut scheiterte der grundsätzlich sehr löbliche Versuch der ARD kläglich, durch das Anschreiben der zehn kommerziell erfolgreichsten deutschen Musikproduzent:innen des Vorjahres marktrelevante, aktuelle Popsongs und Acts von der A‑Liste in den Vorentscheid zu hieven. Denn dieser konnte sich durch die weiterhin bestehende Landessprachenpflicht nicht vom Nimbus des vollkommen unzeitgemäßen Schlagerfriedhofs befreien. Zwar fanden sich 1990 nach längerer Durststrecke auch wieder muttersprachliche Lieder in den Verkaufscharts, doch handelte es sich dabei meist um Blödeltitel wie ‘Ding Dong’ (EAV) oder volkstümelnden Schlagerhorror wie ‘Herzilein’: Deutsch als die Sprache dumpfer Deppen.
Nicht nur Barbara Schöneberger kann wunderschöne Entschuldigungslieder auf die Vorjahreskatastrophe singen: lange vor ihr begründete der fabelhafte Hape Kerkeling diese Tradition beim deutschen Vorentscheid 1990.
Und so gaben die Umworbenen, um sich nicht die Hände schmutzig zu machen am als unrettbar altmodisch empfundenen Grand Prix, ihre Startplätze an die üblichen Verdächtigen weiter. Oder sie schickten eigene Nachwuchshoffnungen mit halbgaren Schlagerchen. Bei den Interpret:innen fand sich nicht ein bekannter Name beim Lied für Zagreb, mal abgesehen von Jürgen Drews, der sich bekanntlich ohnehin für nichts zu schade ist, sowie dem Schauspiel- und Schlagersternchen Isabel Varell, seinerzeit mit Drafi Deutscher liiert, der ihr die vor ranzigem Schmalz nur so triefende, frisch aus den Sechzigerjahren importierte ‘Melodie d’Amour’ auf den drallen Leib komponierte. Und hinterher wegen angeblicher TED-Manipulationen gegen die ARD klagte, weil sein Augenstern – zu Recht – nur Sechste wurde. Der Misserfolg färbte auf die Ehe ab: im Jahr darauf ließ sich Varell, deren Karriereweg sie 2004 ins RTL-Dschungelcamp führen sollte, von Drafi scheiden, der seiner Ex daraufhin öffentlich eine (von ihr freilich stets abgestrittene) lesbische Liason mit der RTL-Ansagerin Birgit Schrowange unterstellte. Die fungierte bei Ein Lied für Zagreb pikanterweise als ihre Songpatin: ein Kniff, mit dem die ARD prominente Namen in die Sendung holte, wo schon das Gesangspersonal niemanden hinter dem Ofen hervorzulocken vermochte.
Die Playlist mit den verfügbaren Beiträgen, teils nur als Audio verfügbar.
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Die Pat:innen wiederum nutzten die Gelegenheit im Plausch mit Hape zur ausführlichen Eigenreklame für ihre jeweils aktuellen Projekte, was zu einer zwanzigminütigen Überziehung der Sendezeit führte. Drews, der spätere “König von Mallorca”, zersang fahrig einen von Hanne Haller beigesteuerten, wirklich grottenschlechten Schlager mit der geradezu gipfelhaft eigenironischen Auftaktzeile: “Und ich will mich nie wieder schämen”. Solltest Du aber! Als Zuhörer:in jedenfalls verspürte man das Verlangen, sich die Birne bis zum ‘Alpenglühn’ mit Jagertee zuzulöten, um den Scheiß ertragen zu können. Der deutsche Schlagerkaiser, der Roland, wirkte hingegen nicht als Interpret mit, sondern als Komponist: sein im topaktuellen Stock-Aitken-Waterman-Soundbett gehaltenes, in Zusammenarbeit mit dem Discoschlagerkönig Joachim Heider (‘Er gehört zu mir’) geschriebenes ‘Wetten dass’, bei dem es um den Einsatz von Sex als schnellen Eisbrecher bei der Beziehungsanbahnung ging, war tatsächlich der am wenigsten schmerzbringende Beitrag des Abends. Allerdings betrauten die Zwei damit die in den Kategorien Stimme und Ausstrahlung geringfügig überfordert wirkende Newcomerin Mara Laurien, von der man im Anschluss nie wieder etwas hörte.
It’s never too late… um diesen Song an seine rechtmäßige Besitzerin Kylie Minogue zurückzugeben: Mara Laurien.
Was vielleicht auch daran gelegen haben mag, dass Hape Kerkeling, der aus seinem Verdruss am Vorentscheidungs-Lineup ohnehin kein all zu großes Geheimnis machte, sie mit der Feststellung “es gibt ja leider das kleine Problem, dass heute Abend nicht so viele bekannte Gesichter mitmachen” ausgesprochen uncharmant anmoderierte. Lustig: der “Produzentenfilm” (also die Vorstellungs-MAZ) für das Team um den Frankfurter Werbefilm(!)-Komponisten Mino Siciliano, Schöpfer der ARD-Olympia-Melodie ‘Go for Gold’, entstand in einem sehr guten mexikanischen Restaurant direkt bei mir um die Ecke. Weniger lustig: der von Siciliano verfasste Pseudo-Popera-Schleimpropfen ‘Melissa’, von einem Divo (wer?) in jede einzelne Silbe massiv überbetonender Pseudotenor-Aussprache vorgeknödelt. Ansonsten bevölkerten so illustre Wegwerf-Retortenbands wie Starlight oder Malibu die Auswahl, die also das Scheitern bereits im Namen trugen. Mit solchen bildungsfernen Perlen wie ‘Hollywood ist besser als Latein’ hätte man sie fraglos bei jedem Sparkassen-Nachwuchsförderungsabend achtkantig rausgeworfen. Die ARD griff, geschlagen von purer Verzweiflung, hingegen zu.
Xanadu wollten die Tauben von Drüben anlocken (“Fliege durch das Dunkel auf das Licht der Freiheit zu”). Gelang nicht ganz: Platz 2, wie schon im Vorjahr.
Unter den Tauben ist der Einohrige bekanntlich König, und so gewann gewissermaßen konkurrenzlos mal wieder der notorische Ralph Siegel, der seinen Startplatz diesmal dem Mannheimer Werbefilm(!)-Komponisten Ralf Zang (Vorjahreshit: ‘Schatten an der Wand’ von Jule Neigel) abkaufte verdankte. Der Ph-Ralph wiederum beauftragte zwei völlige No-Names, sein in der Titelzeile sehr vage auf die Wiedervereinigungseuphorie zielendes, nichtsdestotrotz um Himmels Willen bloß nicht politisch misszuverstehendes Liedchen ‘Frei zu leben’ vorzutragen. Der vermutlich passend zum ESC-Austragungsort Zagreb ausgesuchte Deutschslowene Daniel Kovac, der den Songauftakt gleich mal gründlich versemmelte und im Übrigen kaum einen Ton richtig traf, hatte sich in den Achtzigern als Videoclip-Ansager beim zwischenzeitlich längst eingestellten Münchener Privatsender musicbox, dem Vorläufer von Tele 5, durch unsubstantiiertes Coolnessgehampel bereits sehr unangenehm profiliert. Seine so debil wie devot dreinblickende Partnerin Chris Kempers (1988 noch Chorsängerin bei der Schlagerkapelle Rendezvous) hatte Siegel beim einem TV-Auftritt als Jennifer-Rush-Imitatorin in der Show Donnerlippchen entdeckt. Nach dem ESC folgte das übliche Prozedere: die umgehende Auflösung des Duos und das zügige Zurück in die Versenkung.
“Lasst uns gemeinsam über alle Grenzen gehen”: davon träumten die tausenden von Frontex an den Zäunen der Festung Europa aktiv oder passiv getöteten Menschen sicherlich auch mal.
Neben den peinlichen Anwanzern K+K gab es tatsächlich einen Versuch, sich mit den aktuellen politischen Ereignissen einigermaßen ernsthaft zu befassen. Die Gruppe Kennzeichen D, schon optisch leicht als Beitrittsgebietler auszumachen (gut, die hatten ja 40 Jahre lang nichts, auch keinen Frisuren- oder Modegeschmack) sang ‘Wieder zusammen’, kam jedoch nur auf den achten Platz. Manipulierte, wie manche vermuteten, hier der Bayerische Rundfunk den TED, um zu verhindern, dass ein Beitrag eines politisch unliebsamen Songschreibers weiterkommt? Schließlich gehörte der mittlerweile leider in die verschwörungsgläubige Aluhut-Ecke abgedriftete Komponist und Texter des Liedes, Diether Dehm, damals zu den prominenten Linken und schrieb unter anderem den deutschen Text zum Agitationssong ‘Aufstehn’ der bots. Dehm produzierte seinerzeit zudem den Kabarettisten und Kohl-Stimmen-Imitatoren Stephan Wald (‘Hungergala’), der hier sowohl als Pate fungierte als auch live ein paar Kanzler-Zitate beisteuerte. Das kam beim augenscheinlich ziemlich konservativen Publikum im Deutschen Theater zu München nicht so gut an: Buhrufe aus dem Saal für die halbparodistische (und musikalisch eher maue) Rock-Nummer. Wenn auch nicht ganz so laut wie später bei der Bekanntgabe der Siegel-Sieger.
Der Dieter-Bohlen-Doppelgänger Matthias Reim, beim Vorentscheid 1988 noch als Komponist für seinen Frisurenfreund Bernhard Brink am Start, hatte 1990 mit seinem Signatur-Song ‘Verdammt ich lieb Dich’ (Repertoirebeispiel) die Nummer 1 der Jahrescharts. Vom Grand Prix hielt er sich nun allerdings fern.
Deutsche Vorentscheidung 1990
Ein Lied für Zagreb. Samstag, 29. März 1990, aus dem Deutschen Theater in München. Zehn Teilnehmer:innen, Moderation: Hape Kerkeling. Televoting.# | Interpreten | Songtitel | Anrufe | Platz | Charts |
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01 | Isabel Varell | Melodie d’Amour | 03.837 | 06 | - |
02 | Chris Kempers + Daniel Kovac | Frei zu leben | 11.955 | 01 | 51 |
03 | Jürgen Drews | Alpenglühn | 01.267 | 09 | - |
04 | Mara Laurien | Wetten, dass | 02.601 | 07 | - |
05 | Bandit | Alles, was ich haben will | 04.064 | 05 | - |
06 | Divo | Melissa | 06.004 | 04 | - |
07 | Xanadu | Paloma Blue | 08.534 | 02 | - |
08 | Kennzeichen D | Wieder zusammen | 02.454 | 08 | - |
09 | Malibu | Eine Nacht voll Zärtlichkeit | 01.180 | 10 | - |
10 | Starlight | Hollywood ist besser als Latein | 06.723 | 03 | - |
Letzte Aktualisierung: 27.04.2023