Von einer schweren Halsentzündung war er heimgesucht bei seinem Live-Auftritt in der gestrigen zweiten Vorrunde der ungarischen Vorentscheidung A Dal: der diesjährige Favorit András Kállay Saunders, der schon 2014 dem Land der Magyaren mit dem düster-druckvollen ‘Running’ seine zweitbeste Platzierung beim Eurovision Song Contest bescherte. Nun versucht er es erneut, diesmal begleitet von der Kállay Saunders Band, und trotz der deutlich hörbaren, krankheitsbedingten stimmlichen Schwächen ihres Frontmannes gewann selbige gestern aus dem Stand. Zu Recht: das rockige ‘Who we are’ (mit passender Dubstep-Einlage) überzeugt durch melodiöse Eingängigkeit und Biss, wenngleich es nicht ganz die finstere Tiefe seines vorgehenden Meisterwerks erreicht. András ist im zerrissenen Muskelshirt und in enger Lederhose zudem eine Augenweide, selbst die mit Neon-Plaka-Farbe auf seine nackte Haut aufgemalten Textzitate aus dem Song, die dem Auftritt einen Hauch von Beat Street (1984) verliehen, können das optische Vergnügen nicht trüben.
Muss über seine Reibeisenstimme selbst lachen: András Kállay Saunders (HU) (zur Zeit leider nur auf der schlecht gemachten Senderseite verfügbar)
Auf dem zweiten Rang landete der in einer Weste mit einem fabelhaften floralen Muster (welches sich im Bühnenhintergrund auf der LED-Wand fortsetzte) auftretende Gergő Oláh, der einen brillanten Mix aus orientalischen und balkanesischen Klängen, bouncenden Beats, beeindruckenden Tanzschritten und atemberaubend anzuschauenden Backups aufbot und mit ‘Győz a jó’ den für meine Begriffe bislang besten Vorentscheidungsbeitrag der laufenden Saison ablieferte. Allerdings musste er sich die Platzierung punktgleich mit André Vásáry teilen, der einen schrecklichen Pop-goes-Opera-Kastratengesang präsentierte, so in die Richtung Cézar (RO 2013), nur ohne den Spassfaktor. Jurys! Gerade noch so ins Semifinale schaffte es die Band Karmapolis, die mit ‘Hold on to’ ein wirklich wunderschönes, beglückendes Stück Chill-Out-Musik zum gepflegten Runterkommen darbot, das meiner Meinung nach in keiner Sammlung fehlen sollte. Das aber natürlich bei einem Wettbewerb, bei dem es auch ums Auffallen geht, fehl am Platze ist. Außer, man verfolgt das Ziel, nicht zwingend zu gewinnen, aber einen kompetenten Eindruck zu hinterlassen. Dann wäre es eine hervorragende Wahl.
https://youtu.be/XBgflwdMHnk
Auch der LED-Hintergrund mit den Fischen unterstützt den Entspannungseffekt des Songs (HU)
Vom Publikum gerettet werden musste die Band Passed, welche die Jury – ihrem Namen zum Spott – zunächst nicht ins Semifinale einziehen ließ. Sie boten einen sanft puckernden, eleganten Elektrotrack mit dezenter Harfenbegleitung. Und wer jetzt MarieMarie (DVE 2014) ruft, bekommt hundert Gummipunkte: tatsächlich erinnert ‘Driftin” ein wenig an die beiden fantastischen, zuckerhaltigen Vorentscheidungsperlen der sympathischen Augsburgerin, nur dass den nicht minder sympathischen Ungarn ein kleines bisschen das Charisma und der Glamourfaktor von Frau Scheiblhuber abgeht. Das Stück werden wir also vermutlich auch nicht in Stockholm sehen und hören, aber es beweist einmal mehr die Stellung Ungarns als popmusikalisch ernst zu nehmenden Produktionsstandort. Chapeau! Schade ist es um ‘Free’ von Alex Kabai (der sich aus völlig unerfindlichen Gründen C.E.T. nannte, also auf Deutsch MEZ oder mitteleuropäische Zeit), der offenbar mit der Technik zu kämpfen hatte, was sich darin manifestierte, dass er mitten im Auftritt den In-Ohr-Monitor herauszog. Vor allem aber darin, dass er seinen Titel stimmlich völlig vergeigte und so auf dem letzten Platz landete.
Lieblich, wenn nicht gar einen Tick zu lieblich: Passed passierten gerade so eben (HU) (A‑Dal-Auftritt leider nur auf der Senderseite verfügbar. Wann werden diese Medienmenschen endlich etwas von Medienmarketing lernen?)
Was in Ungarn noch bevorsteht, das erste von zwei Semifinals nämlich (zuerst folgen nächsten Samstag die letzten zehn Konkurrent/innen), fand gestern zeitgleich in Litauen statt. Das bot dementsprechend nichts aufsehenerregend Neues mehr: gerade mal zwei Titel flogen raus; das Televoting gewann, den erneuten Beweis für die völlige geschmackliche Unzurechnungsfähigkeit des litauischen Publikums liefernd, die grauenhaft leiernde Rūta Ščiogolevaitė mit einem widerwärtig abgeschmackten Weltfriedenliedein; dank der Jury schloss der klare Favorit Donny Montell punktgleich mit ihr ab. Und in diesem Fall kann ich nur hoffen, dass die mir ansonsten verhassten Bevormunder sich am Ende durchsetzen. Ein erneutes visuelles Highlight bot unterdessen Jekaterina Pranevič alias Catrinah, die schon vor 14 Tagen durch eine per Windmaschine zum gigantischen Rock aufgeblasene Mülltüte optisch aus dem Rahmen fiel. Diesmal trat sie einer aus grauem, recyceltem Plastik gegossenen Weltraum-Ritterinnen-Rüstung (andere sagen: als unvergoldete Oscar®-Statuette) an, aus der sie sich sogleich ungelenk herausschälte, um die restlichen zwei Minuten im flatternden Nachthemd zu performen. Immerhin: das Singen – wenngleich noch immer schmerzbringend – klappte diesmal deutlich besser als bei ihrem Vorrundenauftritt, sowohl was ihre eigene Leistung betraf als auch die Harmonie mit ihren drei Backings. Insgesamt also hoffungslos, aber unterhaltsam. Und dafür liebe ich die Balten!
Erinnert sich noch jemand an die Weltraumputze aus Space Balls? Hier ist sie wieder! (LT)
Unterdessen wurde bekannt, dass der zypriotische Beitrag ‘Alter Ego’ heißen soll. Vorgestellt wird der von der der Rockband Minus One gemeinsam mit dem schwedischen Serienschreiber Thomas G:sson komponierte Song aber erst am 22. Februar. Minus One, Juryfavoriten im letztjährigen zypriotischen Vorentscheid, aber Publikumsletzte, stehen bereits seit Anfang November 2015 als die vom Sender direkt bestimmten Vertreter des Mittelmeereilandes fest. Der Songtitel beschreibt natürlich nicht einen selbstsüchtigen Rentner, sondern den lateinischen Begriff für jemandes alternative Persönlichkeit (wie zum Beispiel die von einem Romanautoren erfundene, aber auf bestimmten Eigenschaften ihres Schöpfers beruhende Hauptfigur eines Werkes). Nun dann.
Kann es sein, dass Gergő Oláh sich bei der Veranstaltung vertan hat und eigentlich zur Turkvision wollte?