Die Türk­vi­zyon: ein homo­frei­er Gegen-Grand-Prix?

Im Dezem­ber die­sen Jah­res ver­an­stal­tet, wie bereits berich­tet, das tür­ki­sche Fern­se­hen TRT erst­ma­lig die Türk­vi­zyon, eine Art Gegen-Grand-Prix eura­si­scher Län­der und Regio­nen mit star­ken Turk­volk-Antei­len. Zwan­zig Kom­bat­tan­ten tre­ten vom 19. bis 21. Dezem­ber 2013 im ana­to­li­schen Eskişe­hir gegen­ein­an­der an. Auf der Lis­te der Teil­neh­mer­län­der fin­det sich zunächst das Erwart­ba­re: neben der Tür­kei und dem Bru­der­staat Aser­bai­dschan zählt dazu das tür­kisch besetz­te Nord­zy­pern sowie eine Rei­he von osma­nisch gepräg­ten Kau­ka­sus­staa­ten und auto­no­men ehe­ma­li­gen Sowjet­re­pu­bli­ken. Auch die Teil­nah­me des mehr­heit­lich mus­li­misch ori­en­tier­ten Bos­ni­ens – wie vie­le der ande­ren Län­der übri­gens ver­tre­ten von einem Pri­vat­sen­der – über­rascht nicht. Im Gegen­satz zu Russ­land, der Ukrai­ne, Geor­gi­en, Mol­da­wi­en und Weiß­russ­land: Staa­ten, die nach mei­ner bis­he­ri­gen Wahr­neh­mung deut­lich weni­ger tür­kisch geprägt sein dürf­ten als bei­spiels­wei­se Deutsch­land. Auch wenn etli­che die­ser Län­der vor­aus­sicht­lich bei bei­den Ver­an­stal­tun­gen mit­ma­chen: hier könn­te der EBU eine star­ke Kon­kur­renz erwach­sen – und ein pro­ba­tes Druck­mit­tel für publi­kums­star­ke Sen­der aus dem eura­si­schen Raum, die eige­nen Reform­vor­stel­lun­gen bei­spiels­wei­se zum unge­lieb­ten Big-Five-Pri­vi­leg durch­zu­set­zen. Oder auch die eige­nen kul­tu­rel­len Wer­te: wie Wiwi­b­loggs heu­te unter Bezug auf die Nach­rich­ten­sei­te NewsRU.com berich­tet, haben Ein­woh­ner Weiß­russ­lands eine Peti­ti­on gestar­tet, die das staat­li­che Fern­se­hen auf­for­dert, bei der Über­tra­gung des Euro­vi­si­on Song Con­test 2014 den Auf­tritt der öster­rei­chi­schen Ver­tre­te­rin Con­chi­ta Wurst aus­zu­blen­den, da die­ser nicht den “nor­ma­len und gesun­den Fami­li­en­wer­ten” des Lan­des entspräche.

The Wurst is yet to come: die fabel­haf­te Conchita.

Nun ist kaum damit zu rech­nen, dass Lukaschen­ko die­sem Ansin­nen folgt: weiß der bela­rus­si­sche Dik­ta­tor doch nur zu gut, dass dies einen (zumin­dest tem­po­rä­ren) Aus­schluss sei­nes Lan­des vom Euro­vi­si­on Song Con­test zur Fol­ge hät­te. Und ähn­lich wie der Ali­yev-Clan ist auch Lukaschen­ko viel zu sehr an gewinn­brin­gen­den Bezie­hun­gen zur Euro­päi­schen Uni­on inter­es­siert. Den­noch stärkt natür­lich die Teil­nah­me auch sei­nes Pro­tek­to­ra­tes, in dem tür­kisch­stäm­mi­ge Min­der­hei­ten wie Tata­ren und Aser­bai­dscha­ner laut Wiki­pe­dia gera­de mal 0,2% der Bevöl­ke­rung aus­ma­chen, an der Türk­vi­zyon den Stel­len­wert die­ses Gegen-Grand-Prixs, des­sen Ent­ste­hung mei­ner Ver­mu­tung nach auch mit rück­wärts­ge­wand­ten Wer­ten zu tun haben könn­te. So wur­de schon bei der unlängst aus­ge­strahl­ten, von der EBU lizen­zier­ten Wie­der­ho­lung des Euro­vi­si­on Song Con­test 2013 im asia­ti­schen Raum der les­bi­sche Kuss zwi­schen Kris­ta Sieg­fri­ds (‘Mar­ry me’, FI) und ihrer Chor­sän­ge­rin her­aus­ge­schnit­ten. Über das homo­pho­be rus­si­sche Gesetz “gegen Pro­pa­gan­da nicht-tra­di­tio­nel­ler Lebens­wei­sen” wur­de bereits aus­führ­lich berich­tet. Mol­da­wi­en, eines der über­ra­schen­den Teil­neh­mer­län­der der Türk­vi­zyon, hat ein ähn­li­ches Gesetz zwar vor eini­gen Tagen zurück­ge­nom­men, um die Bei­tritts­an­bah­nun­gen mit der Euro­päi­schen Uni­on nicht zu gefähr­den. Dass zuvor ein sol­ches über­haupt erlas­sen wur­de, illus­triert aber die tie­fe Ver­wur­ze­lung der Homo­pho­bie jen­seits des ehe­ma­li­gen Eiser­nen Vorhangs.

You’­re hiding Boys in your Bras­siè­re: t.A.T.u.s Auf­tritt von 2003 stün­de heu­te in Russ­land unter Strafe.

Was mir vor allem des­we­gen beson­ders bedau­er­lich erscheint, weil die Türk­vi­zyon-Län­der, statt sich zu sepa­rie­ren, einen span­nen­den Bei­trag zur kul­tu­rel­len Viel­falt beim Euro­vi­si­on Song Con­test lie­fern könn­ten. Das zeigt sich schon an den zwei bereits fest­ste­hen­den Teil­neh­mern: der ame­ri­ka­nisch beein­fluss­ten bos­ni­schen Rock­band Emir & the fro­zen Camels (Anspiel­tipp: ‘Sara­je­vo, New York, Roma’) sowie der eher tra­di­tio­na­lis­ti­schen Sän­ge­rin Fazi­le Ibrai­mo­va, die im Sep­tem­ber den auf der Krim abge­hal­te­nen Musik­wett­be­werb Eas­tern Bazaar 2013 gewann und die auto­no­me ukrai­ni­sche Repu­blik die Ukrai­ne in Eskişe­hir ver­tre­ten wird. Bei­de hät­te ich, offen gespro­chen, lie­ber beim Euro­vi­si­on Song Con­test dabei! Und auch auf Songs aus Län­dern wie Kir­gi­si­en wäre ich gespannt. Sehr scha­de also, dass die­se lie­ber im eige­nen Saft schmo­ren. Sie müs­sen ja nicht gleich west­lich-deka­den­te Pseu­do­les­ben oder bär­ti­ge Frau­en schi­cken – aber ein Mit­ein­an­der ist doch immer gewinn­brin­gen­der als ein Gegeneinander! 

Fazi­le Ibrai­mo­vas Bei­trag für die Ukrai­ne heißt ‘Sava­ge’.

Türk­vi­zyon 2013: die Teilnehmerliste

1. Song Con­test des tür­ki­schen Kul­tur­rau­mes. 19. und 21.12.2013 in Eskişe­hir, Türkei.
Land / Repu­blikTeil vonInter­pretSongÜber­set­zung
AltaiRUArtur Mar­lu­jo­kovAltayım MeninMein Altai
Aser­bai­dschanAZFərid Həsə­novYaşaLeben
Bal­ka­ri­enRUEldar Zha­nikaevAdam­dı Biz­ni AtıbızSein Name ist Adam
Basch­kor­to­stanRUDia­na IshniyazovaKuray Şar­kısıDas Qurai-Lied
Bos­ni­enBAEmir & the fro­zen CamelsTers Bosan­kaZän­ki­sche Bosnierin
Cha­kas­si­enRUVla­di­mir DorjuTus çirin­deTraum
Gag­au­si­enMDLud­mi­la TukanVer­nis LubovKomm, mein Schatz
Geor­gi­enGEEynar Bal­a­kişi­yev + Afik NovruzovKal­bi­ni Saf TutHal­te dein Herz rein
IrakIQAhmed Duz­luKer­kü­k’­ten yola ÇıkakVon Kir­kuk aus
Kasach­stanKZRin’­GoBir­lik­pen AlğaGemein­sam voran
Keme­ro­woRUÇıl­dız TannakeşevaŞoriya’nın UnuDer Klang Bergschoriens
Kir­gi­si­enKGÇoroKay­gır­baSei unbe­sorgt
Koso­voKO (RS)Ergin Karaha­sanŞu Priz­renNach Priz­ren
KrimUAElvi­ra SarihalilDağların EllarıBerg­pfa­de
Maze­do­ni­enMKİlk­ay YusufDüş­ler­de YaşamakLeben in Träumen
Nord­zy­pernCYGom­ma­larHavalanıyorAuf­stei­gend
Rumä­ni­enROGenghiz Erhan CutcalaiAy Ak ShatırWei­ße Linie
Sacha (Jaku­ti­en)RUOlga Spi­ri­do­no­vaSulus Uon­na TuunFlie­gend
Tatar­stanRUAli­na ŞaripjanovaÜpkel­emimIch bin nicht nachtragend
Tür­keiTRMan­ev­raSen, Ben, BizDu, ich, wir
TuwaRUSai­lyk OmmunCavi­dakOhne Sat­tel
Ukrai­neUAFazi­le IbraimovaElmalımMein Apfel
Usbe­ki­stanUZNilü­fer UsmanovaUnut­ginVer­giss mich
Weiß­russ­landBYGunesh Aba­so­vaSon hati­ra­larLetz­te Erinnerungen

Die Türk­vi­zyon: Bedro­hung für den ESC oder Bereicherung?

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12 Comments

  • Hal­lo,

    man muss bei­des, ESC und Türk­vi­zyon von­ein­an­der tren­nen, denn die Ent­schei­dung, die Türk­vi­zyon zu ver­an­stal­ten, wur­de nicht bei TRT getroffen. 

    Die Regie­rung Erdo­gan ver­sucht auf die­se Wei­se dem Vor­wurf zu begeg­nen, man habe sich vom Kema­lis­mus abge­wandt. Klei­ner, sehr redu­zier­ter, Ein­schub: Kemal Ata­türk hat nicht nur den Lai­zis­mus zum Dog­ma gemacht, son­dern war auch in den letz­ten Jah­ren des Osma­ni­schen Reichs Teil der Jung­tür­ken-Bewe­gung. Wäh­rend die Pfor­te, also der Sul­tan, Jahr­hun­der­te lang sei­nen Macht­an­spruch dar­aus ablei­te­te, dass man die Hoheit über Mek­ka, Medi­na und Jeru­sa­lem hat­te, also die hei­li­gen Stät­ten des Islam, pro­pa­gier­ten die Jung­tür­ken eine Abkehr von der Füh­rungs­rol­le in der mus­li­mi­schen Welt hin zu einer Füh­rungs­rol­le in der tür­ki­schen Welt. Erdo­gan hin­ge­gen ist der ers­te tür­ki­sche Regie­rungs­chef, der die tür­ki­sche Außen­po­li­tik wie­der auf die mus­li­mi­sche Welt, vor allem den ara­bi­schen Raum, aus­ge­rich­tet hat, und sieht sich des­halb hef­ti­ger Kri­tik von Kema­lis­ten aus­ge­setzt. Mit der Türk­vi­zyon soll das Signal aus­ge­sandt wer­den, dass man außen­po­li­tisch immer noch die Füh­rungs­rol­le in der tür­ki­schen Welt bean­sprucht. Wird es funk­tio­nie­ren? Mei­ner Ansicht nach nicht. Die Musik spielt in der tür­ki­schen Welt schon längst woan­ders – wenigs­ten poli­tisch und wirtschaftlich.

    Die Absa­ge an den ESC hat wie­der­um ande­re Grün­de, auch wenn es eini­ge Über­schnei­dun­gen gibt. Zunächst ein­mal hat der ESC aktu­ell poli­tisch in der Tür­kei weni­ge Unter­stüt­zer. Eine Zeit lang wur­de er als Mög­lich­keit gese­hen, sich in Rich­tung Euro­pa zu prä­sen­tie­ren, um damit poli­ti­sche Zie­le, vor allem die EU-Mit­glied­schaft zu for­cie­ren. Das aber hat aktu­ell kei­ne Prio­ri­tät, und damit muss sich die Sen­dung allein durch ihre Meri­ten bewäh­ren – die Kos­ten und die Zuschau­er­zah­len wer­den mit­ein­an­der ver­gli­chen, die Ver­ant­wort­li­chen müs­sen es recht­fer­ti­gen. Das: “Wir machen es, egal was es kos­tet, und wie vie­le Leu­te zuschau­en” gibt es also aktu­ell nicht mehr.

    Und da sieht es dann so aus: Der ESC ver­ur­sacht hohe Kos­ten; es war die teu­ers­te Sen­dung im tür­ki­schen Fern­se­hen, Und seit eini­gen Jah­ren fällt, übri­gens nicht nur in der Tür­kei, auf, dass die Zuschau­er­zah­len ab einer bestimm­ten Uhr­zeit mas­sivst in den Kel­ler gehen. Eine gan­ze Rei­he von Sen­dern monie­ren, dass der Wett­be­werb ein Dra­ma­tur­gie­pro­blem hat. Wenn man das Fan-Den­ken bei­sei­te lässt, dann fällt auf, dass bereits nach weni­gen Punk­te­ver­ga­ben bereits klar ist, wel­che Län­der das Ren­nen unter sich aus machen. Und wenig spä­ter ist dann auch schon klar, wer wahr­schein­lich gewin­nen wird. Jemand, der kei­ne emo­tio­na­le Bin­dung an den ESC hat, schaut sich das nicht bis zum Ende an – und noch viel weni­ger so, wenn es schon mit­ten in der Nacht ist. 

    Als pro­ble­ma­tisch wird auch gese­hen, dass das Vor­feld meist Mit­tel­maß ist. Und dass das Mit­tel­maß immer etwas ist, mit dem der Zuschau­er nicht mit­fühlt, es sei denn, es ist das eige­ne Land. Man muss einen Bei­trag sehr mögen, oder sehr has­sen, um bis zum Ende mit­zu­ge­hen. Aber das Mit­tel­maß ist etwas, was ein­fach gleich­gül­tig ist. 

    Ein wei­te­res Pro­blem, das immer wie­der ange­führt wird ist, dass sehr vie­le Sen­der das Gefühl haben, ihre Beden­ken nicht in ange­mes­se­ner Form in die Ent­schei­dungs­pro­zes­se ein­brin­gen zu kön­nen. Der EBU wird vor­ge­wor­fen, intrans­pa­rent zu sein, und nur die Inter­es­sen von eini­gen weni­gen Sen­dern zu vertreten,

  • Russ­land ist doch eigent­lich von vor­ne bis hin­ten christ­lich-ortho­dox und den Kau­ka­si­ern, bzw. Zen­tral­asia­ten, die z.T. Ange­hö­ri­ge von Turk­völ­kern sind, schlägt außer­dem gera­de in Mos­kau rich­ti­ger Hass ent­ge­gen: http://www.focus.de/politik/ausland/russland-den-russen-migranten-fuerchten-in-moskau-um-ihr-leben_aid_1128950.html

    Des­we­gen wun­de­re ich mich übri­gens, dass die Rus­sen den Weg dahin gefun­den haben. Viel­leicht wol­len sie Aser­bai­dschan irgend­was wie­der­gut­ma­chen nach die­ser einen Voting­pro­ble­ma­tik (als Russ­land nichts aus Aser­bai­dschan bekam) oder was auch immer.

    Die Türk­vi­zyon ist weder Bedro­hung noch Berei­che­rung. Der tür­ki­sche Minis­ter­prä­si­dent Recep Tayyip Erdo­gan will halt sei­nen Traum vom groß­tür­ki­schen Reich leben und tut das auch mit sei­ner ESC-Kopie. Sol­len die Tür­ken das doch machen! Dann gibt’s auch kein Gejam­mer mehr dar­über, dass sie wegen den dis­kri­mi­nie­ren­den Juro­ren nur Sieb­te gewor­den sind und nicht Vierte.

  • Ich ver­mu­te eher mal, dass Müt­ter­chen Russ­land da Prä­senz zei­gen will, damit die gan­zen auto­no­men Repu­bli­ken wie Tatar­stan nicht auf dum­me Gedan­ken kom­men. Und dass der Erdo­gan da sein eige­nes Ding durch­zie­hen will, beun­ru­higt mich nicht so sehr – aber, dass da auch (für mein Emp­fin­den) Euro­vi­si­ons-Stamm­län­der wie die Ukrai­ne oder Bos­ni­en mit­ma­chen. Nach­her wan­dern die uns noch ab, und das möch­te ich nicht!

  • Span­nen­der Auf­satz, dan­ke sehr!

    Das mit den Zuschau­er­zah­len erklärt auch ein biss­chen, war­um die EBU stän­dig am Voting her­um­schraubt, sei es beim Aus­zäh­lungs­ver­fah­ren oder der Prä­sen­ta­ti­on (also, dass bei­spiels­wei­se die Län­der­vo­ten nicht mehr in alpha­be­ti­scher oder Auf­tritts­rei­hen­fol­ge vor­ge­le­sen wer­den, son­dern so, dass das Ergeb­nis mög­lichst span­nend wird).

    Um so ärger­li­cher, dass die Jury­be­tei­li­gung Mit­tel­maß bei den Lie­dern ja eher fördert.

  • ich fin­de es eine aus­ge­spro­che­ne berei­che­rung dass sich sozu­sa­gen ein spin-off bil­det – und freue mich spe­zi­ell auf die “stans”. du hast so detail­lier­te infos – weißt du zufäl­lig auch, wie man an tickets kommt? ich will auf jeden fall in eskişe­hir dabei sein, flug hab ich schon gebucht.

  • Lei­der nein. Die Infos stam­men von turkvision.info. Da gibt’s auch ein Kon­takt­for­mu­lar, frag da doch mal nach. http://www.turkvision.info/iletisim.htm
    Ich bin jeden­falls auch schon mal gespannt auf die ‑stans und wer­de hier ver­blog­gen, was immer ich dazu im Netz fin­de. Viel Spaß in Eskişehir!

  • Ich per­sön­lich hal­te es für unwahr­schein­lich, dass ein Land beim ESC abspringt, weil es bei der Türk­vi­zyon mit­macht. Denn aktu­ell ist es so, dass die Tür­kei im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes die Musik bestellt und bezahlt. Die Vor­aus­set­zun­gen sind also ganz ande­re: Anders als beim ESC muss ein Sen­der nicht wirk­lich Geld in die Hand neh­men und bekommt dafür eine Unter­hal­tungs­sen­dung, über deren Qua­li­tät und Akzep­tanz bei den Zuschau­ern der­zeit wohl nie­mand etwas Genaue­res sagen kann. Vor allem ist unklar, ob das Publi­kum in Län­dern wie der Ukrai­ne, Russ­land, aber selbst in Bos­ni­en über­haupt etwas mit einer im Gro­ßen und Gan­zen auf die Tür­kei aus­ge­rich­te­ten Sen­dung über­haupt etwas anfan­gen kön­nen. Selbst bei den turk­stäm­mi­gen Bevöl­ke­rung kann man nicht zwangs­läu­fig davon aus­ge­hen, dass die Tür­kei für sie einen sprach­li­chen und kul­tu­rel­len Pol bie­tet. Um genau zu sein, hat es eigent­lich noch nie eine gemein­sa­me kul­tu­rel­le Iden­ti­tät gege­ben, auch wenn sich die Spra­chen zum Teil sehr ähn­lich sind, und zum Ende des Osma­ni­schen Reichs und in der Anfangs­zeit der tür­ki­schen Repu­blik in der Tür­kei mas­siv dar­auf hin­ge­ar­bei­tet wur­de, eine sol­che gemein­sa­me Iden­ti­tät zu schaf­fen. Die poli­ti­schen Gren­zen haben über die Jahr­zehn­te aller­dings ande­re kul­tu­rel­le Ori­en­tie­run­gen geschaf­fen, und e dürf­te unwahr­schein­lich sein, dass sich dies nun in drei Näch­ten ändern wird. Es ist des­halb auch unmög­lich zu sagen, ob aus der Ver­an­stal­tung mehr als nur eine ein­ma­li­ge Sache wird. 

    Dem­entspre­chend hal­te ich es auch für zu früh, von einer Kon­kur­renz für den ESC zu spre­chen, falls das über­haupt jemals mög­lich sein soll­te. Man soll­te zum einen nicht ver­ges­sen, dass es immer mal wie­der Spin Offs und Imi­ta­tio­nen gege­ben hat – vom Bun­des­vi­si­on Song Con­test über Dance und Juni­or Wett­be­wer­be bis hin zum Grand Prix der Volksmusik. 

    Aller­dings: Unklar ist auch, wie weit das Pro­dukt Türk­vi­zyon über­haupt der Struk­tur der Mar­ke ESC folgt. So wie mir das erklärt wur­de, soll es ein SMS-Voting geben, aber es ist unklar, ob es eine Län­der- / Regio­nen­wer­tung geben wird, wie man das vom ESC kennt und wie das, falls es so sein wird, tech­nisch umge­setzt wer­den soll. Denn die rus­si­schen Teil­re­pu­bli­ken haben kei­ne eige­nen Telefonvorwahlen

    Wenn ein Land aller­dings nicht zum ESC kommt, dann wird das aus­schließ­lich dar­an lie­gen, dass es irgend­ein Pro­blem mit dem ESC gibt. Viel­leicht hat man gera­de kein Geld. Viel­leicht stim­men die Zuschau­er­zah­len nicht. 

    Nach allem, was ich gehört habe, denkt eine recht gro­ße Zahl von Län­dern dar­über nach, dem ESC wenigs­tens vor­über gehend den Rücken zu zu keh­ren, weil die Fak­to­ren nicht mehr stim­men und man das Gefühl hat, dass die EBU auf die­se Pro­ble­ma­ti­ken nicht adäquat eingeht. 

    Im Grun­de scheint es drei Grup­pen von Län­dern zu geben: 

    Jene, in denen die öffent­li­che und poli­ti­sche Unter­stüt­zung groß genug ist, um kos­te was es wol­le mit­zu­ma­chen. Jene, in denen man mit­macht, danach aber eine Kos­ten- / Akzep­tanz-Rech­nung anhand von Aus­ga­ben und Quo­ten / Markt­an­tei­len prä­sen­tie­ren muss. Und jene, in denen die Markt­ak­zep­tanz des eige­nen Bei­tra­ges eine erheb­li­che Rol­le spielt.

    In der letz­ten Grup­pe gibt es wie­der ein­zel­nen Frak­tio­nen: In eini­gen Län­dern wird die Teil­nah­me als sol­che nicht in Fra­ge gestellt, aber auf die Markt­durch­drin­gung des Bei­trags geschaut. In ande­ren Län­dern wird gleich­zei­tig auch die Kos­ten- / Akzep­tanz­rech­nung aufgemacht. 

    Ver­tre­ter die­ser Län­der argu­men­tie­ren, dass man zwangs­läu­fig auf die Markt­ak­zep­tanz des Bei­tra­ges schau­en muss, weil man sonst die Unter­stüt­zung der Plat­ten­fir­men ver­liert. In Groß­bri­tan­ni­en wird zudem offen gesagt, dass man das neh­men muss, was die Kon­zer­ne anzu­bie­ten haben, weil die Ent­schei­dungs­trä­ger der BBC aktu­ell kein Inter­es­se an einem Vor­auswahl­kon­zept hat und das auf die Zuschau­er schiebt, denen man vor­wirft, sie hät­ten mehr als ein­mal, Scherz­bei­trä­ge gewählt, und damit dem Ver­ei­nig­ten König­reich eine pein­li­che Schmach beschert. Pro­ble­ma­tisch ist dabei, dass die Plat­ten­fir­men die Akzep­tanz der Sen­dung beim Zuschau­er nicht unbe­dingt interessiert. 

    Dar­aus ent­steht ein Span­nungs­feld. Kom­mer­zi­ell erfolg­rei­che Bei­trä­ge müs­sen einem bestimm­ten Mus­ter fol­gen, das nicht unbe­dingt ESC-kom­pa­ti­bel ist, weil kom­mer­zi­ell erfolg­reich durch die Ein­nah­me­struk­tu­ren der Plat­ten­fir­men nicht gleich­zei­tig auch erfolg­reich beim Publi­kum bedeu­ten muss; den­noch möch­ten die Sen­der eini­ger­ma­ßen gut abschneiden.

    Des­halb sind es vor allem die­se Län­der, die auf ein Wer­tungs­sys­tem drän­gen, das sol­che Bei­trä­ge begüns­tigt, und gleich­zei­tig even­tu­el­le Spit­zen, wie bei­spiels­wei­se humo­ri­ge Bei­trä­ge, oder Lie­der, die sonst irgend­wie aus dem Rah­men fal­len, aus dem Ren­nen nimmt. 

    Das ist nun sehr ver­knappt dar­ge­stellt gewe­sen. Im Grun­de ist dies aber der Punkt, der vie­le Län­der stört: Man betreibt viel Auf­wand, um einen Bei­trag aus­zu­wäh­len, und schei­tert den­noch unter Umstän­den an Juries. Oder, was wahr­schein­li­cher ist: Man weiß nicht, wor­an es gele­gen hat, dass man im Semi raus­ge­flo­gen ist, weil die Sen­der selbst auch kei­ne Abstim­mungs­da­ten aus den ein­zel­nen Län­dern haben. 

    In Län­dern wie der Tür­kei muss man sich aber dafür recht­fer­ti­gen, war­um man so viel Geld aus­ge­ge­ben hat, und dann doch im Semi schei­ter­te, und die schlech­te Daten­la­ge beför­dert alle mög­li­chen Verschwörungstheorien. 

    Im Grun­de ist die eine gro­ße For­de­rung, die im Raum steht, die, dass die EBU gegen­über den Teil­neh­mern Trans­pa­renz schafft, und eine ernst­haf­te Debat­te dar­über zulässt, wie das Voting in Zukunft gestal­tet wer­den soll. Dage­gen sperrt sich die EBU, weil sich eini­ge gro­ße Län­der dage­gen sperren. 

    Statt­des­sen wird ein biss­chen am Voting-Seg­ment her­um geschraubt, und das Jury-Sys­tem etwas verändert.

    Was übri­gens auch etwas war, wor­über es dem Ver­neh­men nach intern kei­ne ernst­haf­te Debat­te gege­ben haben soll, und was nun vor allem bei klei­nen Län­dern für hef­ti­ge Kri­tik sorgt.

    Denn künf­tig wird es noch ein­fa­cher sein, das Voting zu beein­flus­sen, und zwar so: Man beein­flusst die Juro­ren in einem Land, und schießt dann durch tech­ni­sche Beein­flus­sung das Tele­vo­ting ab. Man muss sich ja im Kopf behal­ten, dass die Zuschau­er­stim­men in einem Land unter den Tisch fal­len, wenn es Auf­fäl­lig­kei­ten gibt. Damit hat man der Jury in Win­des­ei­le die Deu­tungs­ho­heit über das Ergeb­nis verschafft.

    Die Theo­rie ist, dass man das ger­ne auch in belie­big vie­len Län­dern machen kann. denn im Grun­de kann dann die EBU kaum etwas tun. Sie wird sich kaum wäh­rend der Sen­dung hin­stel­len und erklä­ren, dass es in meh­re­ren Län­dern Mani­pu­la­ti­ons­ver­su­che gege­ben hat, und sie wird kaum einen Titel dis­qua­li­fi­zie­ren. Das jeden­falls ist die Annah­me, die immer wie­der zu hören ist, und die zu der Kri­tik führt. 

    Im Grun­de sind das die Grün­de dafür, war­um man vie­ler­orts eher zurück hal­tend ist. Es ist gut mög­lich, dass der ESC zunächst ein­mal schrump­fen könnte.

    Natür­lich hat man als Fan den Wunsch, einen mög­lichst kom­plet­ten ESC zu sehen. Aller­dings muss man sich auch bewusst sein, dass die wenigs­ten Zuschau­er Hard­core-Fans sind, und ein­fach nur unter­hal­ten wer­den wol­len. Sie sehen die Sen­dung mit ande­ren Augen als wir hier, und sie fin­den den ESC unter Umstän­den langweilig.

  • Zum letz­ten Absatz: war­um genau soll­te jemand den ESC anschau­en wol­len, der/die ihn lang­wei­lig fin­det? Und war­um soll­te er langweilig(er) wer­den, wenn mehr Län­der teilnehmen?

    Und zu dem Gedan­ken mit der Mani­pu­la­ti­on: Wenn das glei­che Land das Tele­vo­ting und die Jury­ab­stim­mun­gen beein­flusst, ver­dop­pelt sich dadurch auch die Mög­lich­keit, dabei erwischt zu wer­den, ins­be­son­de­re in Kom­bi­na­ti­on mit der Offen­le­gung der Jury­mit­glie­der, wie sie ab 2014 gel­ten soll. Ich hal­te Spe­ku­la­tio­nen in die­ser Hin­sicht im Moment für müßig, weil es gute Argu­men­te in bei­de Rich­tun­gen gibt und schlicht nie­mand wis­sen kann, was jetzt pas­sie­ren wird. Wenn natür­lich nächs­tes Jahr der Skan­dal­sieg Aser­bai­dschans im Nach­hin­ein als mani­pu­liert ent­larvt wird (ein Scoop, den sich kaum ein Medi­um ent­ge­hen las­sen wür­de – ich hal­te es heut­zu­ta­ge kaum noch für mög­lich, sowas unter den Tep­pich zu keh­ren), waren alle Befürch­tun­gen berech­tigt. Und wenn nicht?

  • Letz­te­res bezweif­le ich. Hät­te es in die­sem Jahr nur Tele­vo­ting gege­ben, dann wäre ein hit­zi­ge Dis­kus­si­on um einen Mani­pu­la­ti­ons­sieg vor­pro­gram­miert, Aser­bai­dschan und Schwe­den trenn­ten ja nur 2 Punk­te. Aber dadurch, dass Ita­li­en und Schwe­den bei Tele­vo­tern und Jury jeweils ent­ge­gen­ge­setzt anka­men, wür­de Aser­bai­dschan wohl auch mit Abzug von ein paar Schum­mel­punk­ten der lachen­de Drit­te blei­ben, schät­ze ich mal.

  • […] ins Ren­nen. Aller­dings nicht beim Euro­vi­si­on Song Con­test 2014, son­dern beim tür­ki­schen Able­ger Türk­vi­zyon 2013 in der ana­to­li­schen Pro­vinz­haupt­stadt Eskişe­hir. Die in Aser­bai­dschan gebo­re­ne, mittlerweile […]

  • […] tref­fend titelt, hete­ro­se­xu­el­len Gegen­ent­wurf zum Euro­vi­si­on Song Con­test und folgt damit dem Bei­spiel der Tür­kei, die mit der Türk­vi­zyon nur weni­ge Wochen spä­ter bereits in die zwei­te Run­de geht. […]

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