Was für ein Katastrophen-Samstag! In drei vier Ländern gingen gestern Abend Vorentscheidungsfinale über die Bühne, und in allen dreien vieren fielen derartig haarsträubende Fehlentscheidungen, dass es mal wieder an der Zeit ist, den abgegriffenen Spruch vom “schlimmsten Jahrgang aller Zeiten” aus der Mottenkiste zu holen, zu dem eingefleischte Grand-Prix-Fans in dieser Phase der Saison meist reflexartig greifen, den zurückzuweisen jedoch am heutigen Tage besonders schwierig erscheint. In Estland jedenfalls gewann im Superfinale der Eesti Laul ein schmierlappiger Sänger schwedischer Herkunft namens Victor Crone, eingefleischten Melodifestivalen-Guckern noch vertraut aus dem Jahrgang 2015, wo er die Lead Vocals für den Rapper Behrang Miri beisteuerte. Crones aktuelles Lied ‘Storm’ stammt unter anderem aus der Feder von Stig Rästa, was man kaum glauben möchte, weil es so tödlich durchschnittlich und wie bereits fünf Millionen Mal gehört klingt; nach einem perfekten Füller für die Playlist des Rewe-Einkaufsradios oder für das Line-up des dänischen Melodi Grand Prix. Doch augenscheinlich bevorzugen auch die Est/innen Seichtes: obwohl die Jury ihr Menschenmöglichstes tat, den Schwedenimport mit einem konzertierten Downvoting zu verhindern und stattdessen den nicht minder schleimigen Stefan Airapetjan mit einer sterbenslangweiligen Klavierballade noch oben zu manipulieren, wählten die Zuschauer/innen den faden Schwedenhappen rigoros an die Spitze.
A Song like this / can break my Ears like this: Victor holte in Estland die Krone.
Zu ihrer Verteidigung sei angemerkt, dass die übriggebliebene Auswahl ohnehin zum Himmel stank. Alle auch nur annähernd interessanten Beiträge wie beispielsweise das legendäre ‘Wo sind die Katzen’ von Kaia Tamm flogen bereits in den beiden Semis raus, als einzige in irgendeiner Form interessante Interpretin hatte es lediglich die bezaubernde Inger Fridolin mit ihrem auf der Ukulele dahingeplinkterten, niedlichen Folk-Liedchen ‘Coming home’ ins Finale geschafft. Die hauptberufliche Fußballtrainerin und sehr offensichtliche Lesbe sorgte mit einem erschreckend tief gegrunzten “Hrrrrrrrrrhooooome” im Refrain für europaweite Lachanfälle vor den Livestreams und eroberte so die Herzen. Zumindest meines. Ihre Landsleute wählten sie wenigstens noch auf den dritten Rang, die diabolischen Juroren verhinderten mit einer skandalösen Ein-Punkt-Wertung jedoch ihren Einzug ins Superfinale der Eesti Laul. In dem standen sich somit drei männliche Schmachtheinis gegenüber, von denen sich der zweitplatzierte, mit seiner Faltenstirn entfernt an den US-Schauspieler Luke Perry aus der Neunziger-Soap Beverly Hills, 90210 erinnernde Uku Suviste (toller Name!) als besonders selbstverliebter Narziss hervor tat.
“I’m so vain / I bet you know that this song is about me / don’t you / don’t you?”
[Nachtrag 18.02.19] Und, wie sich herausstellte, als echtes xenophobes Arschloch: im Superfinale versuchte er nach Berichten von des Estnischen mächtigen Fans, die Zuschauer/innen mit dem Aufruf “Wenn ihr möchtet, dass ein Este uns vertritt, ruft für mich an” für sich zu gewinnen, darauf anspielend, dass seine beide Konkurrenten schwedische bzw. teilarmenische Wurzeln haben und er der einzige reinrassige Este sei. Selbst, wenn man ihm zugute halten will, dass diese Aussage unüberlegt und im Anblick seiner davonschwimmenden Felle fiel, so offenbart sie doch ein problematisches völkisches Denken. Insofern trafen die Zuschauer/innen mit der Wahl von Victor Crone letztlich die richtige Entscheidung, auch wenn dessen Lied noch mainstreamiger und damit langweiliger herüberkommt als das des völlig unwählbaren Uku. Dennoch: wie ein verblasste Erinnerung erscheinen angesichts des immer öderen Esti-Laul-Finales die seligen Zeiten, als dieser Vorentscheid, heute nur noch eine fade Pflichtveranstaltung im Vorentscheidungsreigen, noch für “that Estonian cool” stand.
Wehmutsvoll winke ich meinem persönlichen Lieblingsbeitrag 2019 hinterher, den die Esten dummerweise verschmähten. Lieber NDR, können wir Kaia nicht noch schnell als Teilnehmerin zu Unser Lied für Israel einladen?
Vorentscheid EE 2019 (Finale)
Eesti Laul. Samstag, 16. Februar 2019, aus der Saku Suurhall in Tallin. 12 Teilnehmer:innen. Moderation: Piret Krumm und Karl-Erik Taukar.# | Interpreten | Songtitel | Anrufe | Jury | Superfinale | Platz |
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01 | Sissi Benton | Strong | 2.990 | 46 | – | 04 |
02 | Lumevärv + Inga | Milline päev | 2.188 | 46 | – | 05 |
03 | Victor Crone | Storm | 15.513 | 25 | 23.370 | 01 |
04 | Kerli Kivilaan | Cold Love | 1.481 | 43 | – | 09 |
05 | xtra basic + Emily J | Hold me close | 1.440 | 21 | – | 12 |
06 | Kadiah | Believe | 2.287 | 25 | – | 10 |
07 | Synne Valtri | I’ll do it my Way | 2.323 | 04 | – | 11 |
08 | Stefan Airapetjan | Without you | 6.132 | 70 | 12.380 | 03 |
09 | The Swingers | High Heels in the Neighborhood | 2.737 | 26 | – | 07 |
10 | Uku Suviste | Pretty little Liar | 8.987 | 36 | 15.498 | 02 |
11 | Inger Fridolin | Coming home | 6.904 | 24 | – | 06 |
12 | Sandra Nurmsalu | Soovide puu | 1.914 | 40 | – | 08 |
Avicii weilt zwar nicht mehr unter uns, aber diverse ESC-Komponisten fleddern immer noch an seinen weggeworfenen Song-Ideen herum. Anders kann ich mir das nicht erklären.
Na, wir werden ja sehen. Grausige Schmachtfetzen hin oder her, der Tag, an dem 2002 oder 2017 als erbärmlichster Eurovisionsjahrgang aller Zeiten abgelöst wird, liegt hoffentlich in einer sehr fernen Zukunft.
Da wird einem nochmal deutlich vor augen geführt, wie rigoros die italienischen jurys ultimo runtergevotet haben. Unglaublich!
Storm ist für mich einer der Songs, von dem man weiß, dass er – für das “normale” Publikum – eigentlich ganz stark ist, den man aber trotzdem abgöttisch hasst. Mainstreamige Mittelmäßigkeit hat einen neuen Namen.
So langsam habe ich den Eindruck, dass kaum einer das jeweilige Semi in Tel Aviv überstehen will. Könnte ein ziemlich kleines Finale geben, würde man dem Flehen nachgeben.…
Also, ich bin ganz gewiß nicht “normales” Publikum, kann aber mit dem Schwedenimport für Estland recht gut leben. Natürlich weit entfernt von innovativ und originell, aber im Vergleich zu dem üblen Geschleime aus Kroatien wenigstens halbwegs zeitgemäß und man immerhin eine Melodie erkennen.
Ich werte mal mit 7 von 10 Punkten und derzeit hinter Italien und Albanien auf Platz 3 in meiner Liste (ansonsten gefallen mir noch noch Spanien und Slowenien so halbwegs)
@ Ospero
Für mich bislang die schlechtesten Jahrgänge überhaupt: 2001, 2002, 2006, 2014 und 2016. 2017 war zwar auch mau, aber immerhin hat mir Salvador den Abend gerettet.
Danke für Deinen netten Artikel!
Kaia und das Katzen Team ?
@Mariposa: So ging es mir 2001 mit Rollo & King und Michelle und 2006 mit Lordi (ansonsten Zustimmung, das war ein absolut erbärmliches Jahr). 2016 hatte ich wohl verdrängt – wobei “Loin d’ici” zumindest ein bisschen Farbe gebracht hat.
2014 andererseits – haben wir da den gleichen Wettbewerb gesehen? Wenn ich mir die Finalisten ansehe, sehe ich mindestens zehn Songs, die ich wirklich mag.